Titel:
rechtmäßige Ausweisung bei fehlendem Vander Elst-Visum
Normenketten:
AufenthG § 53 Abs. 1, § 54 Abs. 2 Nr. 9, § 95 Abs. 1 Nr. 3
AEUV Art. 56 Abs. 1
Leitsatz:
Die Einreise und Ausübung einer Beschäftigung durch einen als Arbeitnehmer in ein anderes EU-Mitgliedsland entsandten Drittstaatsangehörigen ohne das erforderliche sog. Vander Elst-Visum begründet selbst dann ein schwerwiegendes Ausweisungsinteresse, wenn die materiell rechtlichen Voraussetzungen für die Erteilung eines solchem Visums tatsächlich vorgelegen haben sollten. (Rn. 22 – 25) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Ausweisung, Antrag teilweise unzulässig, Nichteinholung eines Vander, Elst-Visums als Ausweisungsgrund, Vander Elst-Visum, schwerwiegendes Ausweisungsinteresse, Geringfügigkeitsschwelle, Nachholung des Visum-Verfahrens, Dienstleistungsfreiheit
Fundstelle:
BeckRS 2023, 21054
Tenor
I. Der Antrag wird abgelehnt.
II. Der Antragsteller hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
III. Der Streitwert wird auf 2.500,00 EUR festgesetzt.
Gründe
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Der am ... 1993 geborene Antragsteller, albanischer Staatsangehöriger, begehrt die Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung der Klage gegen seine Ausweisung.
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Der Antragsteller ist im Besitz eines bis zum 2. Januar 2024 befristeten kroatischen Aufenthaltstitels. Er reiste am 8. Juni 2023 in das Bundesgebiet ein und wurde am 15. Juni 2023 vom Zoll bei der Arbeit auf einer Baustelle im örtlichen Zuständigkeitsbereich der Antragsgegnerin angetroffen, ohne im Besitz eines nationalen Aufenthaltstitels oder einer Beschäftigungserlaubnis zu sein.
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Nach Anhörung wies die Antragsgegnerin ihn mit Bescheid vom 16. Juni 2023 aus (Ziffer 1 Satz 1), befristete die Wirkung der Ausweisung auf vier Jahre ab Ausreise oder Abschiebung (Ziffer 1 Satz 2), forderte den Antragsteller zur Ausreise bis zum 23. Juni 2023 auf (Ziffer 2 Satz 1) und drohte ihm die Abschiebung nach Albanien oder Kroatien an, sollte er die Ausreisefrist nicht einhalten (Ziffer 2 Satz 2). Die sofortige Vollziehbarkeit von Ziffer 1 wurde angeordnet (Ziffer 3). Für die weiteren Einzelheiten wird auf den Bescheid vom 16. Juni 2023 Bezug genommen, der dem Antragsteller am gleichen Tag persönlich ausgehändigt wurde.
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Dagegen ließ der Antragsteller am 15. Juli 2023 Klage zum Bayerischen Verwaltungsgericht Würzburg erheben und ließ zugleich im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes beantragen,
die aufschiebende Wirkung der Klage gegen den Bescheid vom 16. Juni 2023 hinsichtlich der Ausweisungsverfügung nach § 80 Abs. 5 Alt. 2 VwGO wiederherzustellen und hinsichtlich des Einreise- und Aufenthaltsverbots sowie der Abschiebungsandrohung nach § 80 Abs. 5 Alt. 1 VwGO anzuordnen.
