Inhalt

VG Würzburg, Beschluss v. 05.07.2023 – W 3 K 23.259
Titel:

Prozesskostenhilfe für Klage gegen Beendigung der Inobhutnahme eines Syrers

Normenketten:
VwGO § 166
ZPO § 114, § 121
SGB VIII § 42, § 42f
SGB X § 24 Abs. 1, § 45
Leitsatz:
Erweist sich eine Beendigung der Inobhutnahme eines Syrers wegen Zweifeln an einer ordnungsgemäßen Anhörung sowie an der Altersfeststellung weder als offensichtlich rechtmäßig noch als offensichtlich rechtswidrig, hat eine Klage dagegen hinreichende Erfolgsaussichten. (Rn. 42) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Kinder- und Jugendhilfe, Inobhutnahme von Ausländern, Altersfeststellung, Prozesskostenhilfe, Anwaltsbeiordnung, Maßgeblicher Beurteilungszeitpunkt, Bewilligungsreife, Inobhutnahme, Ausländer, maßgeblicher Beurteilungszeitpunkt
Fundstelle:
BeckRS 2023, 21053

Tenor

Dem Kläger wird für das Verfahren vor dem Verwaltungsgericht Würzburg Prozesskostenhilfe bewilligt und Rechtsanwalt …, beigeordnet.

Gründe

I.
1
Der Kläger begehrt die Bewilligung von Prozesskostenhilfe und Anwaltsbeiordnung für seine Klage gegen die Beendigung seiner Inobhutnahme durch den Beklagten.
2
Der Kläger ist syrischer Staatsangehöriger. In den Behördenakten befinden sich Kopien eines syrischen Ausweises, der den … … 2006 als Geburtsdatum und „A …“ als Vornamen des Klägers ausweist, sowie einer österreichischen Verfahrenskarte, wonach der Kläger mit Vornamen „Ab …“ heißt und am … … 2004 geboren ist.
3
Der Kläger reiste nach eigenen Angaben im November 2022 in das Bundesgebiet ein. Am 16. November 2022 wurde er durch das Jugendamt der Stadt N. vorläufig in Obhut genommen. Am 17. November 2022 erfolgte unter Einschaltung eines Sprachmittlers ein Erstscreening durch das Jugendamt der Stadt N. mit dem Ergebnis, dass nach erfolgter qualifizierter Inaugenscheinnahme keine Zweifel an der Minderjährigkeit des jungen Menschen bestünden. Nach der daraufhin erfolgten Anmeldung des Klägers zur bundesweiten Verteilung durch das Jugendamt N. wurde der Kläger mit Bescheid der Landesstelle des Freistaats Bayern für die Verteilung von unbegleiteten ausländischen Kindern und Jugendlichen vom 23. November 2022 dem Jugendamt Würzburg zugewiesen.
4
Am 15. Dezember 2022 wurde der Kläger im Landkreis Würzburg aufgenommen und bei einer Pflegemutter, seiner Prozessbevollmächtigten, untergebracht. Ausweislich eines Vermerks des Beklagten zur Asylantragstellung vom 21. Dezember 2022 und den Sachverhaltsdarstellungen in den Bescheiden des Beklagten vom 26. Januar 2023 und vom 30. Januar 2023 wurde der Kläger am 15. Dezember 2022 durch den Landkreis Würzburg nach § 42 SGB VIII in Obhut genommen. In einem Erstabfrageblatt vom selben Tag sind die persönlichen Verhältnisse einschließlich der Familienverhältnisse und Einreiseinformationen einschließlich Angaben des Klägers zu seiner Flucht festgehalten.
5
Am 3. Januar 2023 fand unter Einschaltung eines Sprachmittlers eine qualifizierte Inaugenscheinnahme durch das Jugendamt des Landkreises Würzburg statt. Über das Gespräch existieren zwei Dokumentationen. In beiden wurden als äußere Merkmale des Klägers festgehalten: Stimmlage, Haare, Körperbehaarung, Bartwuchs, Körperbau. Zum Verhalten im Gespräch heißt es, dass der Kläger viele altersuntypische Fragen und kritische Nachfragen gestellt habe. In einer der beiden Dokumentationen wird darüber hinaus festgehalten, der Kläger wirke sehr reflektiert. Der Gesamteindruck wird im Wesentlichen übereinstimmend in den beiden Dokumentationsblättern wie folgt zusammengefasst: deutlich ausgeprägter Bartwuchs, Körperbehaarung, sichtbare Brustbehaarung, sichtbarer Adamsapfel.
6
Unter „Bewertung/Entscheidung“ heißt es in dem einen Dokumentationsblatt zur Frage des Vorliegens von Minderjährigkeit oder Volljährigkeit: „keine abschließende Einschätzung zum aktuellen Zeitpunkt möglich“. Zur Frage der Inobhutnahme wird festgehalten, dass dies derzeit nicht abschließend zu bewerten sei.
7
In dem anderen Dokumentationsblatt vom selben Tag heißt es unter Bewertung/Entscheidung:
„Aus den vorstehend skizzierten Wahrnehmungen, Angaben und Verhaltensweisen wird geschlossen, dass Volljährigkeit vorliegt.“
8
Des Weiteren ist in diesem Dokumentationsvordruck Folgendes angekreuzt:
„Der/die oben genannte wird: […] nicht in Obhut genommen bzw. eine bereits de facto erfolgte Inobhutnahme wird umgehend beendet.“
9
Beide Dokumentationsblätter sind von denselben zwei Fachkräften unterzeichnet. Nur auf dem letztgenannten Dokumentationsblatt befindet sich zusätzlich die Unterschrift einer dritten Mitarbeiterin des Beklagten. Nur auf dem letztgenannten Dokumentationsblatt ist zudem die Anmerkung zu finden: „Eindruck nach Inaugenscheinnahme am 26.01.2023 bestätigt.“
10
Am 26. Januar 2023 fand unter Einschaltung eines Sprachmittlers ein Hausbesuch statt. In einem Aktenvermerk vom 27. Januar 2023 mit dem Betreff „Hausbesuch wg. ION Beendigung“ wird hierzu Folgendes festgehalten:
„Die ION wird aufgrund des Feststellens der Volljährigkeit mit Ablauf des heutigen Tages beendet. […] Darüber hinaus stellt A … einen mündlichen Antrag auf ambulante Hilfe. […] Frau B … erklärt sich damit einverstanden, dass A … auch nach Beendigung der ION bis zur Verlegung in eine GU weiterhin im Haushalt verbleiben darf.“
11
Mit Bescheid vom 26. Januar 2023 nahm der Beklagte den Kläger ab dem 15. Dezember 2022 in Obhut. Zur Begründung wurde ausgeführt, dass das Jugendamt berechtigt und verpflichtet sei, den Kläger in Obhut zu nehmen, da zum Zeitpunkt der Übergabe davon habe ausgegangen werden können, dass er gem. § 42 Abs. 1 Nr. 3 SGB VIII als ausländischer Jugendlicher unbegleitet nach Deutschland eingereist sei und sich weder Personensorge- noch Erziehungsberechtigte im Inland aufhielten. Bei der Inobhutnahme nach § 42 SGB VIII handele es sich um eine vorläufige Unterbringung des Kindes oder des Jugendlichen.
12
Ebenfalls am 26. Januar 2023 trug die Prozessbevollmächtigte und Pflegemutter des Klägers fernmündlich Einwände gegen die Alterseinschätzung und die Beendigung der Inobhutnahme vor. Der Beklagte hat hierzu in einem Aktenvermerk vom 27. Januar 2023 festgehalten, dass die Hilfe nach interner Rücksprache trotz der Äußerungen der Pflegemutter beendet werden könne. Diese trug am 29. Januar 2023 per E-Mail weitere Einwände vor.
13
In einer internen E-Mail des Beklagten vom 30. Januar 2023 wird im Rahmen der Übermittlung der Alterseinschätzung (gemeint ist wohl die Einschätzung vom 3. Januar 2023 in der zweiten vorstehend dargestellten, von drei Mitarbeitern unterzeichneten Fassung) ausgeführt, es handele sich um eine überarbeitete Version. Man habe sich nach der Alterseinschätzung im Team nochmal besprochen und den Kläger als volljährig eingeschätzt.
