Titel:
Nachträgliche Geltendmachung von Prüfungsunfähigkeit
Normenkette:
JAPO § 10 Abs. 2 S. 1, Abs. 5, § 63 Abs. 1 Nr. 2 lit. b, § 72 Abs. 3 Nr. 2
Leitsätze:
1. Die Obliegenheit des Prüflings, seine Prüfungsunfähigkeit vor Beginn der Prüfung „unverzüglich“ (§ 10 Abs. 2 Satz 1 JAPO) bzw. nach abgelegter Prüfung gemäß § 10 Abs. 5 Satz 2 JAPO „unmittelbar im Anschluss an die Abgabe der schriftlichen Arbeit“ geltend zu machen, ist Teil seiner auf dem Prüfungsrechtsverhältnis beruhenden Pflicht, im Prüfungsverfahren mitzuwirken. (Rn. 22)
2. Sowohl § 10 Abs. 2 Satz 1 JAPO als auch § 10 Abs. 5 Satz 2 JAPO erfordern vom Prüfling ein alsbaldiges Handeln ohne vorwerfbare Verzögerung. (Rn. 24)
3. Der dabei einzuhaltende zeitliche Rahmen wird durch die konkreten Umstände des jeweiligen Einzelfalls bestimmt. Dabei ist dem Betroffenen eine angemessene Prüfungs- und Überlegungszeit zuzubilligen. (Rn. 27)
4. Eine Mitwirkung des Prüflings kann auch dann, wenn die Prüfungsunfähigkeit nachträglich geltend gemacht wird, nur im Rahmen des ihm Zumutbaren verlangt werden. (Rn. 31)
Schlagworte:
Prüfungsrecht, Zweites Juristisches, Staatsexamen, Nachträgliche Geltendmachung von Prüfungsunfähigkeit, Grundsatz der Chancengleichheit
Vorinstanz:
VG Würzburg, Urteil vom 05.05.2021 – W 2 K 21.541
Fundstellen:
NJW 2024, 1205
BeckRS 2023, 20804
LSK 2023, 20804
Tenor
I. Das Urteil des Verwaltungsgerichts Würzburg vom 5. Mai 2021 wird aufgehoben. Der Beklagte wird – unter Aufhebung des Bescheids vom 29. Januar 2020 – verpflichtet, dem Kläger die Nachfertigung der Aufgaben 6 bis 9 der Zweiten Juristischen Staatsprüfung zu gestatten.
II. Der Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens in beiden Rechtszügen.
III. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar. Der Beklagte darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des zu vollstreckenden Betrags abwenden, wenn nicht der Kläger vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.
IV. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
1
Der Kläger wendet sich mit seiner Berufung gegen ein Urteil des Verwaltungsgerichts Würzburg, mit dem dieses seine Verpflichtungsklage abgewiesen hat, ihm wegen krankheitsbedingter Prüfungsunfähigkeit am 10. Dezember 2019 (Aufgabe 11) zu gestatten, die nach der JAPO erforderlichen schriftlichen Aufgaben des zweiten Teils der Zweiten Juristischen Staatsprüfung nachzufertigen.
2
Der Kläger war zur Zweiten Juristischen Staatsprüfung 2019/2 (26.11. bis 10.12.2019) zugelassen. Mit Bescheid vom 30. Oktober 2019 war ihm die Arbeitszeit zur Anfertigung der schriftlichen Arbeiten um 75 Minuten je Prüfungstag verlängert worden (Nachteilsausgleich). Er erzielte in der Zweiten Juristischen Staatsprüfung 2019/2 die Prüfungsgesamtnote ausreichend (* …*).
3
Nach Beendigung des schriftlichen Teils der Zweiten Juristischen Staatsprüfung am 10. Dezember 2019, machte er mit E-Mail vom selben Tag um 21:43 Uhr gegenüber dem Landesjustizprüfungsamt (LJPA) geltend, die Aufgaben 10 (Montag, 9.12.2019) und 11 (Dienstag, 10.12.2019) in einem – aus im Einzelnen näher aufgezeigten Gründen – von ihm nicht zu vertretenden Zustand der Prüfungsunfähigkeit abgelegt zu haben.
4
Mit E-Mail vom 13. Dezember 2019 wies ihn das LJPA (Frau K.) darauf hin, dass er die Verhinderung bei der Abgabe der Aufgabe hätte anzeigen müssen. Daraufhin präzisierte der Kläger seine Ausführungen mit E-Mail vom 16. Dezember 2019 und legte ein Amtsärztliches Zeugnis des Gesundheitsamts Würzburg vom 12. Dezember 2019 vor, aus dem sich ergibt, dass er seit Sonntag, 8. Dezember 2019, an einem progredienten Unterlippenabszess litt. Aufgrund von ausstrahlenden Schmerzen mit Kopfschmerzen und reduzierter Leistungsfähigkeit unter medikamentöser Therapie habe aus amtsärztlicher Sicht mit hoher Wahrscheinlichkeit vom 9. Dezember bis einschließlich 11. Dezember 2019 Prüfungsunfähigkeit vorgelegen. Einen Zusammenhang mit bekannten Vorerkrankungen des Klägers gebe es nicht. Ein Ärztliches Attest der Praxis Familienmedizin Würzburg vom 10. Dezember 2019 bestätigt, dass der Kläger am 9. und am 10. Dezember 2019 dort wegen des Unterlippenabszesses behandelt bzw. in die Mund-, Kiefer- und Gesichtschirurgie überwiesen worden war. Der Befundbericht des Instituts für Hygiene und Mikrobiologie vom 11. Dezember 2019 dokumentiert einen Unterlippenabszess mit multiresistentem Keim.
