Inhalt

VG Würzburg, Beschluss v. 25.07.2023 – W 8 S 23.30389
Titel:

unionrechtswidrige Abschiebungsandrohung

Normenketten:
AsylG § 29 Abs. 1 Nr. 5, § 36 Abs. 4, § 71a Abs. 1
AufenthG § 60 Abs. 5, Abs. 7 S. 1
GG Art. 6
EMRK Art. 8 Abs. 1
GRCh Art. Art. 7, Art. 24 Abs. 2
Rückführungs-RL Art. 3 Nr. 4, Art. 5 lit. a, lit. b, Art. 6, Art. 7 Abs. 1
Leitsatz:
Eine Abschiebungsandrohung gegen einen Drittstaatsangehörigen ohne die relevanten Aspekte der familiären Lebensgemeinschaft und des Kindeswohls zu berücksichtigen, verstößt bei Bestehen einer familiären Gemeinschaft gegen Unionsrecht. (Rn. 25) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Sofortverfahren, Nigeria, unzulässiger Zweitantrag, Bezugnahme auf Bundesamtsbescheid, keine Änderung der Sach- und Rechtslage, interner Schutz, inlandsbezogene Abschiebungshindernisse, Schutz der Familie, Kindeswohl, Rückführungsrichtlinie, Aufenthaltsgestattung, Abschiebungsandrohung, Zweitantrag, Rückkehrentscheidung, familiäre Bindungen
Fundstelle:
BeckRS 2023, 21061

Tenor

I. Die aufschiebende Wirkung der Klage gegen den Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 30. Juni 2023 wird angeordnet, solange die Tochter des Antragstellers, M. O., geb. … … 2020, BAMF Az.: …, und die Lebensgefährtin des Antragstellers, Ma. O., geb. … … 1995, BAMF Az.: …, nicht vollziehbar ausreisepflichtig sind.
II. Die Antragsgegnerin hat die Kosten des Verfahrens zu tragen. Gerichtskosten werden nicht erhoben.

Gründe

I.
1
Der Antragsteller wendet sich gegen die sofortige Vollziehbarkeit einer Abschiebungsandrohung nach Nigeria nachdem sein Zweitantrags als unzulässig abgelehnt wurde.
2
Der Kläger ist nach eigenen Angaben ein nigerianischer Staatsangehöriger. Er verließ sein Herkunftsland nach eigenen Angaben Mitte 2013 und reiste über verschiedene Länder und Italien am 17. Oktober 2020 in die Bundesrepublik Deutschland ein. In Italien wurde der Asylantrag des Antragstellers laut Mitteilung der italienischen Asylbehörde abgelehnt, ihm aber eine Aufenthaltserlaubnis aus humanitären Gründen erteilt, die am 18. Juni 2015 nach Ablehnung einer von ihm beantragten Verlängerung, ablief. Am 4. Februar 2020 wurde seine Abschiebung angeordnet. In Deutschland stellte er am 8. Januar 2021 einen Asylantrag. Seine persönliche Anhörung erfolgte am 8. März 2021. Hierbei gab der Kläger an, er sei aus Nigeria geflohen, da er nach dem Tod seines Vaters dessen Stellung in der Oboni-Sekte habe einnehmen sollen und sein Leben, als er dies verweigert hätte, bedroht worden sei. Darüber hinaus würde die Frau, welche ihn und seine Lebensgefährtin in Italien bedroht hätte, die Familie umbringen wollen. Neue Gründe, Tatsachen oder Beweise, welche er in Italien noch nicht vorgebracht habe, gäbe es nicht.
3
Der Bescheid des Bundesamtes vom 12. März 2021, mit dem u.a. der Asylantrag des Antragstellers als unzulässig abgelehnt und die Abschiebung nach Italien angeordnet wurde, wurde infolge eines Urteils des Verwaltungsgerichts Würzburg vom 11. März 2022 – W 8 K 21.50118 –, in dem das Bundesamt rechtskräftig zur Feststellung, dass ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG hinsichtlich Italiens vorliegt, verpflichtet worden war, mit Bescheid vom 28. Januar 2022 wiederaufgehoben; das Asylverfahren des Antragstellers wurde als Zweitverfahren fortgeführt.