14
Mit Bescheid vom 30. Januar 2023, laut Postzustellungsurkunde zugestellt am 2. Februar 2023, beendete der Beklagte die Inobhutnahme mit Ablauf des 26. Januar 2023 und hob den Bescheid „vom 27. Januar 2023, Az. FB31b-4392-24679(AKRA)WANS“ mit Ablauf des 26. Januar 2023 auf. Zur Begründung wurde ausgeführt, die Rücknahme beruhe auf § 45 SGB X. Bei der Inobhutnahme handele es sich um einen rechtswidrigen begünstigenden Verwaltungsakt. Dessen Rechtswidrigkeit ergebe sich daraus, dass der Kläger volljährig und nicht – wie bei Hilfebeginn angenommen – minderjährig sei. Dies habe eine qualifizierte Inaugenscheinnahme der sozialpädagogischen Fachkräfte vom 3. Januar 2023 ergeben. Etwas anderes folge weder aus den Angaben des syrischen Passes noch aus der Annahme von Minderjährigkeit durch das Jugendamt der Stadt Nürnberg. Zudem wurde auf die Verfahrenskarte aus Österreich sowie darauf hingewiesen, dass der Kläger beim Erstgespräch geschwankt habe in der Aussage, welcher Vorname (A … oder Ab … ) richtig sei. Der Rücknahme stehe ferner kein schutzwürdiges Vertrauen entgegen. Das Vertrauen des Klägers auf den Bestand des Verwaltungsakts sei unter Abwägung mit dem öffentlichen Interesse an einer Rücknahme nicht schutzwürdig. Nach Ausübung pflichtgemäßen Ermessens werde der Bescheid aufgehoben.
15
Am 7. Februar 2023 hat der Kläger seine Pflegemutter unter Vorlage einer Vollmacht den Erlass einer Eilentscheidung beim Verwaltungsgericht Würzburg beantragen und am 22. Februar 2023 Klage gegen den Bescheid vom 30. Januar 2023 erheben lassen. Dem Eilantrag war ein von der Klägerbevollmächtigten unterzeichneter Antrag auf Bewilligung von Beratungshilfe beigefügt. Mit Schreiben vom 22. Februar 2023 hat das Gericht der Klägerseite mitgeteilt, dass es diesen Antrag als Prozesskostenhilfegesuch verstehe, und um Einreichung einer Formblatterklärung über die persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse des Klägers gebeten. Daraufhin hat der Kläger eine von seiner Bevollmächtigten unterzeichnete Formblatterklärung über seine persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse vorgelegt.
16
Mit Bescheid vom 16. Februar 2023 hat die Regierung von Unterfranken den Kläger unter Annahme des vom Beklagten gemeldeten Geburtsdatums … … 2004 ab dem 20. Februar 2023 dem Landkreis Würzburg zugewiesen und dem Kläger als künftigen Wohnsitz eine Unterkunft für Volljährige in Ochsenfurt zugewiesen. Eine gegen diesen Bescheid gerichtete Klage wird beim Verwaltungsgericht Würzburg unter dem Aktenzeichen W 2 K 23.30129, ein diesbezüglicher Eilantrag unter dem Aktenzeichen W 2 S 23.30130 geführt.
17
Mit Schreiben vom 17. März 2023 im Hauptsacheverfahren hat das Gericht den Kläger um Klarstellung gebeten, ob auch für das Hauptsacheverfahren Prozesskostenhilfe begehrt werde, und um weitere Auskünfte zu den persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen des Klägers gebeten.
18
Mit Beschluss vom 22. März 2023 – W 3 S 23.154 – hat das Verwaltungsgericht dem Eilantrag des Klägers stattgegeben und die aufschiebende Wirkung der Klage gegen den Bescheid vom 30. Januar 2023 sowie die Aufhebung der Vollziehung angeordnet.
19
Mit Schreiben vom 23. März 2023, eingegangen am 27. März 2023 und am selben Tag an die Gegenseite weitergeleitet, hat die Klägerseite die Nachfragen des Gerichts vom 17. März 2023 beantwortet.
20
Mit Bescheid vom 11. April 2023, zur Post gegeben am selben Tag, hat der Beklagte den Bescheid vom 30. Januar 2023 ab dem 27. Januar 2023 aufgehoben.
21
Das Amtsgericht Würzburg hat mit Beschluss vom 19. Mai 2023 – 53 F 607/23 RE umF – den Beklagten zum Vormund des Klägers bestellt.
22
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstands wird auf die Gerichts- und Behördenakten, welche Gegenstand des Verfahrens waren, einschließlich der Akten des Verfahrens W 3 S 23.154 Bezug genommen.
II.
23
Die Voraussetzungen für die Gewährung von Prozesskostenhilfe liegen vor. Nach § 166 VwGO i.V.m. § 114 Abs. 1 Satz 1 ZPO erhält eine Partei, die nach ihren persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen die Kosten der Prozessführung nicht, nur zum Teil oder nur in Raten aufbringen kann, auf Antrag Prozesskostenhilfe, wenn die beabsichtigte Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung hinreichende Aussicht auf Erfolg bietet und nicht mutwillig erscheint.
24
Prozesskostenhilfe soll das Gebot der Rechtsschutzgleichheit (Art. 3 Abs. 1 i.V.m. Art. 19 Abs. 4 GG) verwirklichen, indem Bemittelte und Bedürftige in den Chancen ihrer Rechtsverfolgung gleichgestellt werden. Eine hinreichende Erfolgsaussicht ist zu bejahen, wenn die Sach- und Rechtslage bei summarischer Prüfung zumindest als offen erscheint, wobei die Anforderungen im Hinblick auf den Gleichheitsgrundsatz (Art. 3 Abs. 1 GG) und die Gewährung effektiven Rechtsschutzes (Art. 19 Abs. 4 GG) nicht überspannt werden dürfen. Die Prüfung der hinreichenden Erfolgsaussicht im Sinne von § 166 VwGO i.V.m. § 114 Abs. 1 Satz 1 ZPO dient nicht dazu, die Rechtsverfolgung selbst in das summarische Prozesskostenhilfeverfahren vorzuverlagern und dieses an die Stelle des Hauptsacheverfahrens treten zu lassen. Insbesondere darf das Bewilligungsverfahren nicht dazu benutzt werden, die Klärung streitiger Rechts- oder Tatsachenfragen im Hauptsacheverfahren zu verhindern (vgl. BVerfG, B.v. 13.3.1990 – 2 BvR 94/88 u.a. – juris Rn. 26 ff.; B.v. 10.8.2001 – 2 BvR 569/01 – juris Rn. 19 ff.). Ein Erfolg des Rechtsbehelfs muss nicht gewiss sein; vielmehr reicht eine gewisse Wahrscheinlichkeit aus, die bereits gegeben ist, wenn im Zeitpunkt der Bewilligungsreife (Kopp/Schenke, VwGO, 28. Aufl. 2022, § 166 Rn. 14a) ein Obsiegen im Hauptsacheverfahren ebenso wahrscheinlich ist wie ein Unterliegen. Die Bewilligung von Prozesskostenhilfe ist daher im Allgemeinen bereits dann gerechtfertigt, wenn das Gericht den Rechtsstandpunkt des Klägers für vertretbar und bei Aufklärungsbedarf in tatsächlicher Hinsicht eine Beweisführung in seinem Sinne zumindest für möglich hält (OVG Saarland, B.v. 28.4.2021 – 1 D 39/21 – BeckRS 2021, 9025 Rn. 3).
25
Gemessen hieran sind hinreichende Erfolgsaussichten der Klage des Klägers gegen den Bescheid des Beklagten vom 30. Januar 2023 im maßgeblichen Beurteilungszeitpunkt zu bejahen.
