Titel:
Verwaltungsrechtsweg für Streitigkeit über Inobhutnahme eines Kindes
Normenketten:
VwGO § 40 Abs. 1 S. 1, § 113 Abs. 1 S. 4
GVG § 23a
BGB § 1666
SGB VIII § 8a, § 42
GG Art. 2 Abs. 2 S. 1, Art. 6 Abs. 2 S. 1
Leitsatz:
Für ein Verfahren, mit welchem sich Eltern gegen die Inobhutnahme ihrer Kinder wenden, ist der Verwaltungsrechtsweg eröffnet; die Familiengerichte regeln die notwendigen sorgerechtlichen Maßnahmen, die sich an die Inobhutnahme anschließen. (Rn. 40 und 47) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Inobhutnahme, Verwaltungsrechtsweg, Rechtsweg zur ordentlichen Gerichtsbarkeit, Familiengericht
Fundstelle:
BeckRS 2023, 21056
Tenor
I. Die Klage wird abgewiesen.
II. Die Kläger haben die Kosten des Verfahrens zu tragen. Gerichtskosten werden nicht erhoben.
Tatbestand
1
I. Die Kläger sind die Eltern ihrer am 18. Oktober 2022 geborenen Zwillingskinder M … und E … Die Parteien streiten um die Inobhutnahme beider Kinder durch die Beklagte.
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Die Kläger waren für ihre beiden Kinder sorgeberechtigt. Die Kläger leben gemeinsam in einem Haushalt. Die Kinder wurden im Klinikum A …- … geboren und nach der Geburt ohne weitere Auffälligkeiten entlassen.
3
Ausweislich der Bescheinigung eines Facharztes für Kinder- und Jugendmedizin vom 20. Dezember 2022 wurden im Rahmen der U3-Vorsorge bei dem Kind M … am 24. November 2022 erstmals Hämatome sowie streifenförmige Hautveränderungen an den Flanken dokumentiert.
4
Am 30. November 2022 gegen 13:30 Uhr ging beim Jugendamt der Beklagten eine Gefährdungsmeldung der Leitenden Oberärztin der Kinderklinik A …, Frau M., hinsichtlich der Kinder M … und E … ein. Die Kläger hätten M … am Vortag in der Kinderklinik vorgestellt, weil er seit etwa drei Tagen erbreche. Die Untersuchung habe multiple Hämatome am gesamten Körper sowie Hirnblutungen ergeben, zudem Löcher/Defekte im Gehirn, deren Ursache noch unklar sei. Die Kläger hätten trotz mehrmaliger Nachfrage keinerlei Erklärungen für die Verletzungen nennen können. Die Verletzungen seien nach dem klinischen Bild hoch verdächtig für eine Misshandlung. Die Zwillingsschwester E … habe augenscheinlich keine Verletzungen.
5
Auf der Grundlage einer ersten Gefährdungseinschätzung sprach das Jugendamt der Beklagten gegenüber den Klägern noch am Nachmittag des 30. November 2022 mündlich die Inobhutnahme der Kinder M … und E … aus. Dem lag eine weitere Gefährdungsüberprüfung zugrunde. Diese stützt sich auf ein Gespräch mit der Leitenden Oberärztin M., welche berichtet habe, M … sei bei der ersten Untersuchung neurologisch stark auffällig gewesen. Er befinde sich in einem schlechten Allgemeinzustand. Die Fontanelle sei nach außen gewölbt. Es seien im Gesicht, am Oberarm, am Bauch, am Knie sowie am Rücken geformte Hämatome zu sehen, am Rücken auch beidseitig lange Einblutungen in Form von Striemen. Es seien Gehirnblutungen sowie Defekte/Löcher im Gehirn festgestellt worden. Seit der Aufnahme in die Klinik seien keine weiteren Hämatome mehr hinzugekommen. Die Kläger hätten keine Erklärung für die Verletzungen geben können. E … habe keine offensichtlichen Verletzungen.
6
Die Kläger gaben gegenüber dem Jugendamt der Beklagten an, die Klägerin habe noch eine am … … 2016 geborene Tochter aus einer vorherigen Beziehung, die dauerhaft bei der Großmutter aufwachse. Ein Antrag auf Rückführung dieser Tochter beim Familiengericht sei erfolglos geblieben. Die Kläger seien seit Dezember 2021 ein Paar. Sie wohnten im Elternhaus des Klägers, mit beiden Großeltern gebe es häufigen Kontakt; diese unterstützten die Familie. Da M … schlecht gegessen und viel erbrochen habe, habe die Hebamme zur Vorstellung beim Kinderarzt geraten. Dieser habe M … in die Kinderklinik eingewiesen. Die Kläger könnten sich die Entstehung der Verletzungen nicht erklären. Außer von ihnen selbst sei M … von keiner anderen Person allein betreut worden. Es sei nichts vorgefallen, was die Verletzungen erklären könnte. Der Kläger habe die Kinder hochgeworfen, weil er nicht gewusst habe, dass man dies in diesem Alter noch nicht machen dürfe. Die Kläger gaben in diesem Zusammenhang an, der Inobhutnahme vorerst nicht zu widersprechen.
7
Mit einfacher E-Mail vom 1. Dezember 2022 widersprachen die Kläger bei der Beklagten der Inobhutnahme ihrer beiden Kinder.
8
Unter dem 1. Dezember 2022 nahm die KPI A … Ermittlungen wegen des Verdachts der Kindesmisshandlung auf und gab die Unterlagen an die für die polizeilichen Ermittlungen zuständige Kriminaldirektion D … ab.
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Mit Schreiben vom 2. Dezember 2022 rief die Beklagte das Amtsgericht – Familiengericht – Dieburg gemäß § 8a Abs. 2 SGB VIII an und begründete dies damit, aufgrund der massiven Verletzungen bei M … mit fehlender Anamnese hinsichtlich ihrer Entstehung bestehe der dringende Verdacht einer schweren körperlichen Misshandlung durch mindestens einen Elternteil. Andere Betreuungspersonen hätten nicht genannt werden können. Aufgrund unklarer Täterschaft bestehe auch hinsichtlich E … eine akute Gefährdung ihres körperlichen Wohles. Wer M … die massiven Verletzungen beigebracht habe, sei derzeit völlig unklar; zumindest seien die Kläger jedoch nicht in der Lage gewesen, ihren Sohn zu schützen. Bis zur weiteren Aufklärung des Sachverhalts werde eine Fremdunterbringung als notwendig erachtet, um den Schutz der Kinder zu gewährleisten.
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Mit Beschluss vom 5. Dezember 2022 bestellte das Amtsgericht – Familiengericht – Dieburg im Verfahren 50 F 739/22 EASO für die Kinder E … und M … einen Verfahrensbeistand. Mit weiterem Beschluss vom 5. Dezember 2022 wies das Amtsgericht – Familiengericht – Dieburg den Bevollmächtigten der Kläger gemäß § 10 Abs. 3 Satz 1, Abs. 2 Satz 2 Nr. 2 FamFG zurück. Mit Beschluss vom selben Tag entzog das Amtsgericht – Familiengericht – Dieburg den Klägern das Aufenthaltsbestimmungsrecht sowie die Gesundheitsfürsorge für die Kinder M … und E … vorläufig und übertrug diese Rechte dem Jugendamt der Beklagten. Zugleich verbot es den Klägern, Verbindung zu den Kindern aufzunehmen.