5
Mit Bescheid vom 28. Januar 2020 lehnte das LJPA den Antrag des Klägers auf nachträgliche Geltendmachung krankheitsbedingter Prüfungsunfähigkeit bei Anfertigung der Aufgaben 10 und 11 der Zweiten Juristischen Staatsprüfung 2019/2 ab. Zur Begründung führte das LJPA im Wesentlichen aus, der Antrag sei nicht fristgerecht gestellt worden. Eine Geltendmachung per E-Mail am Dienstag, 10. Dezember 2019, 21:43 Uhr sei nicht mehr „unmittelbar“ i.S.v. § 10 Abs. 5 Satz 1 JAPO.
6
Der Kläger erhob daraufhin Verpflichtungsklage zum Verwaltungsgericht, die er allein damit begründete, während der Aufgabe 11 am 10. Dezember 2019 prüfungsunfähig gewesen zu sein. Das Verwaltungsgericht wies die Klage mit Urteil vom 5. Mai 2021 ab. Es stellte im Wesentlichen fest, dass der Kläger am 10. Dezember 2019 zwar prüfungsunfähig i.S.v. § 10 Abs. 5 Satz 1 JAPO war. Die durch den Abszess an seiner Lippe bedingte Beeinträchtigung seiner Leistungsfähigkeit ergebe sich nachvollziehbar und widerspruchsfrei aus den ärztlichen bzw. amtsärztlichen Attesten. Jedoch habe der Kläger diese Prüfungsunfähigkeit nicht rechtzeitig geltend gemacht. An das Erfordernis der unmittelbaren Geltendmachung aus § 10 Abs. 5 Satz 2 JAPO sei ein strenger Maßstab anzulegen. Nach den Umständen des Einzelfalls habe der Kläger vorliegend mit der E-Mail vom 10. Dezember 2019 um 21:43 Uhr seine Prüfungsunfähigkeit nicht zum frühestmöglichen Zeitpunkt gegenüber dem LJPA angezeigt. Ein einmaliger Anrufversuch beim LJPA habe den Kläger nicht von der Obliegenheit befreit, die Prüfungsunfähigkeit unmittelbar nach Abgabe der Prüfungsarbeit geltend zu machen. Er hätte daher erneut versuchen müssen, das LJPA zu erreichen. Darüber hinaus wäre es ihm jedenfalls möglich gewesen, seine Prüfungsunfähigkeit zeitnah mittels E-Mail von seinem mitgeführten Smartphone aus geltend zu machen. Zwar werde nicht verkannt, dass der Kläger Schmerzen gehabt habe und psychisch angespannt gewesen sei, jedoch wäre es ihm möglich und zumutbar gewesen, die Prüfungsunfähigkeit ca. sechs Stunden früher als tatsächlich geschehen, anzuzeigen.
7
Mit der vom Senat zugelassenen Berufung verfolgt der Kläger sein Rechtsschutzziel weiter. Er trägt im Wesentlichen vor, er habe seine Prüfungsunfähigkeit unter Berücksichtigung der konkreten Umstände rechtzeitig geltend gemacht. Während der Anfertigung von Aufgabe 11 habe er unter einem großen und schmerzhaften Abszess an der Unterlippe gelitten. Trotz Einnahme von Antibiotikum und Schmerzmitteln habe der Schmerz sehr stark in Kopf, Zähne und Kiefer ausgestrahlt. Er habe sich nach dem Ende der Bearbeitungszeit nur noch darauf konzentrieren können, den Abszess ärztlich behandeln und attestieren zu lassen. Er sei nicht mehr in der Lage gewesen „einen klaren Gedanken zu fassen“. Unmittelbar im Anschluss an die letzte Klausur (Aufgabe 11) habe er versucht, das LJPA unter der auf der Ladung angegebenen Telefonnummer zu kontaktieren, jedoch auch nach längerem Klingeln dort niemanden erreicht. Er habe vorgehabt, es nach dem Besuch beim Gesundheitsamt erneut zu versuchen. Seine Schmerzen seien jedoch am Nachmittag des 10. Dezember 2019 so stark gewesen, dass es ihm nicht möglich gewesen sei, weitere Anrufversuche beim LJPA zu tätigen bzw. eine E-Mail zu verfassen. Erst nach der Operation im Universitätsklinikum habe er sich auf die Problematik der Geltendmachung einer Prüfungsunfähigkeit zurückbesinnen können. Da er bereits in der Vergangenheit krankheitsbedingt prüfungsunfähig gewesen sei, habe er um die Wichtigkeit eines am Prüfungstag ausgestellten amtsärztlichen Attests gewusst. Daher habe für ihn – neben Schmerzlinderung und Behandlung des Abszesses – die Erlangung eines solchen im Vordergrund gestanden. Er sei nicht in der Lage gewesen, in der Zwischenzeit prüfungsspezifische Vorteile aus der Situation zu ziehen. Zudem berufe er sich auf seine psychiatrische Grunderkrankung, er leide an einer Zwangserkrankung, die sich in Zwangshandlungen und Zwangsgedanken äußere. Aufgrund dieser Erkrankung habe ihm das LJPA den Nachteilsausgleich gewährt. Er sei am Ende der Arbeitszeit vollkommen überfordert gewesen.
9
das Urteil des Verwaltungsgerichts Würzburg vom 5. Mai 2021 aufzuheben und den Beklagten unter Aufhebung des Bescheids vom 29. Januar 2020 zu verpflichten, ihm unter Anerkennung von Prüfungsunfähigkeit die Wiederholung der Klausuren 7 bis 11 zu gestatten.