26
Der Kläger wendet sich mit seiner Klage gegen die Beendigung seiner Inobhutnahme durch den Beklagten. Er begehrt im Wege einer Anfechtungsklage (§ 42 Abs. 1 Alt. 1 VwGO) die Aufhebung der im Bescheid vom 30. Januar 2023 geregelten oder jedenfalls schriftlich bestätigten Entscheidungen des Beklagten über die Aufhebung und Beendigung der zuvor mit Bescheid vom 26. Januar 2023 angeordneten oder jedenfalls schriftlich bestätigten Inobhutnahme nach § 42 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 SGB VIII. Soweit der Bescheid vom 30. Januar 2023 auf einen Bescheid vom 27. Januar 2023 Bezug nimmt, ist offensichtlich die vorherige Inobhutnahmeentscheidung gemeint. Einen Bescheid vom 27. Januar 2023 gibt es nicht. Es handelt sich um eine offensichtliche Unrichtigkeit, die nach § 38 Satz 1 SGB X jederzeit berichtigt werden kann und keinen Einfluss auf den wahren Inhalt des Verwaltungsakts hat.
27
Es kann im Rahmen der Entscheidung über den Prozesskostenhilfeantrag des Klägers dahinstehen, ob der Bescheid vom 26. Januar 2023 und der Bescheid vom 30. Januar 2023 jeweils eine eigenständige Regelung enthalten und diese lediglich faktisch bereits zuvor ganz oder teilweise vollzogen worden ist oder ob es sich jeweils um eine reine schriftliche Bestätigung eines bereits zuvor mündlich erlassenen Verwaltungsakts über die Inobhutnahme bzw. über deren Beendigung handelt. Jedenfalls ist mit der Bezeichnung des Bescheids vom 30. Januar 2023 als Klagegegenstand hinreichend klar und eindeutig zum Ausdruck gebracht, dass sich die Klage gegen die Beendigung der Inobhutnahme des Klägers durch den Beklagten richtet. In entsprechender Anwendung der für die Auslegung von Willenserklärungen des bürgerlichen Rechts geltenden Rechtsgrundsätze (§§ 133, 157 BGB) wäre selbst im Falle der Existenz mündlicher Verwaltungsakte, welche lediglich jeweils mit Bescheid vom 26. Januar 2023 und Bescheid vom 30. Januar 2023 schriftlich bestätigt wurden, davon auszugehen, dass die Verfahrensbeteiligten mit der Bezeichnung „Bescheid vom 26. Januar 2023“ und der Bezeichnung „Bescheid vom 30. Januar“ den jeweils bestätigten Verwaltungsakt meinen und nicht die dann bloß schlichthoheitliche Maßnahme der schriftlichen Bestätigung, welche kein tauglicher Gegenstand einer Anfechtungsklage wäre. Im Folgenden verwendet das Gericht daher zur besseren Lesbarkeit ebenfalls allein die Bezeichnungen „Bescheid vom 26. Januar“ und „Bescheid vom 30. Januar 2023“.
28
Maßgeblicher Zeitpunkt für die Beurteilung der Erfolgsaussicht der so verstandenen Klage ist im streitgegenständlichen Fall der Zeitpunkt der Bewilligungsreife des Prozesskostenhilfegesuchs. Andernfalls, d.h. wenn auf den Kenntnisstand im Zeitpunkt der vorliegenden Entscheidung abgestellt würde, würde der grundrechtlich geschützte Anspruch des Klägers auf Zugänglichkeit des Rechtsschutzes auch für Unbemittelte faktisch entwertet.
29
Durch die Gewährung von Prozesskostenhilfe soll die Situation von Bemittelten und Unbemittelten bei der Verwirklichung des Rechtsschutzes weitgehend angeglichen werden, indem es Unbemittelten den Rechtsschutz zugänglich macht. Dem liefe es zuwider, wenn im Fall eines bewilligungsreifen Prozesskostenhilfeantrags bei der Prüfung der Erfolgsaussichten des Verfahrens nach der Bewilligungsreife eingetretene Änderungen der Sach- oder Rechtslage ohne Weiteres zulasten des Prozesskostenhilfebegehrenden berücksichtigt würden. Würde Prozesskostenhilfe im Fall solcher nachträglichen Änderungen trotz im Zeitpunkt der Bewilligungsreife hinreichender Erfolgsaussicht nicht gewährt, stünden Unbemittelte stets vor dem Risiko, wegen einer für sie nicht sicher vorhersehbaren und von ihnen nicht verschuldeten Verzögerung der Entscheidung über ihr Prozesskostenhilfegesuch Kosten eines bis dahin an und für sich hinreichend erfolgversprechenden Verfahrens tragen zu müssen. Dieses Kostenrisiko erschwerte Unbemittelten im Vergleich zu Bemittelten den Zugang zum Rechtsschutz und verstieße gegen die verfassungsrechtlich verbürgte Rechtsschutzgleichheit (BVerfG, B.v. 16.4.2019 – 1 BvR 2111/17 – NVwZ-RR 2020, 137 Rn. 25 m.w.N.; BayVGH, B.v. 6.8.1996 – 7 C 96/1262 – NVwZ-RR 1997, 501). Entscheidet das Gericht nicht unverzüglich nach Eintritt der Bewilligungsreife über ein ordnungsgemäß gestelltes Prozesskostenhilfegesuch, so darf daher dem Rechtssuchenden hieraus kein Nachteil erwachsen (BayVGH, B.v. 6.8.1996 – 7 C 96/1262 – NVwZ-RR 1997, 501). Änderungen in der Beurteilung der Erfolgsaussichten, die nach der Bewilligungsreife des Prozesskostenhilfeantrags eintreten, sind daher grundsätzlich nicht zulasten des Rechtsschutzsuchenden zu berücksichtigen (BVerfG, B.v. v. 4.10.2017 – 2 BvR 496/17 – BeckRS 2017, 130787 Rn. 14).
30
Bewilligungsreife eines Prozesskostenhilfegesuchs tritt regelmäßig erst ein, wenn der Rechtsschutzsuchende vollständige Prozesskostenhilfeunterlagen (§ 166 VwGO i.V.m. § 117, 118 Abs. 2 ZPO) vorgelegt hat und sich die Gegenseite gem. § 166 VwGO i.V.m. § 118 Abs. 1 Satz 1 ZPO äußern konnte (BVerwG, B.v. 12.9.2007 – 10 C 39/07 – BeckRS 2007, 26678; OVG NW, B.v. v. 9.8.2022 – 11 E 284/22 – BeckRS 2022, 19677 Rn. 7).
31
Hiervon ausgehend trat die Bewilligungsreife des Prozesskostenhilfegesuchs des Klägers spätestens am 10. April 2023 ein. Mit Schreiben vom 23. März 2023 beantwortete die Klägerseite offene Fragen des Gerichts zu den zuvor eingereichten Prozesskostenhilfeunterlagen und benannte erstmals einen beizuordnenden, vertretungsbereiten Rechtsanwalt. Dieser Schriftsatz wurde dem Beklagten am 27. März 2023 weitergeleitet. Es erscheint daher auch unter Berücksichtigung der seinerzeitigen Ferienzeit angemessen, nicht vor Ablauf von zwei Wochen nach der Weiterleitung des Schriftsatzes, mithin nicht vor dem 11. April 2023 über den Prozesskostenhilfeantrag zu entscheiden, um dem Beklagten einen angemessenen Zeitraum für eine etwaige Stellungnahme einzuräumen, auch wenn eine solche nicht ausdrücklich unter Fristsetzung angefordert wurde. Es ist jedoch davon auszugehen, dass dem Beklagten als regelmäßig mit der Führung von Gerichtsverfahren befasster Behörde auch ohne ausdrücklichem gerichtlichen Hinweis bewusst war, dass er zu dem Prozesskostenhilfegesuch Stellung nehmen konnte. Mit Blick darauf, dass die Bewilligungsreife des Prozesskostenhilfegesuchs somit am 11. April 2023 eintrat, finden nach diesem Zeitpunkt eingetretene Veränderungen der Sach- und Rechtslage keine Berücksichtigung zulasten des Klägers.