11
Mit Bescheid vom 8. Dezember 2022 bestätigte die Beklagte die am 30. November 2022 mündlich angeordnete Inobhutnahme der Kinder M … und E … schriftlich und ordnete zugleich die sofortige Vollziehung des Bescheides gemäß § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 VwGO an. Zur Begründung wurde ausgeführt, die Kinder seien aufgrund einer akuten Kindeswohlgefährdung in Obhut genommen worden, weil eine familiengerichtliche Entscheidung nicht habe rechtzeitig eingeholt werden können. In der Kinderklinik A … hätten sich massive und lebensbedrohliche Verletzungen bei dem Kind M … gezeigt, die die Kläger nicht hätten erklären können. Unstreitig hätten die Kläger den Schutz des Kindes vor Misshandlungen nicht sichergestellt. Eine akute Kindeswohlgefährdung sei für beide Kinder gegeben. Bei M … seien diverse Hämatome an linker und rechter Wange, am Rücken, am Ellenbogengelenk linksseitig, am Kniegelenk linksseitig und an der Bauchdecke festgestellt worden, dazu auf der Grundlage einer Ultraschalluntersuchung und eines MRT ein Subdural-Hämatom und Läsionen im Hirngewebe, teilweise frisch, stellenweise jedoch möglicherweise auch älteren Datums. Bis zur familiengerichtlichen Entscheidung sei zur Sicherstellung des Kindeswohls die Inobhutnahme aufrechtzuerhalten. Zugleich wurden Ausführungen zur Anordnung der sofortigen Vollziehung gemacht. Der Bescheid wurde beiden Klägern jeweils mit Postzustellungsurkunde am 10. Dezember 2022 zugestellt.
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Die vom Amtsgericht – Familiengericht – Dieburg bestellte Verfahrensbeiständin nahm unter dem 12. Dezember 2022 gegenüber dem Amtsgericht dahingehend Stellung, die Unterbringung der beiden Säuglinge sei derzeit weiter notwendig; ambulante Hilfen seien ihres Erachtens derzeit nicht ausreichend.
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Mit Beschluss vom 14. Dezember 2022 entzog das Amtsgericht – Familiengericht – Dieburg den Klägern in Ergänzung des Beschlusses vom 5. Dezember 2022 das Recht zur Antragstellung nach dem Achten Buch Sozialgesetzbuch für die Kinder M … und E … vorläufig und übertrug dieses Recht dem Jugendamt der Beklagten als Pfleger.
14
Am 28. Dezember 2022 beantragte die Beklagte als Personensorgeberechtigte der Kinder M … und E … beim Landkreis Da.-Di. die Gewährung von Jugendhilfe in Form der Unterbringung in einer Pflegestelle gemäß § 33 SGB VIII.
15
Mit Schreiben vom 25. Dezember 2022 an das Amtsgericht – Familiengericht – Dieburg, dort eingegangen am 29. Dezember 2022, teilten die Kläger mit, sie seien nicht bereit, Anträge auf Familienhilfe und auf Unterbringung in einem Heim zu stellen.
16
Unter dem 5. Januar 2023 teilte der Kinderschutzdienst des Landkreises Da.-Di. der Beklagten mit, dieser sei als Pfleger für die Kinder Jugendhilfe in Form der Unterbringung in eine Pflegestelle ab dem 5. Januar 2023 gewährt worden.
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Mit Arztbrief vom 11. Januar 2023 teilte das Klinikum A …- … dem behandelnden Facharzt für Kinder- und Jugendmedizin mit, die stationäre Aufnahme des Kindes M … am 29. November 2022 sei in deutlich reduziertem Allgemeinzustand mit rezidivierendem Erbrechen und auffälligem Verhalten erfolgt. Das Kind sei neurologisch auffällig gewesen mit Wechsel aus Apathie und schrillem Schreien, die große Fontanelle sei deutlich gespannt gewesen. Es seien zahlreiche geformte Hämatome – im Einzelnen benannt – aufgefallen. Eine Schädel-Sonographie habe den dringenden Verdacht auf Subdural-Blutungen ergeben. Diese hätten im MRT gesichert dargestellt werden können, das Alter könne mit mindestens drei Tagen angegeben werden. Zudem habe bei Aufnahme eine erhebliche Anämie bestanden. Die Hämatome hätten sich im Verlauf zunehmend resorbiert, während des stationären Aufenthalts seien keine weiteren Hautblutungen aufgetreten. Es hätten keine Anhaltspunkte für eine Gerinnungsstörung festgestellt werden können. Aufgrund der vorliegenden Befunde und Verletzungen habe man keine plausible Differenzial-Diagnose zur Diagnose Schütteltrauma-Syndrom sehen können. Die subduralen Hämatome ohne plausible Erklärung ließen auf misshandlungsbedingte Kopfverletzungen schließen. Von den Eltern hätten keine plausiblen Erklärungen für das Verletzungsmuster vorgebracht werden können. Ein Schütteltrauma erfordere massives und gewaltsames Hin- und Herschütteln des Säuglings. Laien sei das potentiell Lebensgefährliche dieser Handlung aufgrund der Schwere des Schüttelns durchaus bewusst. Im Rahmen der MRT-Untersuchung der Wirbelsäule sei zusätzlich eine Rippenserienfraktur links, eine für Kindesmisshandlung hochspezifische Verletzung, dokumentiert worden. Am 15. Dezember 2022 habe kein Anhalt für eine zwischenzeitlich stattgehabte erneute Einblutung im Gehirn bestanden.
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Mit Bescheid vom 20. Januar 2023 beendete die Beklagte die Inobhutnahme mit Wirkung zum 5. Januar 2023 und begründete dies damit, das Jugendamt des Landkreises Da.-Di. habe am 5. Januar 2023 dem Antrag auf Hilfe zur Erziehung gemäß § 33 SGB VIII stattgegeben, eine Fortsetzung der Inobhutnahme über den 5. Januar 2023 hinaus sei daher nicht mehr angezeigt gewesen.
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II. Mit Schreiben vom 2. Dezember 2022, bei Gericht eingegangen am 8. Dezember 2022, ließen die Kläger durch ihren vormaligen Bevollmächtigten im Verfahren W 3 S 22.1888 beim Verwaltungsgericht Würzburg sinngemäß beantragen, die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs der Eltern vom 1. Dezember 2022 gegen den Inobhutnahmebescheid gemäß § 80 Abs. 5 VwGO festzustellen bzw. anzuordnen.
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Mit einem am 13. Dezember 2022 eingegangenen Schreiben ihres vormaligen Bevollmächtigten ließen die Kläger den Bescheid der Beklagten vom 8. Dezember 2022 dem Gericht vorlegen. Dieser weist auf seiner letzten Seite eine handschriftliche Notiz mit folgendem Inhalt auf: „Wir haben bereits schriftlich und vorher mündlich Widerspruch erhoben. 10.11.2022“. Diese Notiz ist mit einer Unterschrift versehen, die diejenige des Klägers sein dürfte.
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Die Beklagte beantragte, den Antrag abzulehnen.
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Mit Beschluss vom 22. Dezember 2022 wies das Gericht im Verfahren W 3 S 22.1888 nach vorheriger Anhörung Herrn G … K … als Bevollmächtigten der Kläger zurück und begründete dies mit den fehlenden Voraussetzungen nach § 67 Abs. 2 VwGO für dessen Vertretungsbefugnis. Mit Beschluss vom 13. Januar 2023 wies das Gericht die entsprechende Gegenvorstellung der Kläger zurück.
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Aufgrund der Beendigung der Inobhutnahme mit Bescheid vom 20. Januar 2023 forderte das Gericht im Verfahren W 3 S 22.1888 unter dem 30. Januar 2023 die Kläger zur Abgabe einer prozessbeendenden Erklärung auf. Eine solche ist bei Gericht nicht eingegangen.
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Mit Beschluss vom 6. Februar 2022 lehnte das Gericht im Verfahren W 3 S 22.1888 den Antrag ab und begründete dies mit dessen Unzulässigkeit aufgrund der Aufhebung des am 30. November 2022 mündlich erlassenen und am 8. Dezember 2022 schriftlich bestätigten und für sofort vollziehbar erklärten Inobhutnahmebescheides mit Bescheid vom 20. Januar 2023 rückwirkend zum 5. Januar 2023.
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III. Am 20. Januar 2023 ließen die Kläger im vorliegenden Verfahren durch ihren vormaligen Bevollmächtigten eine Fortsetzungsfeststellungsklage zum Verwaltungsgericht Würzburg erheben mit dem Antrag,
festzustellen, dass die streitgegenständliche Inobhutnahme des Jugendamts der Stadt A … rechtswidrig war und alle Kläger in ihren Rechten verletzt hat.