10
Der Beklagte beantragt,
11
die Berufung zurückzuweisen
12
und beruft sich auf seine Ausführungen im Berufungszulassungsverfahren. Ferner bringt er vor, das Verhalten des Klägers am Nachmittag des 10. Dezember 2019 bringe ein planvolles Vorgehen im Zusammenhang mit der beabsichtigten Geltendmachung der Prüfungsunfähigkeit zum Ausdruck, welches gegen die vom Kläger vorgetragene komplette situations- und schmerzbedingte Überforderung am Prüfungstag spreche. Auf der Homepage des LJPA seien gut sichtbar Notfallrufnummern hinterlegt. Im Fall der Ablegung einer Prüfung im Zustand von Prüfungsunfähigkeit habe die Geltendmachung der Prüfungsunfähigkeit „unmittelbar im Anschluss an die Abgabe“ der Prüfungsaufgabe zu erfolgen. Dies folge unmissverständlich aus § 10 Abs. 5 Satz 2 JAPO. Ein „unverzügliches“ Handeln genüge hingegen nur für den Nachweis der Prüfungsunfähigkeit. Die hier einschlägige Vorschrift des § 10 Abs. 5 Satz 2 JAPO unterscheide sich in ganz erheblicher Weise von § 18 Abs. 2 ÄApprO, daher sei die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts zum Begriff der „Unverzüglichkeit“ im Urteil vom 7. Oktober 1988 – 7 C 8.88 – (juris) vorliegend nicht anwendbar. Selbst wenn man diese heranzöge, verkenne das Bundesverwaltungsgericht in dieser Entscheidung, dass der Prüfling allein durch die Geltendmachung seiner tatsächlichen oder vermeintlichen Prüfungsunfähigkeit keinerlei Risiko eingehe. Zudem hätte der Kläger auch bei Anwendung der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts den Rücktritt wegen Prüfungsunfähigkeit nicht rechtzeitig geltend gemacht. Er habe versucht, sich eine wettbewerbswidrige zusätzliche Prüfungschance zu verschaffen. Bereits am Vortag sei ihm bewusst gewesen, dass er prüfungsunfähig gewesen sei und er habe die letzte Prüfungsaufgabe nur mitgeschrieben, weil er nicht sicher gewesen sei, ob das LJPA seine Prüfungsunfähigkeit anerkennen werde. Gleichwohl habe er dann die Prüfungsunfähigkeit am Tag der letzten Klausur erst knapp sieben Stunden nach deren Abgabe geltend gemacht. Dies lasse sich nur so erklären, dass er sich nach Anfertigung der Prüfungsarbeit zunächst noch die Möglichkeit habe offen halten wollen, darüber zu disponieren, ob sie gelten solle oder nicht. Erst am Abend sei er dann zu der Überzeugung gelangt, dass er die gestellte Aufgabe mangelhaft bearbeitet habe und es für ihn vorteilhafter sei, Prüfungsunfähigkeit geltend zu machen.
13
In der mündlichen Verhandlung vor dem Verwaltungsgerichtshof am 21. März 2023 haben die Beteiligten auf die Durchführung einer weiteren mündlichen Verhandlung verzichtet.
14
Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf das Protokoll über die mündliche Verhandlung sowie auf die Gerichts- und die vorgelegten Behördenakten Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
15
Der Senat entscheidet mit Einverständnis der Beteiligten ohne weitere mündliche Verhandlung, § 125 Abs. 1, § 101 Abs. 2 VwGO.
16
Die zulässige Berufung des Klägers hat Erfolg. Der Kläger hat seine bei Bearbeitung der Aufgabe 11 des schriftlichen Teils der Zweiten Juristischen Staatsprüfung 2019/2 bestehende Prüfungsunfähigkeit rechtzeitig i.S.v. § 10 Abs. 5 Satz 2 JAPO geltend gemacht. Unter Aufhebung des Urteils des Verwaltungsgerichts Würzburg vom 5. Mai 2021 sowie des Bescheids des Landesjustizprüfungsamts vom 29. Januar 2020 war der Beklage zu verpflichten, dem Kläger die Nachfertigung der Aufgaben 6 bis 9 der Zweiten Juristischen Staatsprüfung zu gestatten.
17
A. Gemäß § 10 Abs. 5 Satz 1 der Ausbildungs- und Prüfungsordnung für Juristen (v. 13.10.2003, GVBl 2003, 758 in der bis 30.11.2020 geltenden Fassung, die im Wesentlichen der seit 1.12.2020 geltenden Fassung entspricht) – JAPO – ist ein Prüfungsteilnehmer, der eine Prüfungsleistung in einem nicht zu vertretenden Zustand der Prüfungsunfähigkeit abgelegt hat, berechtigt, nachträglich eine Verhinderung geltend zu machen und nachzuweisen. Die Geltendmachung der Prüfungsunfähigkeit hat in diesem Fall unmittelbar im Anschluss an die Abgabe der schriftlichen Arbeit oder sonstigen Aufzeichnungen oder die Ablegung der mündlichen Prüfung zu erfolgen, § 10 Abs. 5 Satz 2 JAPO. Der Nachweis der Prüfungsunfähigkeit ist im Fall einer Krankheit gemäß § 10 Abs. 5 Satz 1, Abs. 2 Satz 2 JAPO u.a. durch ein Zeugnis eines Gesundheitsamts zu erbringen, das in der Regel nicht später als am Prüfungstag ausgestellt sein darf. Die Rechtsfolgen der Verhinderung bestimmen sich für die Zweite Juristische Staatsprüfung nach § 10 Abs. 5 Satz 1, Abs. 4, § 63 JAPO.
18
B. Der Kläger erfüllt die Voraussetzungen von § 10 Abs. 5 Satz 1 und 2, Abs. 2 Satz 2 JAPO.
19
I. Der Kläger hat Aufgabe 11 der Zweiten Juristischen Staatsprüfung 2019/2 am Dienstag, 10. Dezember 2019, in einem nicht zu vertretenden Zustand der Prüfungsunfähigkeit abgelegt. Ausweislich des dem LJPA vorgelegten amtsärztlichen Attests vom 12. Dezember 2019 war er – jedenfalls – bei Bearbeitung der Aufgabe 11 aufgrund eines Abszesses krankheitsbedingt prüfungsunfähig. Insoweit besteht zwischen den Beteiligten Einigkeit.