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Zur Begründung wurde im Wesentlichen vorgetragen, dass der Antragsteller in Kroatien bei einem dort ansässigen Unternehmen als Hilfsarbeiter beschäftigt sei und sein Arbeitsgeber ihn vorübergehend zu Montagearbeiten auf der am 15. Juni 2023 kontrollierten Baustelle entsandt habe. Sein Arbeitgeber sei auf der Grundlage eines von der Europäischen Kommission herausgegebenen Leitfadens davon ausgegangen, dass der Antragsteller ohne Kenntnis oder Beteiligung der deutschen Behörden eine Erwerbstätigkeit auf einer Baustelle in Deutschland ausüben dürfe. Dies beruhe auf der sog. Vander Elst-Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs. Der Arbeitgeber, der sich stets um alle Formalitäten der Arbeitnehmer kümmere, habe dies auch so mit dem Antragsteller erörtert. Die Anordnung der sofortigen Vollziehung genüge schon nicht den formellen Erfordernissen des § 80 Abs. 3 Satz 1 VwGO, weil sie nur formularmäßig und völlig allgemein gehalten sei. Dem Eilantrag sei auch aus materiellen Gründen stattzugeben. Ein öffentliches Interesse am Vollzug der Ausweisung bestehe nicht. Es liege kein schweres Ausweisungsinteresse i.S.v. § 54 Abs. 2 Nr. 9 AufenthG vor. Eine Ordnungswidrigkeit gem. § 404 Abs. 2 Nr. 4 SGB III i.V.m. § 4a Abs. 4 AufenthG liege nicht vor. Der Antragsteller habe sich hinsichtlich dem Erfordernis eines Vander Elst-Visums aufgrund der Belehrung durch seinen Arbeitgeber und des Leitfadens der Europäischen Kommission in einem unvermeidbaren Verbotsirrtum befunden, jedenfalls sei der Rechtsverstoß nur als gering anzusehen, weil er zum Zeitpunkt der Tatbegehung die Erteilung eines Vander Elst-Visums hätte beanspruchen können und sein Aufenthalt deshalb lediglich formell rechtswidrig gewesen sei. Auch die Gefahrenprognose sei fehlerhaft. Es seien keine hinreichenden Anhaltspunkte erkennbar, dass der Antragsteller erneut ohne erforderliches Visum zur Erwerbstätigkeit nach Deutschland einreisen werde. Die Ausweisung sei auch unverhältnismäßig, weil eine Ausreiseaufforderung zur Nachholung des Vander Elster-Visumverfahrens zur Verfügung gestanden habe. Da der Antragsteller bereit sei, freiwillig auszureisen, fehle es auch am besonderen öffentlichen Interesse für den Sofortvollzug. Für die weiteren Einzelheiten wird auf den Schriftsatz vom 15. Juli 2023 Bezug genommen.
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Die Antragsgegnerin beantragt,
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Zur Begründung trägt sie im Wesentlichen vor, die Anordnung der sofortigen Vollziehung stelle auf den konkreten Einzelfall ab und sei nicht lediglich formelhaft. Dass die Begründung in den gegen die Antragsteller in den Verfahren W 7 S 23.977, W 7 S 23.979 und W 7 S 23.981 verfahrensgegenständlichen Bescheiden gleich laute, liege daran, dass es sich um im Wesentlichen gleichgelagerte Fälle handele. Die Ausweisung des Antragstellers sei rechtmäßig. Es liege ein schweres Ausweisungsinteresse gem. § 54 Abs. 2 Nr. 9 AufenthG vor. Der Tatbestand des § 95 Abs. 1 Nr. 3 AufenthG sei erfüllt. Die Einreise ohne ein Vander Elst-Visum stelle nicht nur einen geringfügigen Verstoß gegen Rechtsvorschriften dar. Die Dienstleistungsfreiheit verleihe keinen Anspruch auf freien Zugang in die Bundesrepublik Deutschland. Das Vander Elst-Visum diene der Missbrauchskontrolle. Es begründe erst das Recht zur Einreise und dokumentiere nicht lediglich einen bestehenden Rechtszustand. Von der offenkundigen Missbrauchsgefahr abgesehen, sei ein solch faktischer Verzicht auf das Visumsverfahren systemisch so weitreichend, dass dies dem Bundesgesetzgeber vorbehalten sei