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Zur Begründung wurde vorgetragen, es liege offensichtlich keine akute Kindeswohlgefährdung vor. Dies könne die die Kinder nach der Geburt versorgende Hebamme bezeugen. Vielmehr seien die Kinder ohne jegliche erforderliche Sachverhaltsaufklärung entzogen worden, so dass denknotwendig keine akute Kindeswohlgefährdung habe stattfinden können. Zudem seien keine milderen Alternativmaßnahmen geprüft worden. Im Übrigen habe das Kind M … bereits seit seiner Geburt blaue Flecken; diese hätten nichts mit Misshandlung, sondern mit Problemen bei der Geburt zu tun. Der Inobhutnahmebescheid vom 8. Dezember 2022 sei fehlerhaft nicht vom Juristen des Jugendamtes unterschrieben worden und damit formal rechtswidrig und rechtsunwirksam. Das erforderliche Feststellungsinteresse ergebe sich aus einem Rehabilitierungsinteresse der Kläger nach einem tiefgreifenden Grundrechtseingriff in Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG. Im vorliegenden Fall habe die Beklagte den Klägern voreilig unterstellt, Leib und Leben der Kinder und damit das Kindeswohl akut zu gefährden; hiermit diskriminiere die Beklagte die Kläger. Deren Ansehen sei deutlich herabgesetzt und sie seien mit Außenwirkung stigmatisiert worden; dies dauere an.
27
Auch wenn das Familiengericht den Klägern das Aufenthaltsbestimmungsrecht entzogen habe, lasse dies die Klagebefugnis im vorliegenden Fall nicht entfallen, denn das Elternrecht umfasse auch die Gesundheitsfürsorge und das Recht, das Kind zu erziehen.
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Insbesondere hinsichtlich der Tochter E … habe offenkundig keine akute Kindeswohlgefährdung vorgelegen, da sie völlig gesund sei. Zudem habe die Beklagte im Rahmen des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes alternative Handlungsweisen nicht hinreichend geprüft. Insbesondere hätte eine Beratung und Unterstützung nach § 18, § 28 SGB VIII oder eine gemeinsame Unterbringung der Eltern zusammen mit den Kindern nach § 19 SGB VIII erfolgen können.
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Im Zeitpunkt der Inobhutnahme hätten sich die Kinder im Krankenhaus befunden, so dass die Inobhutnahme gar nicht erforderlich gewesen wäre. Zudem sei eine familiengerichtliche Entscheidung in diesem Rahmen nicht uneinholbar gewesen.
30
Demgegenüber spreche Vieles für Fehler der Klinik bei der Geburt der Kinder. Insbesondere liege hinsichtlich der vorgeblichen Gehirnblutung die Vermutung nahe, dass es bei der Geburt bereits einschlägige Probleme gegeben habe. Hierzu lägen keinerlei Untersuchungen vor. Demgegenüber könne kein Schütteltrauma vorliegen, da die Halswirbelsäule unverletzt sei und auch keine Blutungen wie Gehirnblutungen daraus resultierend gegeben seien.
31
Weiterhin ließen die Kläger eine Stellungnahme der Mutter des Klägers vorlegen, in welcher diese den Sachverhalt aus ihrer Sicht schildert und mitteilt, die Kläger hätten sie über die Aussage des Kinderarztes informiert, diesem bleibe wegen der Flecken und des Spuckverhaltens des Kindes M … nur die Überweisung in die Kinderklinik übrig.
32
Die Beklagte beantragte,
33
Zur Begründung wurde vorgetragen, am 30. November 2022 habe das Klinikum A … eine mögliche Kindeswohlgefährdung gemeldet, dies aufgrund umfangreicher schwerer Verletzungen beim Sohn der Kläger, für welche diese trotz mehrmaliger Nachfrage keine Erklärungen hätten geben können. Die Kläger hätten – so die zuständige Oberärztin – wenig Interesse für den Gesundheitszustand des Kindes gezeigt. Nach erfolgter Gefährdungseinschätzung habe der dringende Verdacht einer körperlichen Misshandlung durch mindestens einen Elternteil bestanden. Aufgrund des unklaren Sachverhalts und der unklaren Täterschaft sei für die Tochter E … eine akute Gefährdung ebenfalls nicht auszuschließen gewesen. Die Kläger hätten mit einfacher E-Mail vom 1. Dezember 2022 der Inobhutnahme widersprochen, so dass die Beklagte das Amtsgericht – Familiengericht – Dieburg angerufen habe. Die Kläger hätten das Verletzungsbild ihres Sohnes nicht erklären können, hätten jedoch gleichzeitig angegeben, dass beide Kinder nicht durch Dritte allein betreut worden seien. Zur Abwehr einer dringenden Gefahr für beide Kinder sei die Inobhutnahme unumgänglich gewesen. Weniger einschneidende Maßnahmen seien nicht ersichtlich. Denn bei keiner anderen Maßnahme könne gewährleistet werden, dass die Kläger nicht allein mit ihren Kindern seien und es damit zu keinen weiteren Verletzungen komme.
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Mit Schreiben vom 24. Januar 2023 hörte das Gericht die Kläger persönlich sowie deren vormaligen Bevollmächtigten zur Zulässigkeit von dessen Prozessvertretung im Rahmen des § 67 Abs. 2 VwGO und zu einer Zurückweisung nach § 67 Abs. 3 Satz 1 VwGO an.
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Mit Beschluss vom 1. Februar 2023 wies das Gericht Herrn G … K … als Bevollmächtigten der Kläger zurück und begründete dies mit den fehlenden Voraussetzungen nach § 67 Abs. 2 VwGO für dessen Vertretungsbefugnis.
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Im Übrigen wird auf das Protokoll der mündlichen Verhandlung am 27. April 2023, auf das weitere schriftsätzliche Vorbringen der Parteien sowie auf den Inhalt der Gerichtsakte W 3 S 22.1888 und der einschlägigen Verwaltungsakten der Beklagten, welche Gegenstand des Verfahrens waren, Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
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1. Über das vorliegende Verfahren durfte in Abwesenheit des vormaligen Bevollmächtigten der Kläger verhandelt und entschieden werden. Dieser ist mit Beschluss vom 1. Februar 2023 vom Gericht wirksam als Bevollmächtigter der Kläger zurückgewiesen worden. Im Übrigen hat sich mit Schreiben vom 27. April 2023 eine andere Bevollmächtigte für die Kläger bestellt und am Termin zur mündlichen Verhandlung am 27. April 2023 rügelos teilgenommen.
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2. Gegenstand des vorliegenden Verfahrens ist der am 30. November 2022 mündlich erlassene und am 8. Dezember 2022 gemäß § 33 Abs. 2 Satz 2 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch vom 18. Januar 2001 (BGBl I S. 130), zuletzt geändert durch Gesetz vom 20. Juli 2022 (BGBl I S.1237) – SGB X – schriftlich bestätigte Verwaltungsakt, mit welchem die Beklagte die Kinder M … und E … gemäß § 42 Abs. 1 Achtes Buch Sozialgesetzbuch vom 11. September 2022 (BGBl. I S. 2022), zuletzt geändert durch Gesetz vom 1. August 2022 (BGBl I S. 3429) – SGB VIII – in Obhut genommen hat. Die Kläger begehren im Rahmen einer Fortsetzungsfeststellungsklage die Feststellung, dass der Bescheid vom 30. November 2022 rechtswidrig war.
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3. Die Klage ist zulässig.
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a) Für ein Verfahren, mit welchem sich Eltern gegen die Inobhutnahme ihrer Kinder wenden, ist der Verwaltungsrechtsweg eröffnet. Dies ergibt sich zunächst aus § 40 Abs. 1 Satz 1 VwGO i.V.m. § 51 SGG, der Angelegenheiten der Kinder- und Jugendhilfe nach dem Achten Buch Sozialgesetzbuch nicht den Sozialgerichten zuweist.