32
Keine Berücksichtigung im Rahmen der Entscheidung über das Prozesskostenhilfegesuch findet daher der Erlass des Bescheids vom 11. April 2023, welcher erst mit Bekanntgabe an den Kläger am 14. April 2023 wirksam geworden ist (§ 39 Abs. 1 Satz 1, § 37 Abs. 2 Satz 1 SGB X). Mit diesem Bescheid hat der Beklagte den streitgegenständlichen Bescheid vom 30. Januar 2023 aufgehoben mit der Folge, dass die Anfechtungsklage, für die der Kläger Prozesskostenhilfe begehrt, unzulässig geworden ist. Denn Gegenstand einer Anfechtungsklage kann nur ein existenter (wirksamer) Verwaltungsakt sein (§ 42 Abs. 1 Alt. 1 VwGO). Mit seiner Aufhebung ist der Verwaltungsakt vom 30. Januar 2023 indes nicht mehr wirksam (§ 39 Abs. 2 SGB X). Folglich kann auch kein Rechtsstreit mehr mit dem Ziel seiner Aufhebung geführt werden. Er ist bereits aufgehoben.
33
Im Zeitpunkt der bereits vor Wirksamwerden des Aufhebungsbescheids vom 11. April 2023 eingetretenen Bewilligungsreife des Prozesskostenhilfegesuchs des Klägers hatte die Klage hingegen noch hinreichende Erfolgsaussichten. Wie die Stattgabe des Eilantrags im Verfahren W 3 S 23.154 mit Beschluss vom 22. März 2023 zeigt, hatte die Klage bis zur Aufhebung des Bescheids durch den Beklagten hinreichende Aussicht auf Erfolg im Sinne des Prozesskostenhilferechts. Der Beschluss im Eilverfahren erging zwar am 22. März 2023, bis zum Eintritt der Bewilligungsreife des Prozesskostenhilfegesuchs am 11. April 2023 traten indes keine Veränderungen der Sach- oder Rechtslage zulasten des Klägers ein, die zu einer abweichenden Beurteilung Anlass geben würden. Vielmehr war im Zeitpunkt der Bewilligungsreife des Prozesskostenhilfegesuchs nicht mit hinreichender Sicherheit auszuschließen, dass die Klage zulässig und begründet sein könnte.
34
Der Zulässigkeit der Klage stand insbesondere nicht entgegen, dass der Kläger nach seinen eigenen Angaben minderjährig ist. Denn er ist unabhängig von der Frage seiner Volljährigkeit und der Bestellung eines Vormunds mit Beschluss des Amtsgerichts vom 19. Mai 2023 für das vorliegende Verfahren als prozessfähig anzusehen. Ist er volljährig, folgt seine Prozessfähigkeit aus § 62 Abs. 1 Nr. 1 VwGO i.V.m. §§ 2, 104 ff. BGB. Bei unterstellter Minderjährigkeit folgt seine Prozessfähigkeit für den Gegenstand des Verfahrens aus § 62 Abs. 1 Nr. 2 VwGO und § 36 Abs. 1 Satz 1 SGB I, wonach derjenige Anträge auf Sozialleistungen stellen und verfolgen sowie Sozialleistungen entgegennehmen kann, der das 15. Lebensjahr vollendet hat (vgl. OVG Bremen, B.v. 18.11.2015 – 2 B 221/15, 2 PA 223/15 – juris Rn. 12). Das 15. Lebensjahr hat der Kläger aber selbst unter Zugrundelegung seiner eigenen Altersangabe im maßgeblichen Beurteilungszeitpunkt der Bewilligungsreife seines Prozesskostenhilfegesuchs bereits vollendet.
35
Etwas anderes ergibt sich auch nicht daraus, dass die Inobhutnahme nach § 42 SGB VIII nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts keine Sozialleistung im Sinne von § 11 Satz 1 SGB I ist. (BVerwG, U.v. 11.7.2013 – 5 C 24/12 – NVwZ-RR 2013, 967 Rn. 16). Die Inobhutnahme verleiht dem Kind oder Jugendlichen einen Anspruch darauf, in einer Jugendhilfeeinrichtung aufgenommen, verpflegt und betreut zu werden. Insoweit ist von einer Sozialleistung im Sinne des § 11 Satz 1 SGB I auszugehen. Zwar hat eine Inobhutnahme auch belastende Wirkungen. In der streitgegenständlichen Konstellation geht es jedoch um mit der Inobhutnahme verbundene Begünstigungen für den Kläger, die dieser mit seinem Antrag erhalten bzw. vorläufig bewahren möchte. Mithin steht der Leistungsgedanke im Vordergrund. Dem Schutzinteresse des Minderjährigen wird hinreichend dadurch Rechnung getragen, dass die aus § 36 Abs. 1 Satz 1 SGB I folgende partielle Handlungsfähigkeit die Befugnisse gesetzlicher Vertreter nicht völlig verdrängt, sondern ergänzend neben die gesetzliche Vertretungsmacht tritt. Zudem kann die Handlungsfähigkeit nach § 36 Abs. 1 Satz 1 SGB I gem. § 36 Abs. 2 Satz 1 SGB I vom gesetzlichen Vertreter durch schriftliche Erklärung gegenüber dem Leistungsträger eingeschränkt werden (zum Ganzen OVG Bremen, B.v. 18.11.2015 – 2 B 221/15 – BeckRS 2015, 55026 Rn. 11 m.w.N.), wobei bei einem Rechtsstreit zwischen dem Minderjährigen und seinem gesetzlichen Vertreter Einschränkungen der Vertretungsbefugnis des gesetzlichen Vertreters zu beachten sein können.
36
Des Weiteren konnte sich der Kläger vor dem Verwaltungsgericht durch seine Pflegemutter als Prozessbevollmächtigte vertreten lassen. Denn diese ist nach § 67 Abs. 2 Satz 2 Nr. 2 VwGO i.Vm. § 15 Abs. 1 Nr. 8 der Abgabenordnung (AO) als Bevollmächtigte vor dem Verwaltungsgericht vertretungsbefugt. Danach sind Personen, die durch ein auf längere Dauer angelegtes Pflegeverhältnis mit häuslicher Gemeinschaft wie Eltern und Kind miteinander verbunden sind (Pflegeeltern und Pflegekinder), zur unentgeltlichen Prozessvertretung befugt.
37
Ein Pflegeverhältnis ist auf längere Dauer angelegt, wenn der zeitliche Rahmen so bemessen ist, dass familienähnliche Bande entstehen können. Einen festen zeitlichen Mindestzeitraum gibt es nicht (Koenig in Koenig (Hrsg.), AO, 4. Aufl. 2021, § 15 Rn. 17). Zum Teil wird dennoch eine Haushaltsaufnahme von mindestens einem Jahr verlangt (z.B. Kister in BeckOK AO, 23. Ed. Stand 1.1.2023, § 15 Rn. 42). Ein für die Annahme der Pflegekindschaft genügender Dauerzustand kann auch dann gegeben sein, wenn nur unter gewissen Voraussetzungen mit einer vorzeitigen Beendigung dieses Zustands zu rechnen ist (BFH, U.v. 17.12.1952 – IV 359/52 U – juris Rn. 7).
38
Familienähnliche Bande im vorgenannten Sinne sind gegeben, wenn die Pflegeeltern das Kind wie ein eigenes betreuen, sämtliche wesentlichen Entscheidungen für das Kind treffen und für das Kind zu den maßgebenden Ansprechpartnern und damit zu Ersatzeltern geworden sind (BFH, U.v. 7.9.1995 – III R 95/93 – DStR 1996, 15, 16). Hieran fehlt es bei vorübergehender Unterbringung, z.B. bei Tagesmüttern (Koenig in Koenig (Hrsg.), AO, 4. Aufl. 2021, § 15 Rn. 19).
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Nach Überzeugung des Gerichts war das Pflegeverhältnis des Klägers bei seiner Bevollmächtigten ursprünglich auf längere Dauer im Sinne von § 67 Abs. 2 Satz 2 Nr. 2 VwGO i.Vm. § 15 Abs. 1 Nr. 8 AO angelegt, auch wenn es tatsächlich bereits nach ca. einem Monat – zunächst – endete. Entscheidend ist, dass nach dem objektiven Empfängerhorizont zum Zeitpunkt des Beginns des Pflegeverhältnisses am 15. Dezember 2022 aufgrund von dessen tatsächlicher Ausgestaltung von einer zeitlichen Verweildauer des Klägers in der Pflegefamilie und einer Betreuungsweise durch die Pflegemutter ausgegangen werden durfte, welche familienähnliche Bande, also eine dauerhafte, ideelle Bindung von einer solchen Intensität, wie sie zwischen Kindern und ihren leiblichen Eltern üblich ist, entstehen lassen können. Ungeachtet dessen wird das Pflegeverhältnis inzwischen auch wieder fortgesetzt.