oder eine explizite Feststellung durch den Europäischen Gerichtshof erfordere. Nach Auskunft der deutschen Botschaft in Zagreb sei es in der Vergangenheit auch immer möglich gewesen, einen Termin zu buchen. Die Wartezeit betrage in der Regel eine Woche. Auch die deutsche Botschaft in Tirana stelle regelmäßig Termine für Vander Elst-Visaanträge zur Verfügung. Ein Verbotsirrtum gem. § 11 Abs. 2 OWiG bzw. § 17 Satz 1 StGB scheide schon deshalb aus, weil der Antragsteller aufgrund einer Kontrolle vom 31. Januar 2019 wusste, dass er zur Einreise und Erwerbstätigkeit eines Visums bedürfe. Eine fehlerhafte Belehrung durch seinen Arbeitgeber scheide auch deshalb aus, weil sich der Arbeitgeber spätestens seit 2021 über die Notwendigkeit eines Visums im Klaren gewesen sei, als die deutsche Auslandsvertretung in Zagreb fünf aus seinem Unternehmen stammende Vander Elst-Visaanträge abgelehnt habe. In diesen Verfahren seien sowohl das im vorliegenden Fall entsendende kroatische Unternehmen als auch das im vorliegenden Fall aufnehmende deutsche Unternehmen beteiligt gewesen. Zudem habe die Stadt Landshut das hier entsendende Unternehmen im Herbst 2022 in einem vergleichbaren Fall über die Notwendigkeit eines Visums belehrt. Auch das Ermessen sei rechtmäßig ausgeübt worden. Sämtliche verfügbaren Umstände seien berücksichtigt worden. Der Antragsteller habe keinerlei Angaben gemacht, die auf ein Bleibeinteresse hätten hindeuten können. Die Ausweisung sei nicht unverhältnismäßig. Der Verweis auf eine freiwillige Ausreise und die Nachholung des Visumsverfahrens wären sowohl für den Antragsteller als auch für das entsendende Unternehme Anlass, das Visumsverfahren auch zukünftig weiterhin zu umgehen. Für die weiteren Einzelheiten wird auf den Schriftsatz vom 25. Juli 2023 Bezug genommen.
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Mit Beschluss vom 17. Juli 2023 wurde vom Verfahren das Antragsbegehren der Antragsteller zu 2) bis 4) abgetrennt und als eigenständige Verfahren unten den Aktenzeichen W 7 S 23.977, W 7 S 23.979 und W 7 S 23.981 fortgeführt.
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Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstands wird auf den Inhalt der Gerichtssowie der vorgelegten Behördenakten Bezug genommen.
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Der Antrag nach § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO hat keinen Erfolg.
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Er ist teilweise bereits unzulässig.
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Soweit beantragt wird, die aufschiebende Wirkung der Klage gegen das Einreise- und Aufenthaltsverbots anzuordnen, geht der Antrag ins Leere, da ein Einreise- und Aufenthaltsverbot – auch entgegen den Ausführungen der Antragsgegnerin in der Begründung des Bescheides – tatsächlich nicht erlassen wurde. Ziffer 1 Satz 2 des verfahrensgegenständlichen Bescheides enthält lediglich eine Befristung der gesetzlichen Wirkung der Ausweisung, die sich jedoch in § 51 Abs. 1 Nr. 5 AufenthG erschöpft. Beim Einreise- und Aufenthaltsverbot handelt es sich nicht um eine gesetzliche Wirkung der Ausweisung. Es ist gem. § 11 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 Satz 1 AufenthG erst behördlich zu erlassen, so dass die im verfahrensgegenständlichen Bescheid in Ziffer 1 Satz 2 tenorierte Befristung nicht zu einem Einreise- und Aufenthaltsverbot führt.
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Hinsichtlich der Ausweisung sowie der Abschiebungsandrohung ist der Antrag auf Wiederherstellung bzw. Anordnung der wiederherstellenden Wirkung der Klage zulässig, jedoch unbegründet.