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Es liegt auch keine anderweitige Sonderzuweisung an das Familiengericht vor. Denn die Vorschrift des § 42 Abs. 3 Satz 2 Nr. 2 SGB VIII, wonach das Jugendamt unverzüglich eine Entscheidung des Familiengerichts über die erforderlichen Maßnahmen zum Wohle des Kindes herbeizuführen hat, wenn ein Kind aufgrund des Vorliegens einer dringenden Gefahr für sein Wohl in Obhut genommen wird und die Personen- oder Erziehungsberechtigten der Inobhutnahme widersprechen, stellt keine Sonderzuweisung von Streitigkeiten über Inobhutnahmen an die Familiengerichte dar (so aber der Hinweis auf eine entsprechende Literaturmeinung bei Dürbeck in Wiesner/Wapler, SGB VIII, 6. Aufl. 2022, § 42 Rn. 70; Trenczek/Beckmann in Frankfurter Kommentar SGB VIII, 9. Aufl. 2022, § 42 Rn. 70).
42
Dies ergibt sich aus dem gesetzlich verankerten Konzept zum Schutz von Kindern und Jugendlichen.
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Gemäß § 1666 Abs. 1 BGB hat das Familiengericht dann, wenn das körperliche, geistige oder seelische Wohl eines Kindes gefährdet wird und die Eltern nicht gewillt oder in der Lage sind, die Gefährdung abzuwenden, die Maßnahmen zu treffen, die zur Abwendung der Gefahr erforderlich sind. Neben weiteren milderen Maßnahmen nennt § 1666 Abs. 3 Nr. 6 BGB die teilweise oder vollständige Entziehung der elterlichen Sorge. Das Familiengericht wird hier originär auf der Grundlage von § 23a Abs. 1 Satz 1 Nr. 1, Satz 2 GVG, § 151 FamFG von Amts wegen tätig (Grüneberg, BGB, 82. Aufl. 2023, § 1666 Rn. 43; Coester in Staudinger, BGB, Kommentar Stand: 6.1.2022, § 1666 Rn. 61). Auf dieser Ebene wird das Familiengericht auch dann tätig, wenn dem Jugendamt gemäß § 8a Abs. 1 SGB VIII gewichtige Anhaltspunkte für die Gefährdung des Wohls eines Kindes oder Jugendlichen bekannt werden und es gemäß § 8a Abs. 2 SGB VIII das Familiengericht anruft, weil es dessen Tätigwerden für erforderlich hält.
44
Zusätzlich zu der familiengerichtlichen Ebene des Schutzes von Kindern und Jugendlichen vor Gefährdungen hat der Gesetzgeber eine verwaltungsrechtliche Schutzebene geschaffen, dies für den Fall, dass eine dringende Gefahr für das Wohl eines Kindes oder Jugendlichen besteht und die Entscheidung des Familiengerichts nicht abgewartet werden kann. In diesem Fall ist das Jugendamt gemäß § 8a Abs. 2 Satz 2 SGB VIII verpflichtet, das Kind oder den Jugendlichen in Obhut zu nehmen.
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Diese Inobhutnahme ist im Einzelnen in § 42 SGB VIII geregelt. Hiernach ist – spiegelbildlich zu § 8a Abs. 2 SGB VIII – festgelegt, dass das Jugendamt berechtigt und verpflichtet ist, ein Kind oder einen Jugendlichen in seine Obhut zu nehmen, wenn eine dringende Gefahr für das Wohl des Kindes oder des Jugendlichen die Inobhutnahme erfordert und eine familiengerichtliche Entscheidung nicht rechtzeitig eingeholt werden kann, dies für den Fall, dass die Personensorgeberechtigten der Inobhutnahme widersprechen (§ 42 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGB VIII). Widersprechen die Personensorgeberechtigten der Inobhutnahme und besteht die Einschätzung des Jugendamtes fort, dass eine dringende Gefahr für das Wohl des Kindes oder des Jugendlichen besteht, so hat es nach § 42 Abs. 3 Satz 2 Nr. 2 SGB VIII die Entscheidung des Familiengerichts über die erforderlichen Maßnahmen zum Wohl des Kindes oder des Jugendlichen herbeizuführen.
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Hieraus wird deutlich, dass die Inobhutnahme als reine Notmaßnahme konzipiert ist, mit der seitens des Jugendamtes zur Abwehr einer dringenden Gefahr für das Wohl des Kindes oder des Jugendlichen auf der verwaltungsrechtlichen Ebene eingegriffen werden kann, bis das Familiengericht seiner originären Aufgabe nachkommen kann, entsprechende Maßnahmen nach § 1666 BGB zur Abwendung der Gefahr für das Kindeswohl zu ergreifen.
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Die Familiengerichte entscheiden in diesem Rahmen lediglich über die dann erforderlichen Maßnahmen zum Wohl des Minderjährigen, nicht aber über die Rechtmäßigkeit der zurückliegenden Inobhutnahme. Das familiengerichtliche Verfahren ist also allein darauf ausgerichtet, die notwendigen sorgerechtlichen Maßnahmen zu regeln, die sich an die Inobhutnahme anschließen. Dies bedeutet, dass es für die Frage, ob die Inobhutnahme rechtswidrig erfolgte, bei den Regelungen über das Widerspruchsverfahren nach den §§ 68 ff. VwGO und das Klageverfahren nach §§ 81 ff. VwGO verbleibt und auf der verwaltungsgerichtlichen Ebene die Rechtmäßigkeit der zurückliegenden Inobhutnahme zu beurteilen ist (Kepert in LPK-SGB VIII, 8. Aufl. 2022, § 42 Rn. 100, Kirchhoff in Schlegel/Voelzke, juris-PK SGB VIII, 3. Aufl. 2022, Stand: 22.6.2023, § 42 Rn. 218 und Rn. 231 m.w.N.; OLG Frankfurt, B.v. 22.1.2019 – 4 WF 145/18 – juris; Kirchhoff, juris-PR-SozR 13/2019 Anm. 4; Brandenburgisches OLG, B.v 10.7.2019 – 13 UF 121/19 – juris Rn. 4; a.A.: Trenczek, JAmt 2010, 543, 544; differenzierend: Lauterbach, JAmt 2014, 10, Trenczek/Beckmann in Frankfurter Kommentar SGB VIII, 9. Aufl. 2022, § 42 Rn. 52, Rn. 70).
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Dabei ist die Zielrichtung einer (nachträglichen) Überprüfung der Inobhutnahmeentscheidung eine andere als die auf die Zukunft gerichtete Entscheidung des Familiengerichts. Letztere hat im Wesentlichen die Frage zum Gegenstand, wie das Kindeswohl künftig bestmöglich gewährleistet werden kann. In diesem Zusammenhang geht es auch um die Frage, ob den für das betreffende Kind Sorgeberechtigten das Sorgerecht – zumindest in Teilen – entzogen werden und auf einen anderen Rechtsträger (oft das zuständige Jugendamt) übertragen werden muss (§ 1666 Abs. 3 Nr. 6 BGB). Mit der in der Vergangenheit liegenden und bis zur Umsetzung der Entscheidung des Familiengerichts fortwirkenden Inobhutnahme als Instrument zur zeitlichen Überbrückung des Zeitraums bis zu einer Entscheidung des Familiengerichts mit der Konsequenz der Gewährung von Hilfen nach dem Sozialgesetzbuch (§ 42 Abs. 4 Nr. 2 SGB VIII) und deren Rechtmäßigkeit beschäftigt sich das Familiengericht nicht. Demgegenüber muss denjenigen Sorgeberechtigten, in deren Sorgerecht durch eine Inobhutnahme eingegriffen wird, eine Rechtsschutzmöglichkeit zustehen, in deren Rahmen nach verwaltungsrechtlichen Regelungen die formelle und materielle Rechtmäßigkeit der Inobhutnahme überprüft wird. In einem entsprechenden Hauptsacheverfahren, das – wie im vorliegenden Fall – als Fortsetzungsfeststellungsklage durchgeführt wird, geht es nicht nur um eine Rehabilitation der Sorgeberechtigten, sondern auch um die Vorfrage, ob eine rechtmäßige Inobhutnahme als Grundlage für die Erhebung eines entsprechenden Kostenbeitrags der Sorgeberechtigten gegeben ist. Auch für eine diesbezügliche Prüfung hat das Familiengericht keinerlei rechtliche Kompetenzen. Aufgrund der Verschiedenheit der Zielrichtungen des verwaltungsgerichtlichen und des familiengerichtlichen Verfahrens sind auch die Verfahrensbeteiligten unterschiedlich. Im Übrigen muss den Sorgeberechtigten auch im Rahmen des einstweiligen Rechtsschutzes ein effektives und schnelles Rechtsmittel zur Verfügung stehen.