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Der Asylantrag der Lebensgefährtin des Antragstellers wurde mit Bescheid des Bundesamts vom 27. Mai 2021 als unzulässig abgelehnt, da ihr in Italien internationaler Schutz gewährt worden war. Gegen den Gerichtsbescheid des Verwaltungsgerichts Würzburg vom 11. März 2022 – Az. W 10 K 21.30622 in dem diese Entscheidung des Bundesamtes bis auf die Feststellung, dass die Klägerin in einen anderen Staat als Italien oder Nigeria abgeschoben werden könne, in den sie einreisen dürfe oder der zu ihrer Rücknahme verpflichtet sei, aufhob, ist der Antrag auf Zulassung der Berufung weiterhin anhängig. Für die am 24. Oktober 2020 geborene Tochter stellten der Antragsteller und seine Lebensgefährtin mit Schreiben vom 14. Januar 2021 einen Asylantrag, über den bisher noch nicht entschieden wurde.
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2. Mit Bescheid des Bundesamts vom 30. Juni 2023 wurde der vom Antragsteller in der Bundesrepublik Deutschland gestellte Asylantrag als unzulässig abgelehnt (Nr. 1 des Bescheides). In Nr. 2 des vorbezeichneten Bescheids wurde festgestellt, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG nicht vorliegen. Der Antragsteller wurde in Nr. 3 des Bescheids aufgefordert, die Bundesrepublik Deutschland innerhalb einer Woche nach Bekanntgabe der Entscheidung zu verlassen. Für den Fall der nicht fristgerechten Ausreise wurde dem Antragsteller die Abschiebung nach Nigeria bzw. in einen anderen aufnahmebereiten Staat angedroht. In Nr. 4 des Bescheids wurde das Einreise- und Aufenthaltsverbot gemäß § 11 Abs. 1 AufenthG angeordnet und auf 36 Monate ab dem Tag der Abschiebung befristet.
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Zur Begründung seiner Entscheidung führt das Bundesamt u.a. aus, dass der Asylantrag unzulässig sei, da die Voraussetzungen für die Durchführung eines weiteren Asylverfahrens nicht vorlägen. Ein Asylantrag sei unzulässig, wenn im Fall eines Zweitantrages nach § 71a AsylG ein weiteres Asylverfahren nicht durchzuführen sei (§ 29 Abs. 1 Nr. 5 AsylG). Ein weiteres Asylverfahren gemäß § 71a Abs. 1 AsylG sei nur dann durchzuführen, wenn die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 bis 3 VwVfG erfüllt seien. Es lägen keine Wiederaufgreifensgründe i.S.d. § 51 Abs. 1 Nr. 1 bis 3 VwVfG vor. Weder habe sich die Sach- oder Rechtslage in Nigeria seit der Ablehnung des Asylantrages am 18. Juni 2015 in Italien geändert, noch seien neue Beweismittel vorgelegt worden. Der Antragsteller habe selbst angeben, es gebe keine neuen Gründe, Tatsachen oder Beweise, welche er nicht bereits in Italien vorgebracht hätte. Abschiebungsverbote lägen ebenfalls nicht vor. Eine Abschiebung sei gemäß § 60 Abs. 5 AufenthG unzulässig, wenn sich dies aus der Anwendung der Konvention vom 4. November 1950 zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK) ergebe. Nach dem Sachvortrag des Antragstellers drohe ihm keine, durch einen staatlichen oder nichtstaatlichen Akteur verursachte Folter oder relevante unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung. Die vom Antragsteller vorgebrachte Bedrohung seines Lebens von Seiten der Ogboni-Sekte sei nicht geeignet, eine drohende Gefahr der Folter oder relevante unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung zu begründen. Eine begründete Furcht vor einem ernsthaften Schaden habe der Antragsteller weder bzgl. der Ogboni-Sekte noch bzgl. der Frau, welche ihn und seine Lebensgefährtin aus Italien vertrieben haben soll und welche ihn, seine Lebensgefährtin und seine Tochter bei einer Rückkehr nach Nigeria umbringen würde, nicht glaubhaft gemacht. Es sei davon auszugehen, dass der Antragsteller als junger arbeitsfähiger Mann, der die Schule zwölf Jahre besuchte und anschließend drei Jahre an einer polytechnischen Schule ein Diplom absolvierte habe, für sich und gegebenenfalls auch gemeinsam mit seiner Lebensgefährtin für die Familie – inclusive der in Deutschland geborenen Tochter – im Falle einer Rückkehr nach Nigeria eine existenzsichernde Grundlage schaffen könne. Im Bedarfsfall könne ihn darüber hinaus seine Großfamilie unterstützen. Gefahren i.S.d. § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG, die dem Antragsteller bei Rückkehr nach Nigeria drohen könnten, lägen nicht vor. Die Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbotes auf 36 Monate sei angemessen. Seine Lebensgefährtin und seine Tochter verfügten über keinen gesicherten Aufenthaltstitel in Deutschland.