20
II. Entgegen der Ansicht von Verwaltungsgericht und Beklagtem hat der Kläger die Prüfungsunfähigkeit rechtzeitig i.S.v. § 10 Abs. 5 Satz 2 JAPO geltend gemacht.
21
1. Das Verwaltungsgericht ist dabei zu Recht davon ausgegangen, dass an die Rechtzeitigkeit der Geltendmachung einer nachträglichen Prüfungsunfähigkeit ein strenger Maßstab anzulegen ist. Denn die nachträgliche Geltendmachung von Prüfungsunfähigkeit berührt in besonderem Maße den das gesamte Prüfungsrecht beherrschenden, verfassungsrechtlich gewährleisteten Grundsatz der Chancengleichheit (Art. 3 Abs. 1 Satz 1, Art. 12 Abs. 1 GG). Gerade dann, wenn ein Prüfling bereits an einer Prüfung teilgenommen hat, besteht die Gefahr, dass er seine Chancen gegenüber seinen Mitprüflingen gleichheitswidrig zu verbessern versucht, indem er sich durch die Geltendmachung der Prüfungsunfähigkeit eine ihm nicht zustehende weitere Prüfungschance verschafft. Wäre eine nachträgliche Geltendmachung der Prüfungsunfähigkeit hingegen ausgeschlossen, würde dem prüfungsunfähigen Prüfling gleichheitswidrig die Chance genommen, seine wirkliche Leistungsfähigkeit darzustellen. Diese Gefährdung der Chancengleichheit lässt sich – so die Wertung des Verordnungsgebers in § 10 Abs. 5 Satz 2 JAPO – dadurch verringern, dass dem LJPA eine eigene, möglichst zeitnahe Überprüfung der Gründe für die nachträgliche Geltendmachung Prüfungsunfähigkeit ermöglicht wird. Voraussetzung hierfür ist, dass die Gründe dem Prüfungsamt frühzeitig bekannt werden. Daher hat sich ein Prüfling darüber Kenntnis zu verschaffen, ob seine Leistungsfähigkeit durch außergewöhnliche Umstände, insbesondere durch Krankheit, erheblich beeinträchtigt ist; bejahendenfalls hat er daraus unverzüglich die in der jeweiligen Prüfungsordnung vorgesehenen Konsequenzen zu ziehen, und zwar bei krankheitsbedingter Prüfungsunfähigkeit grundsätzlich vor Beginn der Prüfung, spätestens aber dann, wenn er sich ihrer bewusst geworden ist (vgl. BVerwG, B.v. 27.9.2022 – 6 B 20.22 – juris Rn. 14; U.v. 13.5.1998 – 6 C 12.98 – juris Rn. 23; BVerwG, U.v. 7.10.1988 – 7 C 8.88 – juris Rn. 11 f.).
22
2. Die Obliegenheit des Prüflings, seine Prüfungsunfähigkeit vor Beginn der Prüfung „unverzüglich“ (§ 10 Abs. 2 Satz 1 JAPO) bzw. nach abgelegter Prüfung gemäß § 10 Abs. 5 Satz 2 JAPO „unmittelbar im Anschluss an die Abgabe der schriftlichen Arbeit“ geltend zu machen, ist Teil seiner auf dem Prüfungsrechtsverhältnis beruhenden Pflicht, im Prüfungsverfahren mitzuwirken. Sie findet ihren Rechtsgrund in dem auch im Prüfungsrechtsverhältnis geltenden Grundsatz von Treu und Glauben. Hieraus ergibt sich freilich auch ihre Begrenzung; der Beklagte übersieht mit seinem Hinweis auf die „differenzierten“ Formulierungen in § 10 Abs. 2 Satz 1 JAPO („unverzüglich“) und § 10 Abs. 5 Satz 2 JAPO („unmittelbar im Anschluss an die Abgabe der schriftlichen Arbeit …“), dass es im Hinblick auf Art. 12 Abs. 1 GG sowie Art. 3 Abs. 1 GG und § 242 BGB bei der Auslegung dieser unbestimmten Rechtsbegriffe keinen wesentlichen Unterschied geben kann. Beide erfordern vom Prüfling ein alsbaldiges Handeln ohne vorwerfbare Verzögerung. Welche zeitlichen Vorgaben dabei einzuhalten sind, lässt sich in beiden Fällen nicht abstrakt bestimmen. Der einzuhaltende zeitliche Rahmen wird durch die konkreten Umstände des jeweiligen Einzelfalls determiniert. Dabei ist dem Betroffenen eine den Umständen des Einzelfalls angepasste Prüfungs- und Überlegungszeit zuzubilligen (vgl. BVerwG, U.v. 7.10.1988 – 7 C 8.88 – juris Rn. 15). Eine Mitwirkung des Prüflings kann damit auch dann, wenn die Prüfungsunfähigkeit nachträglich geltend gemacht wird, nur im Rahmen des ihm Zumutbaren verlangt werden; der Prüfling verletzt die Obliegenheit zur Mitwirkung nur, wenn er ihr hätte nachkommen können und müssen. Eine Verletzung der Mitwirkungspflicht muss also – im Sinne eines „Verschuldens gegen sich selbst“ – vorwerfbar sein.