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Insofern kann bei der Anrufung des Familiengerichts im Rahmen des § 42 Abs. 3 Satz 2 Nr. 2 SGB VIII nicht von einer Sonderrechtswegzuweisung gesprochen werden. Vielmehr handelt es sich hierbei lediglich um eine formalisierte Information des Familiengerichts, das auch in derartigen Fällen originär nach § 23a Abs. 1 Satz 1 Nr. 1, Satz 2 GVG, § 151 FamFG von Amts wegen tätig zu werden hat, ohne dass es einer Sonderrechtswegzuweisung bedarf (ebenso als Folge einer Information des Familiengerichts durch das Jugendamt gemäß § 8a Abs. 2 Satz 1 SGB VIII über eine Gefährdung des Kindeswohls).
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Aus alledem ergibt sich unproblematisch die Eröffnung des Verwaltungsrechtsweges für alle Verfahren, die sich gegen die Inobhutnahmeentscheidung wenden, so auch im vorliegenden Fall. Insofern trifft auch nicht unbedingt der Begriff der „gekreuzten Rechtswege“ (Dürbeck in Wiesner/Wapler, SGB VIII, 6. Aufl. 2022, § 42 Rn. 70) die rechtlichen Vorgaben für den Rechtsschutz bei Inobhutnahme.
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b) Gemäß § 113 Abs. 1 Satz 4 VwGO ist die Fortsetzungsfeststellungsklage statthaft, soweit sich ein Verwaltungsakt nach Klageerhebung erledigt und der Kläger ein berechtigtes Interesse an der Feststellung der Rechtswidrigkeit des Verwaltungsaktes hat. Diese Fallkonstellation ist im vorliegenden Fall nicht gegeben, weil sich der Inobhutnahmebescheid vom 30. November 2022 bereits vor Klageerhebung erledigt hat, dies deshalb, weil der Beklagte die Inobhutnahme bereits mit Bescheid vom 20. Januar 2023 mit Wirkung zum 5. Januar 2023 beendet hat. Konsequenterweise haben die Kläger mit ihrem Klageschriftsatz vom 20. Januar 2023 keine Anfechtungsklage, sondern von vorneherein eine Fortsetzungsfeststellungsklage erhoben.
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Allerdings ist die Fortsetzungsfeststellungsklage auch dann analog § 113 Abs. 1 Satz 4 VwGO statthaft, wenn die Erledigung vor Klageerhebung eingetreten ist (Schübel-Pfister in Eyermann, VwGO, 16. Aufl. 2022, § 113 Rn. 97 m.w.N.). So liegt der Fall hier.
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Weitere Voraussetzung für die Zulässigkeit der Fortsetzungsfeststellungsklage ist das Vorliegen eines berechtigten Interesses, also eines besonderen Feststellungsinteresses. Hierfür kommt ein berechtigtes Interesse rechtlicher, wirtschaftlicher oder ideeller Art in Betracht (st. Rspr.; vgl. BVerwG, U.v. 16.5.2013 – 8 C 14/12 – beckOK Rn. 20 m.w.N.; Schübel-Pfister in Eyermann, VwGO, 16. Auflage 2022, § 113 Rn. 108 f.). Ein solches liegt nach den in der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts entwickelten Konstellationen insbesondere vor, wenn eine hinreichend konkrete Wiederholungsgefahr, ein Genugtuungs- oder Rehabilitationsinteresse oder eine Fortdauer von Grundrechtsbeeinträchtigungen besteht (vgl. BVerwG, B.v. 26.7.2011 – 1 WB 13.11 – beckOK Rn. 19; Schübel-Pfister, a.a.O. Rn. 111). Das von § 113 Abs. 1 Satz 4 VwGO geforderte besondere Interesse an der Feststellung der Rechtswidrigkeit der Inobhutnahme vom 30. November 2022 haben die Kläger hinreichend dargelegt. Vorliegend besteht ein Rehabilitationsinteresse.
54
Hat ein Verwaltungsakt außer seiner – erledigten – belastenden Wirkung zusätzlich einen diskriminierenden, ehrenrührigen Inhalt, der dem Ansehen des Betroffenen abträglich ist, so kann das ideelle Interesse an einer Rehabilitierung, also an der Beseitigung dieser Rufminderung, eine Fortsetzungsfeststellungsklage rechtfertigen, wenn es nach der Sachlage als schutzwürdig anzuerkennen ist (BVerwG, U.v. 9.2.1967 – I C 49.64 – BVerwGE 26, 161; BVerwG, U.v. 21.11.1980 – 7 C 18/79 – BVerwGE 61, 164; BVerwG, B.v. 17.12.2001 – 6 B 61/01 – NVwZ-RR 2002, 323). Hierfür genügt allerdings nicht ein abstraktes Interesse an der endgültigen Klärung der Frage der Rechtmäßigkeit oder Rechtswidrigkeit eines erledigten Verwaltungshandelns ohne Rücksicht darauf, ob abträgliche Nachwirkungen dieses Handelns fortbestehen, denen durch eine gerichtliche Sachentscheidung wirksam begegnet werden könnte (BVerwG, U.v. 21.11.1980 – 7 C 18/79 – BVerwGE 61, 164). Auch der Wunsch nach Genugtuung reicht nicht aus (BVerwG, B.v. 4.3.1976 – I WB 54/74 – BVerwGE 53, 134; VGH BW, U.v. 8.5.1989 – 1 S 722/88 – NVwZ 1990, 378). Vielmehr besteht mit Blick auf Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG ein berechtigtes ideelles Interesse an einer Rehabilitierung nur, wenn sich aus der angegriffenen Maßnahme eine Stigmatisierung des Betroffenen ergibt, die geeignet ist, sein Ansehen in der Öffentlichkeit oder im sozialen Umfeld herabzusetzen (BVerwG, U.v. 16.5.2013 – 8 C 14/12 – BVerwGE 146, 303). Diese Stigmatisierung muss Außenwirkung erlangt haben und noch in der Gegenwart andauern (Schübel-Pfister, a.a.O., § 113 Rn. 119).
55
Die vorliegende Inobhutnahme der beiden Kinder stellt einen erheblichen Eingriff in die Rechte der Kläger aus Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG und Art. 8 EMRK dar. Die Maßnahme hat neben der grundrechtlichen Schwere auch eine nach außen wirkende Stigmatisierung zur Folge, nämlich dahingehend, der Sorge um die eigenen Kinder nicht mächtig zu sein bzw. sogar eine Gefahr für die Kinder darzustellen. Gerade im Hinblick auf den umfassenden Schutz des Art. 6 Abs. 2 GG bzw. die sehr weiten elterlichen Bestimmungsrechte im Hinblick auf ihre Kinder erscheint die staatliche Inobhutnahme als ultima ratio, die zugleich eine erhebliche Unfähigkeit der betroffenen Eltern zum Ausdruck bringt. Hinzu kommt vorliegend, dass die Inobhutnahme im Krankenhaus und damit für unbeteiligte Dritte hör- und sichtbar erfolgte. Die Inobhutnahme war damit auch erweislich geeignet, das Ansehen der Kläger in der Öffentlichkeit herabzusetzen. Sie wirkt zudem in die Gegenwart fort, weil die Kinder der Kläger letztlich weiterhin nicht in deren Haushalt und unter ihre Sorge zurückgekehrt sind und es für Dritte nicht erkennbar ist bzw. faktisch keine Rolle spielt, auf welcher rechtlichen Grundlage bzw. aufgrund welchen behördlichen Zuständigkeiten dieser Zustand besteht.