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Mit Schriftsatz vom 15. Juli 2023 ließ der Antragsteller am 16. Juli 2023 im Verfahren W 8 K 23.30388 Klage gegen den streitgegenständlichen Bescheid erheben und im vorliegenden Verfahren beantragen,
die aufschiebende Wirkung der Klage gegen die Abschiebungsandrohung wird angeordnet.
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Zur Begründung ließ er im Wesentlichen ausführen, er habe sein Heimatland aus begründeter Furcht vor politischer Verfolgung verlassen; auf die Angaben im Rahmen der Vorprüfung werde Bezug genommen. Ungeachtet vom Ausgang des Asylverfahrens sei eine Abschiebung derzeit wegen Verstoßes gegen Art. 1 und 2 GG sowie Art. 3 EMRK nicht zulässig, weil dies zumindest zu Gefahren für Leib, Leben und Freiheit führen würde. Seiner Tochter sei ein Abschiebungsverbot zuerkannt worden und sie sei im Besitz einer Aufenthaltserlaubnis gem. § 25 Abs. 3 AufenthG.
9
Die Antragsgegnerin beantragte mit Schriftsatz vom 17. Juli 2023, den Antrag abzulehnen.
10
Zur Begründung wurde auf die angefochtene Entscheidung Bezug genommen.
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Mit Beschluss vom 17. Juli 2023 übertrug die Kammer den Rechtsstreit auf den Einzelrichter zur Entscheidung.
12
Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstands wird auf die Gerichtsakte sowie die beigezogenen Behördenakten (einschließlich der Behördenakten der Lebensgefährtin und der Tochter) Bezug genommen.
II.
13
Der Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO, die aufschiebende Wirkung der Klage gegen die Abschiebungsandrohung unter Nr. 3 des Bescheids des Bundesamts vom 30. Juni 2023 anzuordnen, ist zulässig und begründet.
14
Der Antrag ist zulässig.
15
Der Antrag ist gemäß §§ 71a Abs. 4, 36 Abs. 3 AsylG i.V.m. § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 VwGO statthaft, da er sich gegen die kraft Gesetzes sofort vollziehbare Abschiebungsandrohung nach Nigeria bzw. in einen anderen aufnahmebereiten Staat richtet. Der Antrag wurde auch fristgerecht gemäß § 36 Abs. 3 Satz 1 AsylG bei Gericht gestellt.
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Der Antrag hat Erfolg, da der Entscheidung des Bundesamts, dem Antragsteller die Abschiebung nach Nigeria bzw. in einen anderen aufnahmebereiten Staat anzudrohen, ernstlichen Zweifeln begegnen (§ 71a Abs. 4 i.V.m. 36 Abs. 4 AsylG).