23
3. In diesem Sinne bedeutet die Formulierung „unmittelbar im Anschluss an die Abgabe der schriftlichen Arbeit“ deshalb nicht – wie der Beklagte meint – „sofort“ nach Abgabe der Prüfungsarbeit, sondern sie beinhaltet in gleicher Weise wie die „unverzügliche“ Geltendmachung (vgl. § 10 Abs. 2 Satz 1 JAPO) neben dem Zeitein Zumutbarkeitsmoment. Eine nachträgliche Geltendmachung der Prüfungsunfähigkeit ist lediglich dann nicht mehr „unmittelbar im Anschluss an die Abgabe der schriftlichen Arbeit“ i.S.v. § 10 Abs. 5 Satz 2 JAPO erfolgt, wenn sie nicht zum frühestmöglichen Zeitpunkt erklärt wird, in dem dies vom Prüfling in zumutbarer Weise hätte erwartet werden können (vgl. BVerwG, U.v. 7.10.1988 – 7 C 8.88 – juris Rn. 10, 13; U.v. 13.5.1998 – 6 C 12.98 – juris Rn. 20; Jeremias in Fischer/Jeremias/Dieterich, Prüfungsrecht, 8. Aufl. 2022, Rn. 283).
24
Entgegen der Ansicht des Beklagten ist die zu § 18 Abs. 1 ÄApprO (i.d.F. der Bekanntmachung der ÄApprO vom 3. April 1979, BGBl. I S. 425, die durch die späteren Änderungsverordnungen nicht geändert wurde) ergangene Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts auf § 10 Abs. 5 Satz 2 JAPO übertragbar. Sowohl das Urteil vom 7. Oktober 1988 – 7 C 8.88 – (juris) als auch das Urteil vom 13. Mai 1998 – 6 C 12.98 – (juris) sind zur Frage der unverzüglichen Geltendmachung einer Prüfungsunfähigkeit ergangen, in der Entscheidung vom 7. Oktober 1988 ging es dezidiert um die Genehmigung eines nachträglichen Rücktritts und damit um eine vergleichbare tatsächliche Ausgangslage. Die vom Bundesverwaltungsgericht bei der Auslegung des unbestimmten Rechtsbegriffs „unverzüglich“ in § 18 Abs. 1 ÄApprO aufgezeigten Gefahren, die dem verfassungsrechtlich geschützten Gebot der Chancengleichheit im Fall eines Rücktritts von einer Prüfung drohen, unterscheiden sich nicht von denen des § 10 Abs. 5 Satz 2 JAPO. Mit § 18 Abs. 1 Satz 1 ÄApprO, der nach § 19 Abs. 2 Satz 2 ÄApprO für den nachträglichen Rücktritt entsprechend gilt, soll ebenso wie mit § 10 Abs. 5 Satz 2 JAPO sichergestellt werden, dass im Fall eines Prüfungsrücktritts das Gebot der Chancengleichheit gewahrt wird. Der Normzweck von § 18 Abs. 1 ÄApprO entspricht damit dem des § 10 Abs. 5 Satz 2 JAPO – und im Übrigen auch dem des § 10 Abs. 2 Satz 1 JAPO.
25
Mit seinen Ausführungen zu § 18 Abs. 2 ÄApprO übersieht der Beklagte, dass die dortige Rechtsfolge, wonach der Prüfungsabschnitt oder Prüfungsteil als nicht bestanden gilt, wenn die Genehmigung für den Rücktritt nicht erteilt wird oder es der Prüfling unterlässt, die Gründe für seinen Rücktritt unverzüglich mitzuteilen, nur dann eintritt, wenn der Prüfling die Prüfung oder den Prüfungsteil tatsächlich abgebrochen hat. Hat er indes die Aufsichtsarbeit vorsorglich fertiggestellt und abgegeben, so ist sie zu bewerten und das Prüfungsverfahren zu Ende zu führen. Die Ablehnung des Genehmigungsantrags hat nämlich nur die Wirkung, dass ein Rücktritt mit den ihm entsprechenden Folgen nicht stattfindet. Weitere Konsequenzen sind damit inhaltlich nicht verbunden und wären zudem unverhältnismäßig (Jeremias in Fischer/Jeremias/Dieterich, Prüfungsrecht, Rn. 296). Der vom Beklagten aufgezeigte systematische Unterschied besteht damit nicht. Der Maßstab, den das Bundesverwaltungsgericht in den zitierten Entscheidungen an die Unverzüglichkeit des Prüfungsrücktritts anlegt, gilt somit auch für die vorliegende Regelung des § 10 Abs. 5 Satz 2 JAPO (vgl. BayVGH, B.v. 9.5.2022 – 7 ZB 21.1805 – juris Rn. 14; B.v. 14.7.2020 – 7 ZB 18.1248 – juris Rn. 16).
26
4. Hieraus folgt, dass dem Prüfling wegen der weitreichenden Rechtsfolgen der nachträglichen Geltendmachung einer Prüfungsunfähigkeit ein Mindestmaß an Überlegungszeit zugebilligt werden muss, und zwar auch dann, wenn er die schriftliche Prüfung beendet und abgegeben hat. Ihm ist die Abwägung des Für und Wider der Geltendmachung der Prüfungsunfähigkeit zu ermöglichen: Macht er keine Prüfungsunfähigkeit geltend, so werden seine Prüfungsleistungen der Prüfungsentscheidung zu Grunde gelegt, auch wenn sie wegen der Beeinträchtigung seiner Prüfungsfähigkeit kein zutreffendes Bild seiner Leistungsfähigkeit zeigen. Macht er Prüfungsunfähigkeit geltend, legt er sein Schicksal in die Hand der Prüfungsbehörde, da er nicht wissen kann, ob diese eine Nachfertigung von Prüfungsaufgaben gestatten wird oder nicht (vgl. zum Rücktritt BVerwG, B.v. 27.9.2022 – 6 B 20.22 – juris Rn. 14; U.v. 7.10.1988 – 7 C 8.88 – juris Rn. 14 f.).