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Schließlich wahrt die am 22. Februar 2023 erhobene Klage auch die einmonatige Klagefrist nach § 74 Abs. 1 VwGO. Auf den Lauf der Klagefrist hat es im Ergebnis keinen Einfluss, ob der Bescheid vom 26. Januar 2023 und der Bescheid vom 30. Januar 2023 jeweils eine eigenständige Regelung enthalten oder ob es sich jeweils um eine schriftliche Bestätigung eines bereits zuvor mündlich erlassenen Verwaltungsakts handelt. Denn die Klagefrist beginnt nur zu laufen, wenn der Beteiligte über den Rechtsbehelf, die Verwaltungsbehörde oder das Gericht, bei denen der Rechtsbehelf anzubringen ist, den Sitz und die einzuhaltende Frist schriftlich oder elektronisch belehrt worden ist (§ 58 Abs. 1 VwGO). Da, soweit ersichtlich, der Bescheid vom 30. Januar 2023, laut Zustellungsurkunde zugestellt am 2. Februar 2023, erstmals eine Rechtsbehelfsbelehrungenthielt, welche Rechtsmittel gegen die Beendigung der Inobhutnahme gegeben sind, lief die Klagefrist in jedem Fall nicht vor dem 2. März 2023 ab, so dass die Klagefrist des § 74 Abs. 1 VwGO gewahrt ist.
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Auch im Übrigen sind unter Zugrundelegung der Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der Bewilligungsreife des Prozesskostenhilfegesuchs keine durchgreifenden Bedenken gegen die Zulässigkeit der Klage erkennbar.
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Ob die Klage darüber hinaus im Zeitpunkt der Bewilligungsreife auch begründet war, ist offen. Der Bescheid vom 30. Januar 2023 erweist sich unter Zugrundelegung der Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der Bewilligungsreife des Prozesskostenhilfegesuchs weder als offensichtlich rechtmäßig noch als offensichtlich rechtswidrig. Ein Obsiegen des Klägers ist daher mindestens ebenso wahrscheinlich wie ein Unterliegen. Dies genügt für die Bejahung hinreichender Erfolgsaussichten, da bei der Prüfung der Erfolgsaussichten im Rahmen des § 166 VwGO i.V.m. § 114 Abs. 1 Satz 1 ZPO keine überspannten Anforderungen gestellt werden dürfen.
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Weiterer Aufklärung bedarf zum einen der zeitliche Ablauf des Verwaltungsverfahrens, welches zum Erlass des Bescheids vom 30. Januar 2023 führte, da nach Aktenlage unklar ist, wann und in welcher Form der Kläger angehört worden ist (§ 24 Abs. 1 SGB X). Des Weiteren ist fraglich, ob alle gesetzlichen Voraussetzungen für eine Aufhebung des Bescheids vom 26. Januar 2023, welcher die Inobhutnahme des Klägers regelte, vorliegen. Als Rechtsgrundlage kommt im streitgegenständlichen Fall nur § 45 SGB X in Betracht, welcher die Rücknahme begünstigender Verwaltungsakte regelt. Bei dem angefochtenen Bescheid handelt es sich um einen begünstigenden Verwaltungsakt in diesem Sinne (Kepert/Dexheimer in Kunkel/Kepert/Pattar (Hrsg.), SGB VIII, 8. Aufl. 2022, § 42f Rn. 8). Denn in der Situation des Klägers geht es bei der Inobhutnahme letztlich nicht um dessen Herausnahme aus seiner Herkunftsfamilie, eine Trennung von seinen Eltern und einen dementsprechenden belastenden Eingriff in deren Grundrecht aus Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG, sondern um den Erhalt mit der Inobhutnahme verbundener Vergünstigungen wie die Unterbringung in einer Jugendhilfeeinrichtung oder in einer Pflegefamilie, so dass der Leistungsgedanke im Vordergrund steht (vgl. Kepert in Kunkel/Kepert/Pattar (Hrsg.), SGB VIII, 8. Aufl. 2022, § 42 Rn. 128).
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Die Rücknahme eines begünstigenden Verwaltungsakts setzt nach § 45 Abs. 1 SGB X voraus, dass der Verwaltungsakt rechtswidrig ist. Dies trifft auf den angefochtenen Bescheid zu, wenn der Kläger volljährig ist, weil nach § 42 Abs. 1 SGB VIII nur Kinder (§ 7 Abs. 1 Nr. 1 SGB VIII) und Jugendliche (§ 7 Abs. 1 Nr. 2 SGB VIII) in Obhut genommen werden können. Kind oder Jugendlicher ist aber nur, wer noch nicht 18 Jahre alt ist (§ 7 Abs. 1 Nrn. 1 und 2 SGB VIII).
45
Ob der Kläger noch nicht 18 Jahre alt ist, ist unklar. Auf Grundlage der gegenwärtigen Aktenlage steht zur Überzeugung des erkennenden Gerichts (§ 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO) weder fest, dass der Kläger noch nicht 18 Jahre alt ist, noch, dass er mindestens 18 Jahre alt ist. Die vorgelegten Dokumente enthalten insoweit widersprüchliche Angaben: Ausweislich des syrischen Ausweisdokuments ist der Kläger am … … 2006 geboren, mithin noch nicht 18 Jahre alt. Nach den Angaben in der österreichischen Verfahrenskarte ist er hingegen am … … 2004 geboren und mithin bereits volljährig. Der Kläger erklärt diese unterschiedlichen Angaben in den Ausweisdokumenten damit, dass es in Österreich Verständigungsschwierigkeiten gegeben habe. Diese werden zwar nicht näher dargelegt, sind aber gegenwärtig auch nicht hinreichend sicher auszuschließen. So steht auch in Bezug auf Gespräche zwischen Kläger und Beklagtem die Möglichkeit von Missverständnissen aufgrund von Verständnisschwierigkeiten im Raum: Während der Beklagte sein Gespräch mit dem Kläger so auslegt, dass der Kläger seinen Vornamen nicht sicher angeben konnte, soll dies nach Angaben der Prozessbevollmächtigten des Klägers auf Besonderheiten bei der Übersetzung aus dem Arabischen beruhen. Ferner handelt es sich bei der Verfahrenskarte nach § 50 Abs. 1 des österreichischen Asylgesetzes nicht um ein allgemeingültiges Identitätsdokument. Sie dient nur dem Nachweis der Identität im Verfahren vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl und soll die ersten Verfahrensschritte erleichtern (vgl. Angaben auf der Internetseite des österreichischen Bundesamts für Fremdenwesen und Asyl unter https://www.bfa.gv.at/404/start.aspx, Abruf am 22.3.2023). Sie kann insbesondere der Dokumentation bestimmter Verfahrensschritte dienen und darüber hinaus zum Aufenthalt und zur Teilnahme an der Versorgung in einer Betreuungseinrichtung berechtigen (§ 50 Abs. 1 des österreichischen Asylgesetzes). Der syrische Ausweis wiederum ist nach Angaben des Klägers 2021 ausgestellt worden, mithin erst nach seiner Ausreise aus Syrien vor ca. drei Jahren. Auf Echtheit ist er bislang, soweit bekannt, noch nicht untersucht worden. Es bedarf daher weiterer Aufklärung hinsichtlich der Frage, wie verlässlich die Angaben in den Ausweisdokumenten sind, insbesondere wie sie jeweils zustande gekommen sind, und welcher Beweiswert den Dokumenten dementsprechend zukommt.