17
Gegenstand des verwaltungsgerichtlichen Eilverfahrens nach § 36 Abs. 3 und 4 AsylG i.V.m. § 80 Abs. 5 VwGO ist die von der Antragsgegnerin ausgesprochene Abschiebungsandrohung, beschränkt auf die sofortige Vollziehbarkeit. Nach § 36 Abs. 4 Satz 1 AsylG, der nach § 71a Abs. 4 AsylG entsprechende Anwendung findet, darf die aufschiebende Wirkung der Klage nur angeordnet werden, wenn ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des angegriffenen Verwaltungsaktes bestehen. Nach diesem Maßstab darf die Vollziehung der aufenthaltsbeendenden Maßnahmen nur dann ausgesetzt werden, wenn erhebliche Gründe dafür sprechen, dass die Maßnahme im maßgeblichen Zeitpunkt der verwaltungsgerichtlichen Entscheidung (§ 77 Abs. 1 Satz 1 Halbs. 2 AsylG) einer rechtlichen Prüfung wahrscheinlich nicht standhalten wird (BVerfG, U.v. 14.5.1996 – 2 BvR 1516/93 – juris). Dabei genügt auch im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes keine summarische Prüfung, weil mit dem Vollzug einer rechtswidrigen Abschiebungsandrohung Grundrechtsverletzungen verbunden sind und effektiver Rechtsschutz im Hauptsacheverfahren wegen der sofortigen Vollziehbarkeit der Abschiebungsandrohung nicht mehr möglich ist (vgl. BVerfG, B.v. 23.7.2020 – 2 BvR 939/20 – juris). Es gelten deshalb auch im vorliegenden Fall einer Ablehnung des Zweitantrags gemäß § 71a Abs. 4 AsylG auch für den Fall, dass auf einen Zweitantrag ein weiteres Asylverfahren nicht durchgeführt wird, die Kriterien, welche das Bundesverfassungsgericht zur Offensichtlichkeitsprüfung im Rahmen eines Eilverfahrens gegen eine Abschiebungsandrohung aufgrund der Ablehnung eines Asylantrags als offensichtlich unbegründet aufgestellt hat. Danach darf sich das Verwaltungsgericht nicht mit einer bloßen Prognose der voraussichtlichen Richtigkeit des Offensichtlichkeitsurteils begnügen, sondern muss die Frage der Offensichtlichkeit, wenn es sie bejahen will, erschöpfend, wenngleich mit Verbindlichkeit allein für das Eilverfahren klären und insoweit über eine lediglich summarische Prüfung hinausgehen (vgl. BVerfG, B.v. 23.7.2020 – 2 BvR 939/20 – juris; B.v. 25.2.2019 – 2 BvR 1193/18 – juris). Allerdings bleiben bei dieser Prüfung von den Beteiligten nicht angegebene und nicht gerichtsbekannte Tatsachen und Beweismittel gemäß § 36 Abs. 4 Satz 2 AsylG unberücksichtigt (vgl. BVerfG, B.v. 23.7.2020 – 2 BvR 939/20 – juris). Das Vorbringen, welches nach § 25 Abs. 3 AsylG im Verwaltungsverfahren unberücksichtigt geblieben ist, sowie dort nicht angegebene Tatsachen und Umstände im Sinne des § 25 Abs. 2 AsylG kann das Gericht gemäß § 36 Abs. 4 Satz 3 AsylG unberücksichtigt lassen, wenn anderenfalls die Entscheidung verzögert würde.
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Gemessen an diesen Grundsätzen bestehen im maßgeblichen Entscheidungszeitpunkt (§ 77 Abs. 1 Satz 1 Halbs. 2 AsylG) zwar keine ernstlichen Zweifel an der Rechtmäßigkeit der vom Bundesamt getroffenen Entscheidung zur Unzulässigkeit des Asylantrags und zu den zielstaatsbezogenen Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 5 bzw. Abs. 7 AufenthG, es bestehen jedoch ernstlichen Zweifel an der Rechtmäßigkeit der Abschiebungsandrohung an sich.
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Zu Recht ist die Antragsgegnerin davon ausgegangen, dass der vom Antragsteller in der Bundesrepublik Deutschland am 8. Januar 2021 gestellte Asylantrag gemäß § 71a AsylG als Zweitantrag zu werten ist, weil der Antragsteller bereits in einem sicheren Drittstaat – hier der Republik Italien – ein Asylverfahren erfolglos abgeschlossen hat. Die Republik Italien hat mit Schreiben vom 7. Juni 2023 auf Nachfrage der Antragsgegnerin ausgeführt, dass der Asylerstantrag des Antragstellers in Italien rechtskräftig abgelehnt worden ist (vgl. Bl. 508 der elektronischen Behördenakte).