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Im Verfahren nach § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO trifft das Gericht eine eigene, originäre Entscheidung über die Anordnung bzw. Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung des Rechtsbehelfs in der Hauptsache aufgrund der sich im Zeitpunkt seiner Entscheidung darbietenden Sach- und Rechtslage. Das Gericht hat dabei das Aussetzungsinteresse des Antragstellers und das öffentliche Interesse an der sofortigen Vollziehbarkeit der angegriffenen Verwaltungsakte unter Berücksichtigung der Erfolgsaussichten des Rechtsbehelfs in der Hauptsache gegeneinander abzuwägen. Die Anordnung der aufschiebenden Wirkung ist in der Regel abzulehnen, wenn der Rechtsbehelf in der Hauptsache nach summarischer Prüfung voraussichtlich erfolglos bleiben wird und ein besonderes öffentliches Interesse an der sofortigen Vollziehbarkeit besteht.
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Nach diesem Maßstab überwiegt das öffentliche Vollzugsinteresse das Suspensivinteresse des Antragstellers, weil die Klage des Antragstellers voraussichtlich erfolglos bleiben wird.
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Die Anordnung des Sofortvollzug in Ziffer 3 des verfahrensgegenständlichen Bescheides ist formell nicht zu beanstanden. Insbesondere hat die Antragsgegnerin das besondere Interesse an der sofortigen Vollziehung ausreichend einzelfallbezogen begründet. Sie hat auf der Grundlage der ihr zur Verfügung stehenden -spärlichen – Informationen ausgeführt, dass dem Antragsteller zugemutet werden könne, die Entscheidung im Ausland abzuwarten. Sie stellt dabei konkret darauf ab, dass der Antragsteller lediglich zur Beschäftigung nach Deutschland eingereist sei. Damit nimmt sie hinreichend einzelfallorientiert Bezug darauf, dass der Antragsteller selbst weder ein Bleibeinteresse vorgetragen hat, noch ein solches nach Aktenlage ersichtlich wäre. Soweit sie ausführt, dass die durch die illegale Einreise des Antragstellers entstandene Störung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung ohne die Anordnung des Sofortvollzugs permanent weiter verwirklicht werde, handelt es sich nicht lediglich um eine pauschale Formulierung, sondern eine auf den konkreten Sachverhalt bezogenen Feststellung. Dies ergibt sich auch aus dem Hinweis, dass der Antragsteller nicht nur aufgrund der Ausweisung, sondern schon kraft Gesetzes zur Ausreise verpflichtet sei.
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Die Anordnung der sofortigen Vollziehung der in Ziffer 1 Satz 1 des Bescheids vom 16. Juni 2023 verfügten Ausweisung ist auch materiell rechtmäßig. Die Begründung des Antragsgegners trägt auch in der Sache.
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Insbesondere hat das Gericht keine Zweifel an der Rechtmäßigkeit der Ausweisungsanordnung.
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Nach § 53 Abs. 1 AufenthG wird ein Ausländer, dessen Aufenthalt die öffentliche Sicherheit und Ordnung, die freiheitliche demokratische Grundordnung oder sonstige erhebliche Interessen der Bundesrepublik Deutschland gefährdet, ausgewiesen, wenn die unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls vorzunehmende Abwägung der Interessen an der Ausreise mit den Interessen an einem weiteren Verbleib des Ausländers im Bundesgebiet ergibt, dass das öffentliche Interesse an der Ausreise überwiegt. Bei der Abwägung sind nach § 53 Abs. 2 AufenthG insbesondere die Dauer seines Aufenthalts, seine persönlichen, wirtschaftlichen und sonstigen Bindungen im Bundesgebiet und im Herkunftsstaat sowie die Folgen der Ausweisung für Familienangehörige und Lebenspartner und die Tatsache, ob sich der Ausländer rechtstreu verhalten hat, zu berücksichtigen. Dies ist im Rahmen einer umfassenden, originären Interessenabwägung des Gerichts festzustellen.
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Diese Voraussetzungen liegen vor. Das Gericht folgt der entsprechenden Begründung des streitgegenständlichen Bescheids sowie den Ausführungen in der Antragserwiderung vom 25. Juli 2023 (§ 117 Abs. 5 VwGO).