27
Eine angemessene Überlegungszeit ist dem Prüfling insbesondere dann einzuräumen, wenn die Geltendmachung der Prüfungsunfähigkeit aufgrund der konkreten Prüfungssituation besonders weitreichende Folgen für ihn hat. Sind gleich mehrere bereits erstellte Aufsichtsarbeiten von der nachträglichen Geltendmachung der Prüfungsunfähigkeit betroffen, kann es dem Prüfling, der während der Prüfung an Beschwerden leidet, nicht verwehrt werden, zunächst ärztlich abklären zu lassen, welche Bedeutung diese haben. Ferner muss sich der Prüfling fragen können, ob und unter welchen Voraussetzungen ihm der Nachweis seines Zustands gegenüber dem LJPA gelingen wird (vgl. BVerwG, U.v. 7.10.1988 – 7 C 8.88 – juris Rn. 16). Dem Prüfling ist regelmäßig die Zeit zu gewähren, die er für eine sorgfältige Abwägung aller für und gegen eine Geltendmachung der Prüfungsunfähigkeit sprechenden Belange benötigt. Welcher Zeitraum dies konkret ist, kann nicht generell, sondern nur nach den Umständen des Einzelfalls bestimmt werden (vgl. zum Rücktritt: Jeremias in Fischer/Jeremias/Dieterich, Prüfungsrecht, Rn. 287). Je eindeutiger die Situation ist, desto weniger zeitaufwendig werden diese Überlegungen sein (vgl. BVerwG, U.v. 7.10.1988 – 7 C 8.88 – juris Rn. 16). Sieht sich der Prüfling jedoch etwa Symptomen gegenüber, von denen er nicht weiß, ob sie bloße Begleiterscheinungen der Prüfungssituation oder aber Ausdruck einer Erkrankung sind, so muss aus einer etwas längeren Überlegungszeit, selbst wenn sie über ein paar Stunden hinausgeht, nicht stets der Vorwurf des schuldhaften Zögerns folgen. Einem Prüfling, der während einer Prüfung gesundheitliche Beschwerden hatte, kann regelmäßig nicht angelastet werden, wenn er zunächst – sofort nach der Prüfung – ärztlichen Rat einholt und erst danach alsbald die Entscheidung trifft, ob er die Prüfung gegen sich gelten lässt oder nicht (vgl. BVerwG, U.v. 7.10.1988 – 7 C 8.88 – juris Rn. 16).
28
5. Hieran gemessen hat der Kläger durch den Versand der E-Mail an das LJPA am 10. Dezember 2019 um 21:43 Uhr seine Prüfungsunfähigkeit (jedenfalls) in Bezug auf die Aufgabe 11 rechtzeitig i.S.v. § 10 Abs. 5 Satz 2 JAPO geltend gemacht.
29
a) Anders als der Beklagte meint, war es dem Kläger nicht zumutbar, die Prüfungsunfähigkeit bereits bei oder kurz nach Abgabe der Klausurbearbeitung gegenüber dem LJPA geltend zu machen. Es ist ihm schon nicht vorzuhalten, dass er sich sofort nach Abgabe der Bearbeitung von Aufgabe 11 zunächst in ärztliche Behandlung begeben hat. Zudem war ihm ein Mindestmaß an Überlegungszeit einzuräumen, ob er sich gegenüber dem LJPA auf seine – unstreitig feststehenden – gesundheitlichen Einschränkungen berufen wollte. Dem stehen die Ausführungen des Beklagten nicht entgegen.
30
aa) Der Kläger hatte schon mit Blick auf die konkrete Prüfungssituation einen Anspruch auf ein Mindestmaß an Überlegungszeit. Bei der streitgegenständlichen Aufgabe handelte es sich um die letzte der elf erforderlichen Aufsichtsarbeiten des schriftlichen Teils der Zweiten Juristischen Staatsprüfung 2019/2. Die erfolgreiche Geltendmachung der Prüfungsunfähigkeit in Bezug auf Aufgabe 11 hatte weitreichende rechtliche Konsequenzen für ihn: Gemäß § 63 Abs. 1 Nr. 2 Buchst. b JAPO bleiben infolge der Prüfungsunfähigkeit bei Aufgabe 11 auch die bereits bearbeiteten Aufgaben 7 bis 10 unberücksichtigt und müssen nachgefertigt werden. Die Entscheidung des Klägers, sich gegenüber dem LJPA auf Prüfungsunfähigkeit zu berufen, bedurfte daher sorgfältiger Überlegung. Dies verkennt der Beklagte mit seinem Einwand, die Einräumung einer Überlegungszeit sei in Fallgestaltungen wie der vorliegenden generell nicht erforderlich, da der Prüfling „allein durch die Geltendmachung seiner tatsächlichen oder vermeintlichen Prüfungsunfähigkeit keinerlei Risiko“ eingehe. Entgegen den Ausführungen des Beklagten handelt es sich nicht um eine Überlegungszeit zur Abwägung „taktischer Gesichtspunkte“ (Schriftsatz v. 6.4.2023 S. 4), sondern dem Prüfling ist zuzubilligen, die möglichen Konsequenzen seiner Entscheidung innerhalb angemessener Frist zu reflektieren. Selbst dann, wenn die erbrachten Leistungen andernfalls zur Grundlage der Prüfungsentscheidung gemacht werden, ändert das nichts daran, dass der Prüfling sich vor die Entscheidung gestellt sieht, ob er trotz möglicherweise vorliegender Prüfungsunfähigkeit die Prüfung gelten lassen oder ihre Annullierung anstreben soll.