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Davon ausgehend ist kein weiteres Asylverfahren in der Bundesrepublik Deutschland durchzuführen. Nach § 71a AsylG ist in Fällen, in denen ein Ausländer nach erfolglosem Abschluss eines Asylverfahrens in einem sicheren Drittstaat (§ 26a AsylG) im Bundesgebiet einen weiteren Asylantrag (Zweitantrag) stellt, ein weiteres Asylverfahren nur durchzuführen, wenn die Bundesrepublik Deutschland für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig ist und die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 bis 3 VwVfG vorliegen. Mit der Antragsgegnerin ist das Gericht der Auffassung, dass im Falle des Antragstellers die Voraussetzungen für ein Wiederaufgreifen des Verfahrens nicht vorliegen.
21
Zu Recht führt der streitgegenständliche Bescheid aus, dass sich die Sach- und Rechtslage in Nigeria seit der Ablehnung des Asylantrags in Italien nicht geändert hat. Insbesondere hat der Antragsteller im Rahmen seiner Anhörung am 8. März 2021 selbst ausdrücklich angegeben, dass es keine neuen Gründe, Tatsachen oder Beweise gebe, welche er nicht bereits in Italien vorgebracht habe (S. 7 der Anhörungsniederschrift). Das Bundesamt hat des Weiteren zu Recht darauf hingewiesen, dass der Antragsteller keine neuen relevanten Wiederaufgreifensgründe geltend gemacht hat, sondern vielmehr die Gründe vorgebracht hat, die er auch schon in seinem erfolglosen Asylverfahren in Italien angegeben hatte bzw. hätte vorbringen können. Im Übrigen wird auf die Begründung des Bescheids gemäß § 77 Abs. 3 AsylG Bezug genommen.
22
Nach alledem bestehen keine Bedenken gegen die Ablehnung des Asylantrages als unzulässig nach § 29 Abs. 1 Nr. 5 AsylG.
23
Das Bundesamt hat darüber hinaus zu Recht keine Abschiebungsverbote gemäß § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 AufenthG festgestellt, weshalb sich unter diesem Gesichtspunkt keine Zweifel an der Rechtmäßigkeit der Abschiebungsandrohung nach Nigeria ergeben. Das Gericht verweist dabei zur Vermeidung unnötiger Wiederholungen auf die Erwägungen, die das Bundesamt im streitgegenständlichen Bescheid vom 30. Juni 2023 angestellt hat (§ 77 Abs. 3 AsylG). Das Gericht schließt sich diesen Ausführungen nach eigener Prüfung vollumfänglich an.
24
Zum maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung liegen allerdings ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit der Abschiebungsandrohung ansich vor, da sie derzeit zu einer mit Art. 6 Abs. 1 i. V. m. Abs. 2 GG, Art. 8 Abs. 1 EMRK, Art. 7 und Art. 24 Abs. 2 EU-Grundrechtecharta (GRCh) nicht vereinbaren Trennung von Familienmitgliedern führen dürfte.