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Ergänzend ist Folgendes auszuführen:
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Die Einreise und Ausübung einer Beschäftigung durch einen als Arbeitnehmer in ein anderes EU Mitgliedsland entsandten Drittstaatsangehörigen ohne das gem. §§ 6 Abs. 3, 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1, 4a, 7 Abs. 1, 18 und 18a AufenthG i.V.m. § 21 BeschV notwendige Visum (sog. Vander Elst-Visum) erfüllt die objektiven Straftatbestände der § 95 Abs. 1 Nr. 2 i.V.m. § 4 Abs. 1 Satz 1 AufenthG, § 95 Abs. 1 Nr. 3 i.V.m. § 14 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG und § 95 Abs. 1a AufenthG i.V.m. § 404 Abs. 2 Nr. 4 SGB III.
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Da sich der Vorsatz nur auf die äußeren Tatumstände, nicht jedoch auf die Kenntnis der zugrunde liegenden Rechtsnormen bezieht, kann aus den konkreten Umständen geschlossen werden, dass beim Antragsteller auch die subjektiven Tatbestände erfüllt sind. Schon aufgrund seiner Erfahrung als drittstaatsangehöriger Arbeitnehmer in Kroatien kann gefolgert werden, dass ihm bewusst war, dass grenzüberschreitende Erwerbstätigkeit grundsätzlich mit aufenthaltsrechtlichen Anzeigepflichten und Genehmigungsvorbehalten verbunden sind. Dies folgt schon aus der vorgetragen Praxis, dass der Arbeitnehmer, sich immer um alle Formalitäten der entsendeten Arbeitnehmer kümmere. Ein Verbotsirrtum im Hinblick auf die Entbehrlichkeit der vorherigen Visumseinholung war auch unter Berücksichtigung der Herkunft und des mutmaßlichen Bildungsstandes des Antragstellers nicht unvermeidbar i.S.v. § 11 Abs. 2 OWiG bzw. § 17 StGB. Denn allein die Tatsache, dass der Arbeitgeber eines Ausländers sich immer um alle Formalitäten gekümmert habe, befreit Ausländer nicht von ihrer eigenen Pflicht, sich ordnungsgemäße Einreise- und Aufenthaltsdokumente zu beschaffen, sofern sie in einem anderen Mitgliedstaat der Europäischen Union erwerbstätig sein wollen (vgl. VG Darmstadt, B.v. 20.1.2021 – 6 L 1071/20.DA. bestätigend: Hess. VGH, B.v.22.4.2021 – 7 B 312/21, beide juris).
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Damit liegt auch dann ein nicht nur geringfügiger Verstoß gegen Rechtsvorschriften vor, der gem. § 54 Abs. 2 Nr. 9 AufenthG ein schwerwiegendes Ausweisungsinteresse begründet, wenn die materiell rechtlichen Voraussetzungen für die Erteilung eines solchem Visums tatsächlich vorgelegen haben sollten. Auch unter Berücksichtigung der gem. Art. 56 Abs. 1 AEUV primärrechtlich geschützten Dienstleistungsfreiheit überschreitet dieser Rechtsverstoß die Geringfügigkeitsschwelle des § 54 Abs. 2 Nr. 9 AufenthG (so auch VG Potsdam, B.v. 7.7.2020 – 8 L 660/20, juris; VG Darmstadt, a.a.O., Hess. VGH, a.a.O, VG Dresden, B.v. 11.7.2022 – 3 K 956/21, alle juris).