56
Damit haben die Kläger ein berechtigtes Interesse an ihrer Rehabilitierung.
57
c) Die Klage ist nicht etwa deswegen unzulässig, weil der Inobhutnahmebescheid vom 30. November 2022 in seiner schriftlichen Gestalt vom 8. Dezember 2022 bereits vor Klageerhebung bestandskräftig geworden wäre.
58
Erledigt sich – wie im vorliegenden Fall – der angegriffene Verwaltungsakt vor der Erhebung der Fortsetzungsfeststellungsklage, so ist diese nur dann zulässig, wenn der Verwaltungsakt noch nicht bestandskräftig geworden ist. Hat sich demgegenüber der Verwaltungsakt erst nach Ablauf der Widerspruchsfrist erledigt und ist vor Fristablauf kein Widerspruch eingelegt worden, so ist Bestandskraft eingetreten und die Klage analog § 113 Abs. 1 Satz 4 VwGO ist unzulässig (Schübel-Pfister in Eyermann, VwGO, 16. Aufl. 2022, § 113 Rn. 97 m.w.N.).
59
Im vorliegenden Fall haben die Kläger rechtzeitig und formgerecht Widerspruch gegen den Bescheid vom 30. November 2022 erhoben.
60
Dies ergibt sich allerdings nicht schon aus ihrer formlosen Mail vom 1. Dezember 2022. Zwar haben die Kläger hiermit einer Mitarbeiterin des Jugendamts der Beklagten mitgeteilt, sie widersprächen der Inobhutnahme ihrer Kinder durch das Jugendamt und sie seien damit nicht einverstanden. Unabhängig von der Frage, ob es sich hierbei um einen – formlos zulässigen (vgl. hierzu Trenczek/Beckmann in Frankfurter Kommentar, SGB VIII, 9. Aufl. 2022, § 42 Rn. 51) – Widerspruch i.S.d. § 42 Abs. 3 Satz 2 SGB VIII handelt, der als Konsequenz das Jugendamt dazu zwingt, entweder das Kind herauszugeben oder eine Entscheidung des Familiengerichts herbeizuführen, oder ob ein Widerspruch i.S.d. §§ 68 ff. VwGO gemeint war, würde diesem Widerspruch jedenfalls die für die Einlegung des Widerspruchs i.S.d. §§ 68 ff. VwGO erforderliche Form fehlen. Denn nach § 70 Abs. 1 Satz 1 VwGO ist hierfür die Schriftform erforderlich. Die Schriftform erfordert eine eigenhändige Unterschrift (Wöckel in Eyermann, VwGO, 16. Aufl. 2022, § 70 Rn. 2), die im vorliegenden Fall auf der Mail vom 1. Dezember 2022 nicht vorhanden ist. Demgegenüber kann gemäß § 36a Abs. 2 Satz 4 Nr. 2 SGB I die Schriftform durch Versendung eines elektronischen Dokuments an die Behörde mit der Versandart nach § 5 Abs. 5 des De-Mail-Gesetzes erfolgen. Dies ist vorliegend ersichtlich nicht der Fall.
61
Allerdings haben die Kläger der Sache nach im Verfahren W 3 S 23.1888 schriftlich Widerspruch gegen den Bescheid vom 30. November 2022 erhoben. Denn in diesem Verfahren hat der vormalige Bevollmächtigte der Kläger am 13. Dezember 2022 ein Schreiben vorgelegt, dem als Anlage die schriftliche Fassung des Bescheides vom 30. November 2022 vom 8. Dezember 2022 beigefügt war. Auf dessen letzter Seite im Bereich der Rechtsbehelfsbelehrungfindet sich der handschriftlich angebrachte Satz: „Wir haben bereits schriftlich und vorher mündlich Widerspruch erhoben“. Dieser Text ist mit dem Datum „30.11.2022“ versehen. Zugleich ist eine Unterschrift beigefügt, die ersichtlich diejenige des Klägers ist. Die Kläger haben in der mündlichen Verhandlung bestätigt, dass der Kläger Urheber dieser handschriftlichen Notiz ist und er sie auch im Namen der Klägerin angebracht hat. Damit haben die Kläger innerhalb der einmonatigen Widerspruchsfrist die Schriftform nachgeholt und zum Ausdruck gebracht, dass sie einen Widerspruch gegen den Bescheid vom 30. November 2022, verschriftlicht am 8. Dezember 2022, erheben wollten. Diesen Widerspruch hat das Gericht an die Beklagte weitergeleitet. Damit ist der Bescheid vom 30. November 2022 bei Erhebung der Fortsetzungsfeststellungsklage noch nicht bestandskräftig gewesen, so dass die Fortsetzungsfeststellungsklage zulässig ist.
62
d) Die Klage ist auch nicht etwa deswegen unzulässig, weil im vorliegenden Fall das Amtsgericht – Familiengericht – Dieburg den Klägern vorläufig bestimmte Elternrechte entzogen hat, nämlich mit Beschluss vom 5. Dezember 2022 das Aufenthaltsbestimmungsrecht sowie die Gesundheitsfürsorge und mit Beschluss vom 14. Dezember 2022 das Recht zur Antragstellung nach dem Achten Buch Sozialgesetzbuch. Denn die Inobhutnahme betrifft nicht allein diese Teil-Elternrechte, sondern vor allem auch das aus Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG fließende umfassende Recht, sein Kind zu erziehen (BayVGH, B.v. 9.1.2017 – 12 CS 16.2181 – juris Rn. 5 und Rn. 6 m.w.N.).
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4. Die Klage ist jedoch unbegründet.
64
a) Die Beklagte war gemäß § 87 Satz 1 SGB VIII für die Inobhutnahme der Kinder örtlich zuständig, da sich diese vor Beginn der Maßnahme im Bereich der Beklagten, also in der Stadt Aschaffenburg, tatsächlich aufgehalten haben.
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b) Die angegriffene Inobhutnahme war rechtmäßig und hat die Kläger nicht in ihren Rechten verletzt (§ 113 Abs. 1 Satz 1, Satz 4 VwGO).
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Gemäß § 42 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGB VIII ist das Jugendamt berechtigt und verpflichtet, ein Kind oder einen Jugendlichen in seine Obhut zu nehmen, wenn eine dringende Gefahr für das Wohl des Kindes oder des Jugendlichen die Inobhutnahme erfordert und eine familiengerichtliche Entscheidung nicht rechtzeitig eingeholt werden kann.
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In diesem Zusammenhang ist der Gefahrenbegriff nach dem Maßstab des § 1666 BGB zu verstehen. Nach Abs. 1 Satz 1 dieser Vorschrift geht es um die Frage, ob das körperliche, geistige oder seelische Wohl des Kindes gefährdet wird und seine Eltern nicht gewillt oder in der Lage sind, die Gefahr abzuwenden. Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs (B.v. 6.2.2019 – XII ZB 408/18 – juris Rn. 18; B.v. 21.9.2022 – XII ZB 150/19 – juris LS 1 und Rn. 21) besteht eine derartige Gefährdung des Kindeswohls, wenn bei der weiteren Entwicklung der Dinge eine erhebliche Schädigung des geistigen oder leiblichen Wohls des Kindes mit hinreichender Wahrscheinlichkeit zu erwarten ist.
68
Dringend im Sinne der Vorschrift ist eine Gefahr dann, wenn im Zeitpunkt des behördlichen Vorgehens die Prognose getroffen werden kann, dass bei ungehindertem Ablauf des objektiv zu erwartenden Geschehens der Eintritt des Schadens hinreichend wahrscheinlich ist. Bloße Zweifel beispielsweise an der Erziehungsfähigkeit der Eltern genügen nicht. Vielmehr ist Voraussetzung, dass ein das Kind gravierend schädigendes Erziehungsversagen mit hinreichender Gewissheit feststeht, wobei allerdings nicht der Staat seine eigenen Vorstellungen von einer gelungenen Kindererziehung an die Stelle der elterlichen Vorstellungen setzen darf (Kirchhoff in Schlegel/Voelzke, juris-PK SGB VIII, 3. Aufl. 2022, Stand: 22.6.2023, § 42 Rn. 88).