25
Die Abschiebungsandrohung stellt eine Rückkehrentscheidung im Sinne von Art. 3 Nr. 4, Art. 6 und Art. 7 Abs. 1 UAbs. 1 der RL 2008/115/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. Dezember 2008 über die gemeinsamen Normen und Verfahren in den Mitgliedsstaaten zur Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger (ABl. L 348, S. 98 ff.) – in der Folge: Rückführungsrichtlinie – dar (vgl. BVerwG, EuGH-Vorlage-B.v. 8.6.2022 – 1 C 24/21 – juris Rn. 18 unter Verweis auf U.v. 16.2.2022 – 1 C 6.21 – juris Rn. 41, 45 und 56 m.w.N.) und hat somit unionsrechtlichen Anforderungen zu genügen (vgl. Pietzsch in: BeckOK Ausländerrecht, Stand 1.1.2023, § 34 AsylG Rn. 5a). Nach Art. 5 Buchst. a und b der Rückführungsrichtlinie sind das Wohl des Kindes und die familiären Bindungen in gebührender Weise zu berücksichtigen. Diese Regelung ist dahingehend auszulegen, dass das Wohl des Kindes und seine familiären Bindungen (bereits) im Rahmen eines zum Erlass einer gegen einen Minderjährigen ausgesprochenen Rückkehrentscheidung führenden Verfahrens zu schützen sind und es nicht genügt, wenn der Minderjährige diese beiden geschützten Interessen (erst) im Rahmen eines nachfolgenden Verfahrens betreffend den Vollzug der Rückkehrentscheidung geltend machen kann, um gegebenenfalls eine Aussetzung des Vollzugs zu erwirken (vgl. EuGH, B.v. 15.2.2023 – C-484/22 – juris Rn. 28). Zwar betrifft die gegenständliche Abschiebungsandrohung – anders als in dem vorgelegten Fall (vgl. EuGH, B.v. 15.2.2023 – C-484/22 – juris Rn. 2) – nicht die gegenüber einem Minderjährigen erlassene Rückkehrentscheidung. Jedoch ist bei aufenthaltsrechtlichen Entscheidungen maßgeblich auf die Sicht des Kindes abzustellen, wenn durch sie der Umgang mit einem Kind berührt wird, und im Einzelfall zu untersuchen, ob tatsächlich eine persönliche Verbundenheit besteht, auf deren Aufrechterhaltung das Kind zu seinem Wohl angewiesen ist (vgl. VG München U.v. 26.4.2023 – 27 K 22.31189 – juris Rn. 22). Dabei sind die Belange des Elternteils und des Kindes im Einzelfall umfassend zu berücksichtigen, insbesondere in welcher Form die Elternverantwortung ausgeübt wird und welche Folgen eine endgültige oder vorübergehende Trennung für die gelebte Eltern-Kind-Beziehung und das Kindeswohl hätte (vgl. BVerfG, B.v. 8.12.2005 – 2 BvR 1001/04 – juris Rn. 25 f. m.w.N.). Da Art. 5 Buchst. a der Rückführungsrichtlinie unter anderem die Gewährleistung der Grundrechte eines Kindes nach Art. 24 GRCh bezweckt und daher nicht eng ausgelegt werden darf (vgl. EuGH, B.v. 15.2.2023 – C-484/22 – juris Rn. 23 m.w.N.), kann er nicht dahingehend verstanden werden, dass das Wohl des Kindes nur im Verfahren des Kindes selbst zu berücksichtigen ist. Zudem ist das Kindeswohl bei der Entscheidung über den Erlass einer Abschiebungsandrohung gegen den Kläger im Rahmen der Beurteilung der familiären Bindungen nach Art. 5 Buchst. b der Rückführungsrichtlinie zu berücksichtigen. Denn Art. 5 der Rückführungsrichtlinie verwehrt den Erlass einer Rückkehrentscheidung, ohne die relevanten Aspekte des Familienlebens des betreffenden Drittstaatsangehörigen zu berücksichtigen, die er zur Verhinderung des Erlasses einer solchen Entscheidung geltend macht (vgl. EuGH, EuGH, B.v. 15.2.2023 – C-484/22 – juris Rn. 25 m.w.N.).