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Mit dem vereinfachten Anmeldungsverfahren zur Erlangung eines Vander Elst-Visums trägt das deutsche Recht den Anforderungen europarechtskonform Rechnung, die das europäische Sekundärrecht und die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs zur Gewährleistung der Dienstleistungsfreiheit für die nationalstaatliche Reglementierung konstituiert (statt vieler: Hess. VGH, a.a.O.). Auch die EU Richtlinien 96/71/EG (Arbeitnehmerentsende-Richtlinie) erkennt einen fairen Wettbewerb sowie Maßnahmen, die die Wahrung der Rechte der Arbeitnehmer garantieren, als Voraussetzung für eine Förderung des länderübergreifenden Dienstleistungsverkehrs ausdrücklich an (vgl. Erwägung Nr. 5). Bei dem Vander Elst-Visum handelt es sich deshalb nicht nur um ein europarechtlich zulässiges Anmeldungsverfahren. Da es eine wirksame Kontrolle der europarechtlichen Vorgaben erst effektiv ermöglicht, hat es auch die Funktion, den fairen Wettbewerb und die Wahrung der Arbeitnehmerrechte zu garantieren. Damit dient es der Verwirklichung der länderübergreifenden Dienstleistungsfreiheit im sekundärrechtlich durch die Richtlinien 96/71EG, 2014/67/EU und 2018/957/EU vorgegebenen Rechtsrahmen. Denn es befähigt den aufnehmenden Mitgliedstaat die rechtlich vorgegebenen Wettbewerbsbedingungen sowie die anwendbaren Arbeitnehmerrechte vor Ort gezielt zu überprüfen, ohne dass damit eine unverhältnismäßige Beeinträchtigung der Dienstleistungsfreiheit des entsendenden Arbeitgebers verbunden wäre. Mit dieser Schutz- und Kontrollfunktion unvereinbar wäre es, das Visumserfordernis als bloße Formalie anzusehen und dessen Fehlen lediglich als geringfügigen Verstoß gegen Rechtsvorschriften einzustufen. Es verbleibt deshalb auch im Lichte von Art. 56 Abs: 1 AEUV dabei, dass ein fehlendes Vander-Elst Visum als Ausweisungsgrund herangezogen werden kann.
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Auch hat das Gericht keine Zweifel am Bestehen der für eine Ausweisung notwendigen Wiederholungsgefahr. Schon angesichts einer lediglich selektiven Wiedergabe eines rechtlich unverbindlichen Leitfadens der Europäischen Kommission für den „international tätigen“ Arbeitgeber des Antragstellers, aus dem ein Irrtum über das bestehende Visumserfordernis hergeleitet wird, ist zu befürchten, dass der Antragsteller seitens eben dieses Arbeitgebers erneut ohne das erforderliche Visum in Deutschland eingesetzt wird und er dem aufgrund seiner wirtschaftlichen Abhängigkeit auch Folge leistet. Im Übrigen wird auf die von der Antragsgegnerin eingeholten Auskünfte des Auswärtigen Amtes vom 18. Juli 2023 und vom 19. Juli 2023 Bezug genommen.
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Die Ausweisung des Antragstellers ist schließlich auch unter Berücksichtigung der in § 53 Abs. 2 AufenthG normierten Kriterien sowie der in § 55 AufenthG vertypten und vorgewichteten Bleibeinteressen verhältnismäßig. Anhaltspunkte für ein über die illegale Beschäftigung hinausgehendes Bleibeinteresse des Antragstellers sind weder vorgetragen noch nach Aktenlage ersichtlich.
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Mithin hat das Gericht keine Zweifel an der Rechtmäßigkeit der Ausweisung des Antragstellers in Ziffer 1 Satz 1 des verfahrensgegenständlichen Bescheides. Die Befristung in Ziffer 1 Satz 2 tangiert deren Rechtmäßigkeit nicht und hat für den Antragsteller allenfalls begünstigende Wirkung. Ein Einreise- und Aufenthaltsverbot ist mangels entsprechender Tenorierung damit jedenfalls nicht verbunden (s.o.).
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Auch bezüglich der Abschiebungsandrohung gem. §§ 58 Abs. 1, 59 Abs. 1 AufenthG bestehen ebenfalls keine Bedenken.
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Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 VwGO; die Streitwertfestsetzung ergibt sich aus §§ 52 Abs. 1 und 2, 53 Abs. 2 Nr. 2, 63 Abs. 2 GKG i.V.m. Nr. 1.5, 8.2 des Streitwertkatalogs 2013 für die Verwaltungsgerichtsbarkeit.