46
Nachdem sich das Alter des Klägers somit nicht eindeutig durch Einsichtnahme in dessen Ausweispapiere feststellen ließ (und auch derzeit nicht lässt), haben die mit dem Fall befassten Jugendämter das Alter des Klägers zu Recht hilfsweise mittels einer qualifizierten Inaugenscheinnahme einzuschätzen versucht (vgl. § 42f Abs. 1 Satz 1 SGB VIII). Dies entspricht dem gesetzlich vorgeschriebenen Vorgehen bei der Altersfeststellung, welches in dem – auf die Altersfeststellung des Jugendamts der Stadt N. unmittelbar anwendbaren – § 42f Abs. 1 und 2 SGB VIII niedergelegt ist und aufgrund der planwidrigen Regelungslücke und der vergleichbaren Interessenslage entsprechend auch bei Altersfeststellungen wie die des Beklagten im Rahmen bzw. nach einer Inobhutnahme gem. § 42 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 SGB VIII gilt, wofür auch die Bezugnahme auf diese Vorschrift in § 42f Abs. 3 Satz 1 SGB VIII spricht. Danach ist die Minderjährigkeit durch Einsichtnahme in die Ausweispapiere festzustellen (§ 42f Abs. 1 Satz 1 Alt. 1 SGB VIII). Sind aussagekräftige Ausweispapiere nicht vorhanden, bleibt zunächst nur die Selbstauskunft des Betroffenen. Dieser kommt besondere Bedeutung zu. Dies zeigt sich auch in der Regelung des § 33a Abs. 1 SGB I, welche in der streitgegenständlichen Konstellation einer Inobhutnahme einer ausländischen Person durch die speziellere Regelung des § 42f SGB VIII verdrängt wird, sofern man sie überhaupt für anwendbar hält (dagegen BVerwG, U.v. 11.7.2013 – 5 C 24/12 – NVwZ-RR 2013, 967 Rn. 16).
47
Im Übrigen würde die Anwendung des § 33a SGB I zu keinem anderen Ergebnis führen. Sind Rechte oder Pflichten davon abhängig, dass eine bestimmte Altersgrenze erreicht oder nicht überschritten ist, ist nach § 33a Abs. 1 SGB I das Geburtsdatum maßgebend, das sich aus der ersten Angabe des Berechtigten oder Verpflichteten oder seiner Angehörigen gegenüber einem Sozialleistungsträger ergibt. Allerdings enthält § 33a Abs. 1 SGB I nach allgemeiner Auffassung kein einseitiges Altersbestimmungsrecht des Berechtigten oder Verpflichteten. Vielmehr ist die Behörde bei Zweifeln an der Richtigkeit des angegebenen Alters nicht verpflichtet, die (Erst-) Angaben ungeprüft zu übernehmen (VG Freiburg, B.v. 4.5.2015 – 4 K 804/15 – juris Rn. 10 m.w.N.). Ergibt sich – wie hier aus der österreichischen Verfahrenskarte – aus einer Urkunde, deren Original vor dem Zeitpunkt der Angabe des Berechtigten oder Verpflichteten ausgestellt worden ist, ein anderes Geburtsdatum, erlaubt das Gesetz ausdrücklich eine Abweichung von der Altersangabe des Berechtigten oder Verpflichteten (§ 33 Abs. 2 Nr. 2 SGB I). Damit ist indes noch nicht gesagt, dass zwingend die Altersangabe aus dieser Urkunde zugrunde zu legen ist, wenn auch an deren Richtigkeit Zweifel bestehen. In Anbetracht dieser Umstände kann letztlich dahinstehen, in welchem Verhältnis die Vorschriften zur Altersfeststellung nach § 42f SGB VIII und zum maßgeblichen Geburtsdatum nach § 33a SGB I zueinander stehen und ob § 33a SGB I in einer Konstellation wie der streitgegenständlichen überhaupt Anwendung finden kann.
48
Lässt sich wie im Fall des Klägers das Alter nicht eindeutig durch Einsichtnahme in die Ausweispapiere feststellen und begegnet die Selbstauskunft Zweifeln, ist eine Alterseinschätzung und -feststellung in Form einer qualifizierten Inaugenscheinnahme vorzunehmen (§ 42f Abs. 1 Satz 1 Alt. 2 SGB VIII). In Zweifelsfällen ist auf Antrag des Betroffenen bzw. seines Vertreters oder von Amts wegen durch das Jugendamt eine ärztliche Untersuchung zur Altersbestimmung zu veranlassen (§ 42f Abs. 2 Satz 1 SGB VIII). Dabei handelt es sich nach dem eindeutigen Gesetzeswortlaut („hat“) um eine gebundene Entscheidung mit der Folge, dass dem Jugendamt ein Ermessen nicht zukommt (BayVGH, B.v. 18.8.2016 – 12 CE 16.1570 – BeckRS 2016, 51383 Rn. 10). Durch dieses Verfahren wird dem Umstand Rechnung getragen, dass viele der Jugendlichen ohne gültige Papiere nach Europa kommen und auch sonst kaum Möglichkeiten besitzen, ihr Alter zu dokumentieren. Gibt eine Person an, minderjährig zu sein, oder liegen anderweitige Hinweise vor, dass eine Person minderjährig sein kann, muss dies mit besonderer Sorgfalt geprüft werden. Da es keine Methode gibt, mit der das genaue Alter einer Person bestimmt werden kann, ist es umso notwendiger, dass dieser Unsicherheit in der Einschätzung des Alters durch transparente Verfahrensstandards, die kindgerecht auszugestalten sind, begegnet wird (BayVGH, B.v. 18.8.2016 – 12 CE 16.1570 – BeckRS 2016, 51383 Rn. 11).
49
Kann der Betroffene kein aussagekräftiges Ausweispapier vorlegen und ist seine Selbstauskunft nicht zweifelsfrei, so ist eine qualifizierte Inaugenscheinnahme (§ 42f Abs. 1 Satz 1 Alt. 2 SGB VIII) durchzuführen. Diese erstreckt sich auf das äußere Erscheinungsbild, das nach nachvollziehbaren Kriterien zu würdigen ist. Darüber hinaus schließt sie – unter Hinzuziehung eines Sprachmittlers – in jedem Fall eine Befragung des Betroffenen ein, in der dieser mit den Zweifeln an seiner Eigenangabe zu konfrontieren und ihm Gelegenheit zu geben ist, diese Zweifel auszuräumen. Die im Gespräch gewonnenen Informationen zum Entwicklungsstand sind im Einzelnen zu bewerten. Maßgeblich ist der Gesamteindruck, der neben dem äußeren Erscheinungsbild insbesondere die Bewertung der im Gespräch gewonnenen Informationen zum Entwicklungsstand umfasst. Gegebenenfalls sind weitere Unterlagen beizuziehen. Das Verfahren ist stets nach dem Vier-Augen-Prinzip von mindestens zwei beruflich erfahrenen Mitarbeitern des Jugendamts durchzuführen. Das Ergebnis dieses Verfahrens ist in nachvollziehbarer und überprüfbarer Weise zu dokumentieren, insbesondere muss die Gesamtwürdigung in ihren einzelnen Begründungsschritten transparent sein (BayVGH, B.v. 18.8.2016 – 12 CE 16.1570 – BeckRS 2016, 51383 Rn. 13 m.w.N.).
50
Führt die qualifizierte Inaugenscheinnahme nicht zu einem hinreichend sicheren Ergebnis, bleiben mit anderen Worten Zweifel, so ist eine medizinische Untersuchung zu veranlassen (§ 42f Abs. 2 Satz 1 SGB VIII). Bestehen derartige Zweifel, ist nach der Rechtsprechung des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs bezüglich des Alters eines Klägers davon auszugehen, dass dieser noch minderjährig ist, solange entsprechende Zweifel nicht ausgeräumt werden können und deshalb weiter fortbestehen (BayVGH, B.v. 18.8.2016 – 12 CE 16.1570 – BeckRS 2016, 51383 Rn. 14 m.w.N.).