26
Ob zwischen Elternteil und Kind eine familiäre Gemeinschaft besteht, hängt im Wesentlichen von den konkret-individuellen Umständen des Familienlebens ab. Eine geschützte Eltern-Kind-Gemeinschaft lässt sich nicht allein quantitativ etwa nach Daten und Uhrzeiten persönlichen Kontakts oder genau am Inhalt der einzelnen Betreuungshandlungen bestimmen, vielmehr verbietet sich eine schematische Einordnung (vgl. BVerfG, B.v. 8.12.2005 – 2 BvR 1001/04 – juris Rn. 19 ff.). Für eine tatsächliche Lebens- und Erziehungsgemeinschaft muss auch nicht notwendiger Weise eine Hausgemeinschaft bestehen. Entscheidend ist die tatsächliche Verbundenheit zwischen den Familienmitgliedern (vgl. BVerfG, B.v. 9.1.2009 – 2 BvR 1064/08 – juris Rn. 15). Maßgeblich für eine tatsächlich enge Bindung ist insbesondere ein nachweisbares Interesse sowie das Bekenntnis des Elternteils zu dem Kind vor und nach dessen Geburt (vgl. EGMR, U.v. 3.12.2009 – 22028/04 – juris Rn. 37). Es ist davon auszugehen, dass der persönliche Kontakt des Kindes und der damit verbundene Aufbau und die Kontinuität emotionaler Bindungen zu Vater und Mutter in aller Regel der Persönlichkeitsentwicklung des Kindes dient und das Kind beide Eltern braucht (vgl. BVerfG, B.v. 8.12.2005 – 2 BvR 1001/04 – juris Rn. 25 f. m.w.N.). Auch ist zu berücksichtigen, dass noch sehr kleine Kinder den nur vorübergehenden Charakter einer räumlichen Trennung möglicherweise nicht begreifen können und eine solche rasch als endgültigen Verlust erfahren (vgl. BVerfG, B.v. 23.1.2006 – 2 BvR 1935/05 – juris Rn. 22).
27
Daran gemessen dürfte die unter Ziffer 3 des Bescheids vom 30. Juni 2023 verfügte Abschiebungsandrohung unter Berücksichtigung des Kindeswohls der Tochter und der familiären Bindungen des Antragstellers derzeit rechtswidrig sein.
28
Es ist davon auszugehen, dass der Antragsteller mit seiner Tochter und seiner Lebensgefährtin im Bundesgebiet in einer nach Art. 6 GG, Art. 7 GRCh bzw. Art. 8 EMRK grundrechtlich bzw. konventionsrechtlich geschützten Familiengemeinschaft lebt. Der Antragsteller wohnt mit seiner Tochter und deren Mutter in Deutschland in einer Flüchtlingsunterkunft als Kernfamilie zusammen. Darüber hinaus hatte er bereits bei seiner Erstbefragung auf seine Lebensgefährtin und das Kind hingewiesen sowie erklärt, sie seien auf ihre wechselseitige Unterstützung angewiesen. Der Asylantrag für die Tochter wurde von beiden Elternteilen gestellt. Beide erklärten zudem übereinstimmend, dass sie bereits in Italien zusammengelebt hätten. Die Einreise ins Bundesgebiet erfolgte ebenfalls gemeinsam. Darüber hinaus hat der Antragsteller ausweislich der entsprechenden Urkunden des Landratsamts Schweinfurt vom 3. März 2021 die Vaterschaft für die Tochter anerkannt und übt gemeinsam mit der Mutter die elterliche Sorge aus.
29
Eine Abschiebung des Antragstellers nach Nigeria oder einen sonst aufnahmebereiten Staat würde voraussichtlich jedenfalls zu einer zu einer derzeit nicht zu rechtfertigenden vorübergehenden Trennung von Vater und Kind führen.
30
Dieses folgt zwar nicht, wie vom Antragsteller vorgetragen, bereits daraus, dass seiner Tochter ein Abschiebungsverbot zuerkannt worden war, da sich dieses nach den Behördenakten (Bescheid vom 27. April 2022, Bl. 264 der elektronischen Behördenakte der Tochter) lediglich auf den Zielstaat Italien bezieht und es daher einer Abschiebung seiner Tochter nach Nigeria oder in einen anderen aufnahmebereiten Staat außer Italien, nicht entgegensteht bzw. der Tochter nicht allein aufgrund dessen eine Ausreise nach Nigeria unzumutbar wäre. Seine Tochter als auch seine Lebensgefährtin verfügen jedoch aufgrund ihrer noch nicht – in der Sache – entschiedenen Asylanträge jeweils über eine Aufenthaltsgestattung (§ 55 Abs. 1 Satz 1 AsylG) und somit über ein, zwar auf die Dauer des Statusfeststellungsverfahrens beschränktes und vorläufiges, aber dennoch vor jedweder Überstellung in einen möglichen Verfolgerstaat schützendes Aufenthaltsrecht (vgl. Röder in BeckOK MigR, Stand 15.4.2023, § 55 AsylG Rn. 1; Bergmann in: Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 14. Auflage 2022, AsylG, § 55 Rn. 2 unter Verweis auf BVerwG, U.v. 7.10.1975 – I C 46.69 – juris Rn. 28).