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An die Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts sind dabei umso geringere Anforderungen zu stellen, je schwerer der drohende Schaden wiegt (Kirchhoff, a.a.O., § 42 Rn. 87). Die Annahme einer hinreichenden Wahrscheinlichkeit muss auf konkreten Verdachtsmomenten beruhen (BGH, B.v. 6.2.2019 – XII 408/18 – juris Rn. 19; B.v. 21.9.2022 – XII ZB 150/19 – juris LS 2 und Rn. 21 mit kritischen Hinweisen für die Praxis in JAmt 2023, 84).
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Die dringende Gefahr muss darüber hinaus stets eine konkrete Gefahr sein; aus konkreten Tatsachen muss erkennbar sein, dass bei einer weiteren Entwicklung eine erhebliche Schädigung mit ziemlicher Sicherheit zu erwarten ist. Dringend im Sinne des § 42 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGB VIII ist die Gefahr also dann, wenn damit zu rechnen ist, dass der Schaden in naher Zukunft eintritt, wenn ihre Beseitigung also bereits vor einer möglichen familiengerichtlichen Entscheidung erforderlich ist (Kirchhoff in Schlegel/Voelzke, juris-PK SGB VIII, 3. Aufl. 2022, Stand: 22.6.2023, § 42 Rn. 90; Trenczek in Frankfurter Kommentar SGB VIII, 9. Aufl. 2022, § 42 Rn. 21).
71
Neben dem Vorliegen einer dringenden Gefahr setzt § 42 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGB VIII die Erforderlichkeit der Inobhutnahme voraus. Diese ist nur dann gegeben, wenn allein die Inobhutnahme das Kindeswohl sichern kann und andere, weniger einschneidende Maßnahmen nicht zur Verfügung stehen. Dies wäre z.B. auch dann der Fall, wenn das Jugendamt in der Lage ist, die Gefährdung dadurch abzuwenden, dass es sich rechtzeitig durch das Familiengericht das Aufenthaltsbestimmungsrecht als Ergänzungspfleger übertragen lässt (Kirchhoff, a.a.O., Rn. 100).
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aa) Im vorliegenden Fall bestand im Zeitraum der Inobhutnahme eine dringende Gefahr für das Wohl der Kinder M … und E … Für das Kind M … ergibt sich dies aus Folgendem:
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Erstmals sind bei dem Kind am 24. November 2022 im Rahmen der U 3-Vorsorge Hämatome dokumentiert worden. Zu diesem Zeitpunkt habe sich das Kind in gutem Allgemeinzustand befunden. Dies ergibt sich aus der Stellungnahme der Fachärzte für Kinder- und Jugendmedizin M., G. und Kollegen vom 20. Dezember 2022. Bei der Aufnahme des Kindes in das Klinikum A …- … am 30. November 2022 ergaben sich die Diagnosen dringender Verdacht auf nicht akzidentelles Trauma, subdurale Hämatome, zystische subcortikale Parenchymdefekte beidseits hochfrontal und temporopolar und multiple geformte Hämatome. Dies ergibt sich aus dem vorläufigen Arztbrief vom 14. Dezember 2022. Der Aufnahmebefund ergab einen reduzierten Allgemeinzustand mit multiplen Hämatomen an den Wangen, Armen, Beinen, Rücken und Bauch. Das Kind zeigte sich neurologisch auffällig mit Wechsel aus Apathie und schrillem Schreien, die große Fontanelle war deutlich gewölbt. Eine Schädelsonographie ergab den dringenden Verdacht auf Subduralblutungen. Das Alter der Hämatome wurde mit mindestens drei Tagen angegeben, zusätzliche fanden sich frischere Einblutungen. Es wurde die Diagnose Schütteltraumasyndrom gestellt. Eine plausible Differenzialdiagnose konnte nicht gesehen werden. Weiter ist im Arztbericht ausgeführt, ein Schütteltrauma erfordere massives und gewaltsames Hin- und Herschütteln des Säuglings. Laien sei das potenziell Lebensgefährliche dieser Handlung aufgrund der Schwere des Schüttelns durchaus bewusst. Aus dem endgültigen Arztbrief des Klinikums A …- … vom 11. Januar 2023 ergibt sich ergänzend auf der Grundlage der Durchführung eines MRT eine Rippenserienfraktur links, eine für Kindesmisshandlung hochspezifische Verletzung. Es ergaben sich keine Anhaltspunkte für zwischenzeitlich stattgehabte erneute Einblutungen im Gehirn.
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Aus alledem ergibt sich, dass das Kind M … bei seiner Aufnahme in das Klinikum massive und lebensgefährliche Verletzungen aufwies.
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Gemäß der Mitteilung der Leitenden Oberärztin M. hätten die Kläger keine Erklärung für die Verletzungen abgeben können. Gegenüber den Mitarbeitenden des Jugendamts der Beklagten haben die Kläger angegeben, sie könnten sich die Entstehung der Verletzungen nicht erklären. Außer von ihnen selbst sei das Kind von keiner anderen Person allein betreut worden. Allerdings habe der Kläger die Kinder hochgeworfen.
76
Angesichts der lebensgefährlichen Verletzungen des Kindes und der fehlenden plausiblen Erklärungen der Kläger für diesen Zustand hat das Jugendamt der Beklagten zu Recht eine dringende Gefahr für das Wohl des Kindes angenommen. Denn es ist nicht einmal ansatzweise nachvollziehbar, dass ein Kind derartig schwere Verletzungen erleiden könnte, ohne dass dessen Eltern Anhaltspunkte für deren Ursache hätten, zumal diese angegeben haben, das Kind sei von keiner anderen Person allein betreut worden. Die Einlassung des Klägers, er habe die Kinder hochgeworfen, kann nicht als Erklärung für die massiven Verletzungen des Kindes M … akzeptiert werden. Dies ergibt sich schon daraus, dass der Kläger diese Behauptung für beide Kinder aufgestellt hat, das Kind E. jedoch im Gegensatz zum Kind M … keine körperlichen Verletzungen aufweist. Zudem geht aus dem zitierten Arztbrief hervor, dass ein massives und gewaltsames Hin- und Herschütteln des Säuglings erforderlich ist, um derartige Verletzungen zu erzeugen. Dies hat mit einem spielerischen Hochwerfen und Auffangen nicht einmal ansatzweise etwas zu tun. Zu Recht hat damit das Jugendamt der Beklagten angenommen, dass die Verletzungen im Verantwortungsbereich der Kläger entstanden sind. Zudem hat es zu Recht angenommen, dass sich diese dringende Gefahr für das Wohl des Kindes fortsetzen wird, sollten die Kläger erneut ohne entsprechende Aufsicht mit dem Kind zusammen sein. Gerade angesichts der erheblichen Schwere der Verletzungen sind an die Wahrscheinlichkeit eines erneuten Schadenseintritts geringe Anforderungen zu stellen, zumal die Kläger nicht einmal ansatzweise mögliche Gründe für die Herkunft der Verletzungen benennen konnten oder wollten.
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Damit war am 30. November 2022 eine dringende Gefahr für das Wohl des Kindes gegeben. Diese hat sich bis zur Beendigung der Inobhutnahme am 5. Januar 2023 fortgesetzt. Denn bis zu diesem Zeitpunkt waren die Kläger weiterhin nicht fähig bzw. bereit, über die Herkunft der Verletzungen Auskunft zu geben und damit eine plausible Möglichkeit in den Raum zu stellen, dass sie selbst nicht für die Herkunft der Verletzungen verantwortlich sein könnten. Zu Recht hat deshalb das Jugendamt auch bis zum 5. Januar 2023 eine dringende Gefahr für das Wohl des Kindes angenommen, sollte es sich ohne Aufsicht allein mit seinen Eltern, den Klägern, aufhalten.