31
bb) Auch in Anbetracht seiner gesundheitlichen Situation am 10. Dezember 2019 war es dem Kläger nicht zumutbar, die Prüfungsunfähigkeit an diesem Tag zu einem früheren Zeitpunkt geltend zu machen. Nach seinem Vorbringen, das durch die vorgelegten Atteste bestätigt und durch den Beklagten nicht bestritten wird, litt er am 10. Dezember 2019 an einem progredienten Unterlippenabszess (Familienmedizin Würzburg Dr. V. & Kollegen v. 10.12.2019), der durch einen multiresistenten Keim ausgelöst (Befundbericht des Instituts für Hygiene und Mikrobiologie v. 14.12.2019) und aufgrund ausstrahlender Schmerzen mit Kopfschmerzen und reduzierter Leistungsfähigkeit verbunden war (Amtsärztliches Zeugnis v. 12.12.2019). Zwar stellte der Kläger bereits während der Bearbeitung von Aufgabe 11 fest, dass die verordneten Medikamente keine Verbesserung seines Gesundheitszustands bewirkten, die Schmerzen sogar immer stärker wurden. Damit erfasste er zwar, dass er krankheitsbedingt in seiner Leistungsfähigkeit eingeschränkt war. Dies führte jedoch nicht dazu, dass es ihm zuzumuten gewesen wäre, bei bzw. kurz nach Abgabe von Aufgabe 11 – und damit vor der Konsultation eines Arztes – oder im Laufe des Nachmittags während der medizinischen Behandlung die Prüfungsunfähigkeit gegenüber dem LJPA geltend zu machen. Vielmehr musste dem Kläger die Möglichkeit eingeräumt werden, zunächst seine voranschreitende Erkrankung sowie das Ausmaß seiner Leistungseinschränkung medizinisch abklären zu lassen. Zudem musste er Überlegungen dazu anstellen können, ob und wie er die krankheitsbedingte Leistungseinschränkung gegenüber dem LJPA nachweisen konnte.
32
Entgegen der Auffassung des Verwaltungsgerichts war es dem Kläger daher nicht zuzumuten, bereits am Nachmittag bzw. frühen Abend des 10. Dezember 2019, sei es telefonisch oder per E-Mail, eine krankheitsbedingte Prüfungsunfähigkeit gegenüber dem LJPA geltend zu machen. Nicht entscheidungserheblich ist, ob dies dem Kläger krankheitsbedingt überhaupt möglich gewesen wäre. Denn den Kläger traf keine entsprechende Rechtspflicht. Das erstinstanzlich und seitens des Beklagten vom Kläger geforderte Vorgehen erweist sich als nicht sachgerecht und lässt sich durch die Zielsetzung des § 10 Abs. 5 Satz 2 JAPO nicht rechtfertigen (vgl. BVerwG, U.v. 13.5.1998 – 6 C 12.98 – juris Rn. 26). Die vom Verwaltungsgericht formulierten Anforderungen gehen über das aus Gründen der Chancengleichheit Notwendige hinaus.
33
cc) Gegen die Einräumung einer angemessenen Überlegungszeit kann der Beklagte zudem nicht erfolgreich einwenden, dass der Kläger bereits seit Sonntag, 8. Dezember 2019, an dem Abszess litt, und schon am Montag, 9. Dezember 2019, die Aufgabe 10 unter Schmerzen bearbeitet und deshalb am Nachmittag seine Hausarztpraxis aufgesucht habe. Der Kläger hat am 9. Dezember 2019 auf seine Erkrankung reagiert und versucht seine Prüfungsfähigkeit zu erhalten. Er durfte zunächst davon ausgehen, dass die ärztlich verordnete Medikation (Antibiotikum, Schmerzmittel) Wirkung zeitigen werde. Dass er an einem multiresistenten Keim litt, war zu diesem Zeitpunkt nicht bekannt (vgl. Befundbericht des Instituts für Hygiene und Mikrobiologie v. 14.12.2019). Der Beklagte kann somit nicht mit Erfolg einwenden, der Kläger sei bei Bearbeitung der Aufgabe 11 eine bewusste Risikoentscheidung eingegangen und könne sich daher nicht auf nachträgliche Prüfungsunfähigkeit berufen. Im Hinblick auf § 63 Abs. 1 Nr. 2 Buchst. b JAPO kommt es vorliegend nicht entscheidungserheblich auf die Prüfungsunfähigkeit des Klägers am 9. Dezember 2019 an.
34
dd) Auch das Vorbringen des Beklagten, das „planvolle Vorgehen“ des Klägers am Nachmittag des 10. Dezember 2019 zeige, dass er sich die Möglichkeit habe offen halten wollen, darüber zu disponieren, ob die Bearbeitung der Prüfungsaufgabe gelten solle oder nicht, verfängt nicht. Belastbare Anhaltspunkte dafür, dass die Behauptung des Beklagten zutrifft, der Kläger sei am Abend des Prüfungstags zum Ergebnis gelangt, dass er die gestellte Aufgabe mangelhaft bearbeitet habe und es für ihn doch vorteilhafter wäre, Prüfungsunfähigkeit geltend zu machen, sind weder vorgetragen noch ersichtlich. Es ist daher nicht davon auszugehen, dass der Kläger den Zeitraum bis zum Versand der E-Mail vorwerfbar ausgedehnt hat, um die Qualität seiner Prüfungsleistung zu reflektieren, und er schon vor dem Versand der E-Mail zu der sicheren Erkenntnis gelangt sei, die Aufgabe 11 nicht bestanden zu haben.
35
ee) Dem Kläger kann schließlich nicht vorgehalten werden, vor der medizinischen Behandlung seiner Erkrankung zunächst erneut beim Gesundheitsamt vorstellig geworden zu sein. § 10 Abs. 5 Satz 1, Abs. 2 Satz 2 JAPO fordert als Nachweis im Fall einer Krankheit ausdrücklich das Zeugnis eines Landgerichtsarztes oder eines Gesundheitsamts. Auf dieses Erfordernis weist auch das an den Kläger gerichtete Ladungsschreiben (v. 7.11.2019) hin. Aufgrund seiner Vorerfahrungen mit Prüfungsunfähigkeit ist sein Vorbringen nachvollziehbar, er habe so sicherstellen wollen, dass ein Amtsarzt seinen gesundheitlichen Zustand möglichst zeitnah zum Prüfungsgeschehen, vor einer möglichen operativen Öffnung des Abszesses, dokumentieren könne. Denn – auch hierauf weist die Ladung ausdrücklich hin – der Kläger trägt die materielle Beweislast für das tatsächliche Bestehen der Prüfungsunfähigkeit.