31
Somit kann die Familie, solange nicht -ablehnend – über die Asylanträge der Tochter und der Lebensgefährtin des Antragstellers entschieden ist und sie nicht vollzugsfähig ausreisepflichtig sind, weder gemeinsam nach Nigeria oder einen anderen aufnahmebereiten Staat abgeschoben werden noch ist von der Tochter und ihrer Mutter zu erwarten, dass sie freiwillig nach Nigeria oder einen anderen aufnahmebereiten Staat ausreisen falls der Antragsteller dorthin abgeschoben wird.
32
Die aufgrund dessen bei einer freiwilligen Ausreise oder Abschiebung zurzeit zu erwartende, jedenfalls vorübergehende, Trennung der Familie wäre nicht mit Art. 6 Abs. 1 i. V. m. Abs. 2 GG, Art. 8 Abs. 1 EMRK, Art. 7 und Art. 24 Abs. 2 EU-Grundrechtecharta (GRCh) zu vereinbaren. Angesichts dessen, dass die am 24. Oktober 2020 geborene Tochter des Antragstellers noch sehr jung ist, steht zu befürchten, dass sie die Umstände einer (wenn auch nur zeitlich begrenzten) Trennung nicht nachvollziehen kann. Beiden Eltern steht das Recht der Personensorge nach § 1626 BGB zu. Die Tochter ist angesichts ihres Alters zudem in gesteigertem Maß auf eine enge Betreuung und Versorgung durch möglichst beide Elternteile angewiesen und in geistiger und emotionaler Weise von diesen abhängig. Es ist auch nicht anzunehmen, dass die zu erwartende Dauer der Trennung – insbesondere auch unter Berücksichtigung des Alters der Tochter – verhältnismäßig kurz und damit hinnehmbar ist, da nicht absehbar ist, wann – und mit welchem Ergebnis – über die Asylanträge der beiden entschieden wird. Die aus einer Trennung resultierende Gefahr, dass nachhaltig die sozial-familiäre Beziehung des Kindes zu seinem Vater beeinträchtigt werden kann, steht einer von der Familie getrennten Abschiebung des Antragstellers daher aus Sicht der Einzelrichterin entgegen.
33
Der Verweis des Antragstellers auf ein dem Erlass der Abschiebungsandrohung nachgelagertes Verfahren – wie etwa eine vorübergehende Aussetzung der Abschiebung durch die Ausländerbehörde (§ 43 Abs. 3 Satz 1 AsylG) oder ein inlandsbezogenes Abschiebungshindernis in Form einer Duldung aufgrund einer sich aus Art. 6 GG bzw. Art. 8 EMRK ergebenden rechtlichen Unmöglichkeit (§ 60a Abs. 2 Satz 1 Var. 1 AufenthG) – genügt den unionsrechtlichen Anforderungen des Art. 5 Buchst. a) und b) der Rückführungsrichtlinie nicht (vgl. EuGH, B.v. 15.2.2023 – C-484/22 – juris Rn. 28).
34
Somit muss, solange die Tochter und die Lebensgefährtin des Antragstellers aufgrund der noch nicht beschiedenen Asylanträge nicht vollziehbar ausreisepflichtig sind, das öffentliche Interesse an einer wirksamen Vollstreckung der Ausreisepflicht (vgl. Erwägungsgrund Nr. 4 und 6 Satz 1 der Rückführungsrichtlinie) im konkreten Fall des Antragstellers hinter dem Schutz des Kindeswohls und der familiären Bindungen (Art. 5 Buchst. a) und b) der Rückführungsrichtlinie) zurückstehen.
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Die aufschiebende Wirkung der Klage war daher anzuordnen, solange die Tochter und die Lebensgefährtin des Antragstellers nicht vollziehbar ausreisepflichtig sind.
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Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO, § 83b AsylG.