51
Ob ein solcher Zweifelsfall vorliegt, unterliegt als unbestimmter Rechtsbegriff ohne Beurteilungsspielraum umfassender verwaltungsgerichtlicher Kontrolle. Dies schließt eine wie auch immer geartete Einschätzungsprärogative des Jugendamts von vornherein aus. Das Ergebnis einer qualifizierten Inaugenscheinnahme nach § 42f Abs. 1 Satz 1 Alt. 2 SGB VIII ist daher von den Verwaltungsgerichten im Hinblick auf gleichwohl fortbestehende Zweifel an der Minder- bzw. Volljährigkeit des Betroffenen nicht lediglich daraufhin zu überprüfen, ob alle relevanten Verfahrensvorschriften eingehalten wurden, sämtliche zur Verfügung stehenden Erkenntnisquellen ausgeschöpft und von einem zutreffenden Sachverhalt ausgegangen wurde, allgemeingültige Bewertungsmaßstäbe beachtet und der Gehalt der anzuwendenden Begriffe und der gesetzliche Rahmen, in dem diese sich bewegen, erkannt wurde und keine sachfremden Erwägungen in die Beurteilung eingeflossen sind (BayVGH, B.v. 18.8.2016 – 12 CE 16.1570 – BeckRS 2016, 51383 Rn. 15 m.w.N.).
52
Ausgehend von der Tatsache, dass eine exakte Bestimmung des Lebensalters weder auf medizinischem, psychologischem, pädagogischem oder anderem Wege möglich ist, alle bekannten Verfahren – auch eine ärztliche Untersuchung – allenfalls Näherungswerte liefern können, kann eine qualifizierte Inaugenscheinnahme durch Mitarbeiter eines Jugendamts gemäß § 42f Abs. 1 Satz 2 Alt. 2 SGB VIII allenfalls dann als zur Altersfeststellung geeignet angesehen werden, wenn es darum geht, für jedermann ohne Weiteres erkennbare (offensichtliche), gleichsam auf der Hand liegende, über jeden vernünftigen Zweifel erhabene Fälle eindeutiger Volljährigkeit auszuscheiden, in welchen ein Sich-Berufen des Betroffenen auf den Status der Minderjährigkeit selbst vor dem Hintergrund möglicher eigener Unkenntnis vom genauen Geburtsdatum als evident rechtsmissbräuchlich erscheinen muss (BayVGH, B.v. 18.8.2016 – 12 CE 16.1570 – BeckRS 2016, 51383 Rn. 19).
53
In allen anderen Fällen ist hingegen vom Vorliegen eines Zweifelsfalls auszugehen, der entweder auf Antrag des Betroffenen bzw. seines gesetzlichen Vertreters oder aber von Amts wegen durch das Jugendamt zur Veranlassung einer ärztlichen Untersuchung gemäß § 42f Abs. 2 Satz 1 SGB VIII zwingt (BayVGH, B.v. 18.8.2016 – 12 CE 16.1570 – BeckRS 2016, 51383 Rn. 20). Dies gilt namentlich im Grenzbereich zur Volljährigkeit, wie er im streitgegenständlichen Fall in Rede steht, nachdem der Kläger nach eigenen Angaben bereits 17 Jahre alt ist, nach Annahme des Beklagten hingegen vor ca. drei Monaten 19 Jahre alt geworden sein soll.
54
Im streitgegenständlichen Fall spricht für einen Zweifelsfall, dass die Jugendämter der Stadt N. und des Landkreises Würzburg bei Durchführung der qualifizierten Inaugenscheinnahme zu sich widersprechenden Ergebnissen gekommen sind: Während das Jugendamt der Stadt N. aufgrund einer qualifizierten Inaugenscheinnahme vom 17. November 2022 davon ausgeht, dass der Kläger minderjährig sei, geht das Jugendamt des Landkreises Würzburg aufgrund einer am 3. Januar 2023 durchgeführten qualifizierten Inaugenscheinnahme davon aus, dass der Kläger volljährig sei. Nachvollziehbare Gründe für diese innerhalb eines Zeitraums von ca. 1½ Monaten zueinander erfolgten, widersprüchlichen Einschätzungen sind nicht erkennbar. Über die qualifizierte Inaugenscheinnahme des Jugendamts der Stadt N. liegen dem Gericht lediglich die in der „Gesprächsdokumentation Erstscreening“ vom 17. November 2022 enthaltenen Feststellungen vor. Über die qualifizierte Inaugenscheinnahme des Jugendamts des Landkreises Würzburg liegt ein gesondertes Protokoll vor. Dieses gibt jedoch den Inhalt und den Verlauf der qualifizierten Inaugenscheinnahme, insbesondere die Befragung des Klägers durch die Mitarbeiter des Beklagten nicht hinreichend konkret wieder, um sie gerichtlich nachprüfen und nachvollziehen zu können (vgl. zur Dokumentationspflicht OVG Bremen, B.v. 22.2.2016 – 1 B 303/15 – KommJur 2016, 223, 225). So stützt der Beklagte die Alterseinschätzung zum einen auf äußerliche Merkmale wie den Bartwuchs. Die vom Beklagten genannten körperlichen Merkmale (Stimmlage, Körperbau, Haare, Körperbehaarung, Bartwuchs, Adamsapfel) lassen nach Überzeugung des Gerichts indes keinen eindeutigen Schluss auf das Alter des Klägers zu. Denn eine Alterseinschätzung allein aufgrund bestimmter äußerlicher körperlicher Merkmale stellt für sich genommen regelmäßig keine ausreichende Grundlage dar. Dies gilt auch dann, wenn sie durch Personal erfolgt, das in diesem Bereich erfahren ist (vgl. BayVGH, B.v. 18.8.2016 – 12 CE 16.1570 – BeckRS 2016, 51383 Rn. 22).
55
Zum anderen zieht der Beklagte zwar neben den äußerlichen Merkmalen auch das Verhalten des Klägers heran, um seine Alterseinschätzung zu begründen. Auch in einer Gesamtschau dieser Begründungsansätze verbleiben indes Zweifel an der Volljährigkeit des Klägers. Soweit sich der Beklagte zur Begründung seiner Alterseinschätzung auf die Gesprächsführung durch den Kläger während der qualifizierten Inaugenscheinnahme beruft, gibt er an, dass sich der Kläger sehr reflektiert verhalten, altersuntypische Fragen und kritische Nachfragen gestellt haben soll. Diese sind jedoch weder ihrem Wortlaut noch ihrem Inhalt nach festgehalten worden, so dass diese Einschätzung vom Gericht inhaltlich nicht nachvollzogen werden kann.
56
Des Weiteren war nach Aktenlage auch für den Beklagten selbst aufgrund der qualifizierten Inaugenscheinnahme nicht evident, dass der Kläger volljährig ist. Nachdem zunächst davon ausgegangen wurde, dass zum Zeitpunkt der qualifizierten Inaugenscheinnahme keine abschließende Einschätzung bezüglich der Frage der Volljährigkeit möglich sei, ist erst nach einer Teambesprechung in einer überarbeiteten Fassung des Protokolls vom 3. Januar 2023 festgehalten worden, dass von Volljährigkeit auszugehen sei. Auch wenn Teambesprechungen sinnvoll sein können, soweit sie beispielsweise der einheitlichen Anwendung von Kriterien und der Schulung der Mitarbeiter dienen, so weckt dies doch Zweifel daran, dass der Kläger allein aufgrund einer Inaugenscheinnahme evident, also eindeutig und ohne jeden vernünftigen Zweifel als minder- oder als volljährig eingestuft werden konnte. Sind sich zwei erfahrene Fachkräfte, welche die qualifizierte Inaugenscheinnahme nach dem Vier-Augen-Prinzip durchführen, aufgrund der durchgeführten qualifizierten Inaugenscheinnahme nicht gleichsam „auf Anhieb“ sicher, ob der Betroffene minderjährig oder volljährig ist, sondern sehen Rücksprachebedarf, liegt regelmäßig ein Zweifelsfall im Sinne des § 42f Abs. 2 Satz 1 SGB VIII vor, weil dann die erforderliche Eindeutigkeit und Offensichtlichkeit der Volljährigkeit des Betroffenen fehlt. Andernfalls bestünde keine Notwendigkeit eines näheren Hinsehens im Rahmen einer Teambesprechung.