78
Für das Kind E … ergibt sich die dringende Gefahr für ihr Wohl aus Folgendem:
79
Zwar konnten bei dem Kind entgegen dem Zustand ihres Bruders keinerlei physischen Verletzungen festgestellt werden. Allerdings durfte hieraus nicht geschlossen werden, dass bei E … im Gegensatz zu M … keine dringende Gefahr für ihr Wohl bestand. Dies ergibt sich daraus, dass die Kläger bei den entsprechenden Befragungen im Klinikum A …- … am 30. November 2022 zunächst durch die Leitende Oberärztin M. und anschließend durch die Mitarbeitenden des Beklagten einerseits angegeben haben, sie könnten sich die Entstehung der Verletzungen von M … nicht erklären; andererseits haben sie in diesem Zusammenhang angegeben, die Betreuung der Kinder sei ausschließlich durch sie selbst erfolgt. Hat aber der Bruder von E … unter der ausschließlichen Obhut der Kläger lebensgefährliche Verletzungen erlitten, deren Herkunft die Kläger nicht einmal ansatzweise plausibel erklären konnten, so war die Ursache für die Entstehung dieser Verletzungen für die Beklagte nicht klar erkennbar; es bestand demgegenüber der dringende Verdacht, dass die Verletzungen von den Klägern selbst herrührten, dies mit der Folge eines entsprechenden staatsanwaltschaftlichen Ermittlungsverfahrens. In dieser Situation konnte die Beklagte zu Recht nicht mit hinreichender Sicherheit ausschließen, dass das Kind E … vergleichbare lebensgefährliche Verletzungen erleiden könnte, sollte es weiter in der Obhut der Kläger verbleiben. Gerade angesichts der besonderen Schwere der Verletzungen bei M …, die ein lebensgefährliches Ausmaß erreicht hatten, durfte die Beklagte an die Wahrscheinlichkeit eines Schadenseintritts bei E … geringe Anforderungen stellen. Vorliegend waren vergleichbare Verletzungen nicht auszuschließen. Die Einlassung der Kläger, der Kläger habe einen „festen Griff“ und habe „die Kinder manchmal spielerisch hochgeworfen und aufgefangen“ (vgl. Arztbrief des Klinikums A …- … vom 11.1.2023, Verlauf) überzeugt nicht einmal ansatzweise. Vielmehr ist die Erläuterung im genannten Arztbericht nachvollziehbar, ein – hier vorliegendes – Schütteltrauma erfordere massives und gewaltsames Hin- und Herschütteln des Säuglings. Laien sei das potenziell lebensgefährliche dieser Handlung aufgrund der Schwere des Schüttelns durchaus bewusst. In Anbetracht dieser konkreten Umstände hat die Beklagte zu Recht am 30. November 2022 eine dringende Gefahr für das Wohl des Kindes E … angenommen. Diese bestand auch bis zur Beendigung der Inobhutnahme am 5. Januar 2023 fort. Dies ergibt sich daraus, dass die Kläger auch im weiteren Verlauf keinerlei plausible Erklärungen für die Verletzungen von M … geben konnten. Vielmehr haben sie auch im Gespräch mit der vom Familiengericht bestellten Verfahrensbeiständin am 8. Dezember 2022 mehrmals erklärt, es sei zu keinem Unfall oder Gewalt gegen den Säugling gekommen, die Betreuung sei ausschließlich durch sie, die Kindseltern, erfolgt (vgl. Bericht der Verfahrensbeiständin B. an das Amtsgericht – Familiengericht – Dieburg vom 12.12.2022). Angesichts der gesamten Umstände hat die Beklagte zu Recht vom Zeitpunkt der Inobhutnahme bis zu deren Beendigung eine dringende Gefahr für das Wohl des Kindes E … angenommen.
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bb) Lag aber vom 30. November 2022 bis zum 5. Januar 2023 eine dringende Gefahr für das Wohl der Kinder M … und E … vor, so war die Inobhutnahme auch erforderlich. Denn der dringenden Gefahr für das Wohl der Kinder konnte nur dann effektiv begegnet werden, wenn auszuschließen war, dass die Kläger sich allein mit den Kindern aufhalten. Dies war schon während des Aufenthalts der Kinder im Klinikum A …- … nicht möglich. Denn es ist nachvollziehbar, dass das Klinikum selbst keine dauerhafte Aufsicht stellen konnte, die eine lückenlose Überwachung des Zusammenseins der Kinder mit den Klägern hätte gewährleisten können. Gleiches gilt für den Aufenthalt der Kinder gemeinsam mit den Klägern in deren Wohnung. Zwar haben die Kläger vorgetragen, die Mutter des Klägers könne hier helfend zur Seite stehen. Allerdings wäre auch dies keinerlei Gewähr für eine lückenlose Beaufsichtigung der Kläger im Zusammensein mit den Kindern. Andere mildere Mittel zum Schutz der Kinder standen der Beklagten nicht zur Verfügung. Auch die Kläger haben keinerlei andere effektive mildere Schutzmechanismen angeboten, die das Wohl der Kinder hätten wahren können. Dies ergibt sich schon aus dem Erfordernis, keinerlei zeitliche Räume zuzulassen, in denen die Kläger mit ihren Kindern unbeaufsichtigt sind. Hieran kann auch die so genannte „Sorgerechtsverfügung“ der Kläger vom 1. Dezember 2022 nichts ändern. Unabhängig von deren Anwendbarkeit auf den vorliegenden Fall (vgl. hierzu die Ausführungen des Amtsgerichts – Familiengericht – Dieburg im Beschluss vom 14.12.2022 im Verfahren 50 F 739/22 EASO zum Wirksamwerden der Bestimmung erst mit dem Tod beider Elternteile) könnte auch die Umsetzung der in dieser Sorgerechtsverfügung angegebenen Wünsche nicht zuverlässig ausschließen, dass die Kläger ohne weitere Aufsicht mit ihren Kindern zusammen sind.
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cc) Angesichts dieser Situation konnte eine familiengerichtliche Entscheidung nicht rechtzeitig eingeholt werden, denn die dringende Gefahr für das Wohl der Kinder musste unmittelbar nach deren Zu-Tage-Treten im Klinikum A …-A … abgewendet werden. Die Einholung einer familiengerichtlichen Entscheidung hätte demgegenüber einige Tage Zeit in Anspruch genommen. Dies wird aus den tatsächlichen zeitlichen Abläufen deutlich. Denn auf der Grundlage der Anrufung des Familiengerichts mit Schreiben vom 2. Dezember 2022 hat dieses zwar bereits am 5. Dezember 2022 den Klägern das Aufenthaltsbestimmungsrecht sowie die Gesundheitsfürsorge für ihre beiden Kinder entzogen; allerdings wäre dies nicht rechtzeitig im Sinne des § 42 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 Buchst. b) SGB VIII gewesen, da die dringende Gefahr für das Wohl der Kinder unmittelbar drohte und hinsichtlich ihres Schutzes kein zeitlicher Aufschub hingenommen werden konnte. Auf der Grundlage der Beschlüsse des Familiengerichts vom 5. Dezember 2022 und vom 14. Dezember 2022 hat die Beklagte beim zuständigen Landkreis Da.-Di. die Gewährung von Jugendhilfe in Form der Unterbringung in eine Pflegestelle gemäß § 33 SGB VIII beantragt; diesem Antrag ist mit Wirkung zum 5. Januar 2023 stattgegeben worden, so dass die Beklagte die Inobhutnahme mit Bescheid vom 20. Januar 2023 mit Wirkung zum 5. Januar 2023 beendet hat. Somit war die Inobhutnahme bis zu diesem Zeitpunkt erforderlich, da erst zum 5. Januar 2023 die familiengerichtliche Entscheidung umgesetzt werden konnte.
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5. Aus alledem ergibt sich die Rechtmäßigkeit der Inobhutnahme der Kinder M … und E … vom 30. November 2022 bis zum 5. Januar 2023.
83
Damit war die Klage zur Gänze mit der Kostenfolge aus § 154 Abs. 1, § 188 Satz 2 VwGO abzuweisen.