36
b) Die Geltendmachung der Prüfungsunfähigkeit erfolgte darüber hinaus in einem so engen zeitlichen Zusammenhang zur Abgabe der Aufgabe 11, dass von einer Geltendmachung „unmittelbar im Anschluss an die Abgabe der schriftlichen Arbeit“ i.S.v. § 10 Abs. 5 Satz 2 JAPO auszugehen ist.
37
Nach seinem unbestrittenen Vortrag und den vorgelegten Unterlagen war der Kläger im Zeitraum zwischen der Abgabe der Prüfungsaufgabe und seiner Rückkehr nach Hause durchgehend damit befasst, sich um die Dokumentation seiner Prüfungsunfähigkeit sowie um die medizinische Versorgung seiner fortschreitenden Erkrankung zu kümmern. Die Prüfungszeit des Klägers dauerte wegen des ihm gewährten Nachteilsausgleichs bis 15 Uhr. Der Kläger begab sich unmittelbar nach Abgabe der Aufgabe 11 zum Gesundheitsamt, wo er ein ärztliches Attest seines Gesundheitszustands zu erlangen suchte. Als er dort gegen 15:40 Uhr eintraf, wurde ihm mitgeteilt, dass kein Amtsarzt mehr zugegen sei, er vereinbarte daher dort einen Termin für Mittwoch, 11. Dezember 2019, 9:00 Uhr. Daraufhin suchte der Kläger sogleich seine Hausarztpraxis auf (Aufenthalt in der Praxis von 16:10 bis 17:00 Uhr). Die ihn dort behandelnde Ärztin überwies ihn unverzüglich in die Mund-, Kiefer- und Gesichtschirurgie am Universitätsklinikum Würzburg. Der Kläger begab sich sofort dorthin und wurde umgehend operiert.
38
Auch nach der Behandlung im Universitätsklinikum hat der Kläger die Geltendmachung der Prüfungsunfähigkeit nicht vorwerfbar verzögert. Nach seinem Vortrag kehrte er gegen 20:20 Uhr aus dem Klinikum nach Hause zurück, und verfasste daraufhin die E-Mail an das LJPA, in der er ausführlich seinen Gesundheitszustand und das zeitliche Geschehen am 10. Dezember 2019 schilderte und die er um 21:43 Uhr absandte. Unter Würdigung dieser Umstände hat der Kläger so zügig gehandelt, wie es von ihm erwartet werden konnte. Nach alledem ist vorliegend nichts dafür ersichtlich, dass sich der Kläger aus seiner Erkrankung ungerechtfertigte Vorteile, insbesondere eine wettbewerbswidrige zusätzliche Prüfungschance verschaffen wollte.
39
C. Da der Kläger nach alledem die Klausurbearbeitung der Aufgabe 11 in einem nicht zu vertretenden Zustand der Prüfungsunfähigkeit vorgenommen und dies rechtzeitig i.S.v. § 10 Abs. 5 Satz 2 JAPO gegenüber dem LJPA geltend gemacht hat, ist er berechtigt, als Ersatzarbeiten die Aufgaben 6 bis 9 nachzufertigen (§ 10 Abs. 5 Satz 1, Abs. 4, § 63 Abs. 1 Nr. 2 Buchst. b, § 72 Abs. 3 Nr. 2 Buchst. b JAPO).
40
Im Prüfungszeitpunkt des Klägers 2019/2 waren nach § 62 Abs. 1 Satz 1 JAPO in der bis 28. Februar 2022 maßgeblichen Fassung elf schriftliche Aufsichtsarbeiten zu fertigen. Seit dem Prüfungstermin 2022/1 ist gemäß § 62 Abs. 1 Satz 1 JAPO in der schriftlichen Prüfung der Zweiten Juristischen Staatsprüfung an neun Tagen je eine schriftliche Arbeit unter Aufsicht zu fertigen. Für den – hier vorliegenden – Fall, dass mindestens acht schriftliche Aufgaben bearbeitet und eine oder mehrere Aufgaben im zweiten Teil – Aufgaben 7 bis 11 – nicht bearbeitet wurden, sieht § 72 Abs. 3 Nr. 2 Buchst. b Satz 1 JAPO für Prüfungsteilnehmer der Zweiten Juristischen Staatsprüfung, die aufgrund einer Verhinderung oder einer Unzumutbarkeit in einem früheren Prüfungstermin schriftliche Prüfungsaufgaben ab dem Prüfungstermin 2022/1 nachzufertigen haben, dass die in diesem Teil gefertigten Arbeiten unberücksichtigt bleiben. Für diese Aufgaben sind nach § 72 Abs. 3 Nr. 2 Buchst. b Satz 2 i.V.m. § 63 Abs. 1 Nr. 2 Buchst. a JAPO in der am 1. März 2022 geltenden Fassung als Ersatzarbeiten die Aufgaben 6 bis 9 nachzufertigen. Der Kläger hat daher nach aktueller Rechtslage einen Anspruch auf Nachfertigung der Aufgaben 6 bis 9.
41
D. Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 154 Abs. 1 VwGO. Die Entscheidung zur vorläufigen Vollstreckbarkeit der Kostenentscheidung beruht auf § 167 VwGO i.V.m. § 709 ff. ZPO.
42
Die Revision ist nicht zuzulassen, weil die Voraussetzungen des § 132 Abs. 2 VwGO nicht vorliegen.