57
Zweifel an der Volljährigkeit ergeben sich ferner daraus, dass der Kläger nach seinen Angaben in Bulgarien mit dem Geburtsdatum … … 2006, mithin als minderjährig geführt worden ist. Seiner Antragsschrift lag zum Nachweis eine Kopie eines bulgarischen Dokuments bei, welches allerdings nicht in deutscher Sprache vorliegt, so dass das Gericht den Inhalt des Dokuments nicht nachvollziehen konnte. Es gibt nach Aktenlage aber auch keine Anhaltspunkte dafür, dass der Kläger insoweit falsche Angaben gemacht hat. Soweit er in Bulgarien möglicherweise im Gefängnis war (im Erstabfrageblatt vom 21.12.2022 findet sich eine entsprechende, mit Fragezeichen versehene Angabe), steht dies der Behauptung, er sei in Bulgarien als minderjährig eingestuft worden, nicht entgegen, da freiheitsentziehende Maßnahmen gegenüber Minderjährigen (selbst in Deutschland) nicht generell ausgeschlossen sind. Zudem ist bei der Befragung durch das Jugendamt der Stadt N. angegeben worden, der Kläger sei in einer Einrichtung mit anderen Minderjährigen gewesen.
58
Schließlich hat der Kläger glaubhaft und unwidersprochen angegeben, das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge führe ihn mit dem Geburtsdatum … … 2006 und bearbeite den Antrag daher ohne Vormund nicht. Ein Nachweis hierüber steht noch aus. Allerdings erscheint diese Angabe nach Aktenlage glaubhaft. Sie bestärkt die in einer Gesamtschau aller anderen dargestellten Umstände im konkreten Fall ohnehin bereits bestehenden Zweifel an der Volljährigkeit, auch wenn die Einschätzung des Bundesamts für das streitgegenständliche Verfahren nicht verbindlich ist.
59
Zu Recht hat der Kläger zudem kritisiert, dass sich jedenfalls der bei Antragstellung vorliegenden Einschätzung des Beklagten, soweit sie dokumentiert wurde, nicht entnehmen ließ, ob bei der Würdigung des Verhaltens des Klägers auch geprüft und berücksichtigt wurde, inwieweit sich ein möglicherweise beobachtetes reifes Verhalten durch kulturelle Hintergründe erklären lässt oder durch den Umstand, dass der Kläger über längere Zeit auf sich allein gestellt war, weil er alleine durch mehrere für ihn fremde Länder und mit nur gelegentlicher Unterstützung durch Verwandte (hier zum Beispiel insbesondere durch seinen Bruder in der Türkei) von Syrien nach Deutschland gereist ist. Mit seiner Klageerwiderung vom 15. März 2023 hat der Beklagte zwar seine Begründung inzwischen dahingehend ergänzt, dass bei der Alterseinschätzung berücksichtigt worden sei, dass aufgrund der Hintergrundgeschichte und der individuellen Körperentwicklung jeder Fall einzeln betrachtet werden müsse. Selbst wenn man aufgrund dieser – sehr pauschalen – Ergänzung zugunsten des Beklagten unterstellen würde, dass er die genannten Gesichtspunkte bei seiner Alterseinschätzung tatsächlich angemessen einbezogen hätte, bestünden indes nach Überzeugung des Gerichts aus den anderen vorstehend dargestellten Gründen Zweifel an der Volljährigkeit des Klägers.
60
Auch die in der Akte befindlichen Lichtbilder des Klägers lassen keinen eindeutigen Rückschluss darauf zu, ob der Kläger volljährig oder minderjährig ist.
61
Die Frage des Alters des Klägers und der diesbezüglich tatsächlich erfolgten, bislang nur kursorisch dokumentierten Feststellungen des Beklagten bedürfen daher weiterer Aufklärung im Hauptsacheverfahren. Sollte sich die Frage, ob der Kläger bereits 18 Jahre alt ist oder nicht, auch im Hauptsacheverfahren nicht abschließend klären lassen, ginge dies voraussichtlich zulasten des Beklagten. Denn dieser ist nach allgemeinen Beweislastregeln beweispflichtig hinsichtlich der Umstände, die die Rechtswidrigkeit des aufgehobenen Bescheids vom 26. Januar 2023 begründen. Hierzu gehört auch der Umstand, dass der Kläger bereits im Zeitpunkt der Aufhebungsentscheidung mindestens 18 Jahre alt war.
62
Des Weiteren könnte der angefochtene Bescheid vom 30. Januar 2023, dem Kläger zugegangen am 2. Februar 2023, rechtswidrig sein, wenn und soweit er den Bescheid vom 26. Januar 2023 über die Inobhutnahme des Klägers mit Wirkung für die Vergangenheit zurücknimmt. Aus der Begründung des Bescheids vom 30. Januar 2023 und der darin enthaltenen Darstellung der Ermessenserwägungen des Beklagten geht nicht hervor, ob und inwieweit der Beklagte bei Erlass der Entscheidung über die Aufhebung und Beendigung der Inobhutnahme von einer Rücknahme für die Vergangenheit ausgegangen ist und dies bei der Prüfung von Vertrauensgesichtspunkten berücksichtigt hat. Dies wird auch davon abhängen, ob der Bescheid vom 30. Januar 2023 als erstmalige, eigenständige Regelung der Aufhebung und Beendigung der Inobhutnahme einzuordnen ist oder einen bereits am 26. Januar 2023 mündlich erlassenen Verwaltungsakt schriftlich bestätigt.
63
Die Klage erscheint auch nicht mutwillig (§ 166 VwGO i.V.m. § 114 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 ZPO).
64
Ferner hat der Kläger durch die vorgelegten Prozesskostenhilfeunterlagen und seine ergänzenden Auskünfte im Schriftsatz vom 23. März 2023 hinreichend glaubhaft gemacht, dass er die Kosten der Prozessführung im Zeitpunkt dieser Entscheidung nach seinen persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse nicht aufbringen kann. Hierbei hat das Gericht auch die im Verfahren W 3 S 23.154 vorgelegten Erklärungen berücksichtigt. Die Vorlage einer zusätzlichen Erklärung für das Hauptsacheverfahren zu verlangen, stellt sich in der vorliegenden Konstellation als überflüssige Förmelei dar, da sich seit Einreichung der Erklärung über die persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse des Klägers im Eilverfahren ersichtlich nichts verändert hat und eine neue Erklärung denselben Inhalt haben würde (vgl. OVG Hamburg, B.v. 14.1.2015 – 4 Bf 196/14.Z – BeckRS 2015, 44390). Unter Berücksichtigung der Regelung des § 1688 Abs. 1 Satz 2 BGB erscheint es zudem unschädlich, das die Erklärung über die persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse durch die Pflegemutter und nicht durch den Kläger persönlich unterzeichnet worden ist. Die Klägerseite hat im Verfahren W 3 S 23.154 eine Bescheinigung des Beklagten vom 16. Dezember 2022 vorgelegt, dass sie Pflegeperson im Sinne des § 1688 BGB ist. Es bestehen keine Anhaltspunkte dafür, dies infrage zu stellen. Das Pflegeverhältnis war zwar mit Aufhebung der Inobhutnahme des Klägers beendet worden, wird aber inzwischen infolge der Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage gegen die Beendigung der Inobhutnahme, für welche Prozesskostenhilfe begehrt wird, mit Beschluss des Verwaltungsgerichts vom 22. März 2023 wieder fortgesetzt.
65
Mit Blick auf die Benennung eines zur Vertretung bereiten Rechtsanwalts war dem Kläger daher Prozesskostenhilfe für das gerichtskostenfreie Verfahren zu bewilligen. Eine anwaltliche Vertretung erscheint zur sachangemessenen Aufarbeitung der angesprochenen ungeklärten tatsächlichen und rechtlichen Fragestellungen nach Maßgabe des § 166 VwGO i.V.m. § 121 Abs. 2 ZPO erforderlich. Die Vertretung des Klägers durch seine gegenwärtige Prozessbevollmächtigte vermag dies nicht in gleichem Maße zu gewährleisten, da es sich um eine juristische Laiin handelt.
66
Einer Kostenentscheidung bedarf es nicht. In Verfahren über Prozesskostenhilfeanträge werden weder Gerichtskosten erhoben noch dem Gegner entstandene Kosten erstattet (vgl. § 166 VwGO i.V.m. § 118 Abs. 1 Satz 4 ZPO).