Titel:
Anforderungen an eine zur Briefkastenleerung ausgewählte Hilfsperson; zur Regelvermutung der waffenrechtlichen Unzuverlässigkeit bei Verurteilung wegen einer vorsätzlichen Straftat
Normenketten:
VwGO § 60, § 130 Abs. 2, § 173 S. 1
ZPO § 85 Abs. 2, § 238
WaffG § 5 Abs. 2 Nr. 1 lit. a, § 45 Abs. 2
Leitsätze:
1. Die Anforderungen an Auswahl, Unterweisung und Beaufsichtigung einer zur Briefkastenleerung ausgewählten Hilfsperson dürfen nicht überspannt werden, um eine Überformalisierung sozialadäquater Gefälligkeiten zu vermeiden. Sie orientieren sich insbesondere nicht an den Anforderungen für eine angemessene Büroorganisation einer Rechtsanwaltskanzlei. (Rn. 21) (redaktioneller Leitsatz)
2. Eine Widerlegung der Regelvermutung des § 5 Abs. 2 Nr. 1 lit. a WaffG kann (nur) gelingen, wenn die Umstände der abgeurteilten Tat die Verfehlung ausnahmsweise derart in einem milden Licht erscheinen lassen, dass die nach der Wertung des Gesetzgebers in der Regel durch eine solche Straftat begründeten Zweifel an der Zuverlässigkeit des Betroffenen bezüglich des Umgangs mit Waffen und Munition nicht gerechtfertigt sind. (Rn. 27) (redaktioneller Leitsatz)
3. Die Vermutungsregelung setzt insbesondere nicht voraus, dass außer der Verurteilung weitere nachteilige Umstände über den Waffenbesitzer bekanntgeworden sind. Sie greift auch, soweit der Betroffene sich ansonsten straffrei geführt hat. (Rn. 28) (redaktioneller Leitsatz)
4. Der Umstand, dass sich die Zahl der verhängten Tagessätze an der unteren Grenze der waffenrechtlichen Regelvermutung befindet, begründet keinen Ausnahmefall; andernfalls würde die Festlegung einer unteren Grenze ihres Sinnes beraubt. (Rn. 32) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Anordnung bzw. Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung, Versäumung der Klagefrist, Entscheidung über einen Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nur durch Urteil, Anforderungen an Auswahl, Unterweisung und Beaufsichtigung einer zur Briefkastenleerung ausgewählten Hilfsperson (Mutter des Antragstellers), Widerruf einer Waffenbesitzkarte, Erledigung der Ungültigerklärung eines Jagdscheins, Vermutung der Unzuverlässigkeit bei Straftaten im Sinne von § 5 Abs. 2 Nr. 1 Buchst. a WaffG, Entkräftung der Regelvermutung im Sinne von § 5 Abs. 2 Nr. 1 Buchst. a WaffG, Strafbefehl, Wiedereinsetzung, Verschulden, Briefkastenleerung, Hilfsperson, Waffenrecht, Unzuverlässigkeit, strafrechtliche Verurteilung, Regelvermutung, Entkräftung
Vorinstanz:
VG Ansbach, Beschluss vom 26.05.2023 – AN 16 S 23.903
Fundstellen:
BayVBl 2023, 746
LSK 2023, 20796
BeckRS 2023, 20796
Tenor
I. Die Beschwerde wird zurückgewiesen.
II. Der Antragsteller trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.
III. Der Streitwert für das Beschwerdeverfahren wird auf 9.000,00 Euro festgesetzt.
Gründe
1
Der Antragsteller begehrt die Anordnung bzw. Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung seiner Klage gegen den Widerruf seiner waffenrechtlichen Erlaubnisse und gegen die Ungültigerklärung und Einziehung seines Jagdscheins.
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Der Antragsteller war Inhaber einer waffenrechtlichen Erlaubnis mit einer eingetragenen Waffe sowie Inhaber eines Kleinen Waffenscheins und eines bis einschließlich 31. März 2023 gültigen Jagdscheins. Mit Bescheid vom 22. Februar 2023 widerrief das Landratsamt E. (im Folgenden: Landratsamt) die dem Antragsteller erteilte Waffenbesitzkarte (Nr. 1) und den Kleinen Waffenschein (Nr. 2), erklärte unter Anordnung der sofortigen Vollziehung den Jagdschein für ungültig und zog ihn ein (Nr. 3). Außerdem wurden weitere waffenrechtliche Nebenentscheidungen erlassen (Nrn. 4 bis 11). Das Landratsamt begründete seine Entscheidung damit, dass der Antragsteller infolge einer rechtskräftigen Verurteilung wegen Urkundenfälschung (Geldstrafe von 90 Tagessätzen) nicht mehr die erforderliche Zuverlässigkeit besitze (§ 4 Abs. 1 Nr. 2 und § 5 Abs. 2 Nr. 1 Buchst. a WaffG).
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Der Bescheid wurde dem Antragsteller am 28. Februar 2023 durch Einlegung in seinen Briefkasten zugestellt. Der Antragsteller hat am 2. Mai 2023 gegen den Bescheid Klage erhoben, einen Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand und einen Antrag auf vorläufigen Rechtsschutz gestellt. Zur Begründung des Wiedereinsetzungantrags trägt der Antragsteller im Wesentlichen vor, er habe von dem Bescheid erst am 18. April 2023 in einem Telefonat mit einem Sachbearbeiter des Landratsamtes Kenntnis erlangt. Er habe dort angerufen, weil er von seiner Jagdgenossenschaft erfahren habe, dass diese durch das Landratsamt vom Verlust seiner Jagdpachtfähigkeit informiert worden sei. Vorher habe er weder etwas von dem Bescheid noch von einem Anhörungsschreiben gewusst. Den Bescheid habe er nicht erhalten, weil er im Zeitraum der Zustellung im Ausland gewesen sei; am 28. Februar 2023 habe er in Tschechien bei einem Geschäftspartner übernachtet und ausweislich einer beigefügten DKV-Flottenabrechnung sein Fahrzeug in Wien um 18:41 Uhr auf dem Weg nach Tschechien getankt. In dieser Zeit habe seine Mutter den Briefkasten geleert, ihm aber nach seiner Rückkehr das Schreiben nicht ausgehändigt. Er sei beruflich häufig im Ausland, seine Mutter werde von ihm regelmäßig beauftragt, die Post aus seinem Briefkasten zu entnehmen. Nach seiner Rückkehr hole er diese immer bei ihr ab oder sie lege ihm die Post in seine Wohnung; sie wohnten im selben Haus, verfügten jedoch über zwei Eingänge und Briefkästen. Seine Mutter habe am 28. Februar 2023 und am 1. März 2023 seinem Briefkasten die Post und dabei auch den Bescheid – der wegen seines Zustellungsvermerks wichtig ausgesehen habe – entnommen; sie könne sich aber nicht daran erinnern, diesen an ihn weitergegeben zu haben. Sie habe den Brief auch trotz intensiver Suche nicht mehr auffinden können. Dies sei bisher noch nie passiert, bisher habe es auch noch nie Probleme mit der Weitergabe der Post gegeben. Eine entsprechende eidesstattliche Versicherung der Mutter wurde vorgelegt.
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In der Sache trug der Antragsteller gegen den Bescheid vor, dass das verwirklichte Delikt der Urkundenfälschung, für dessen Begehung er verurteilt worden sei, einer Kurzschlussreaktion geschuldet gewesen sei und überdies einen unterdurchschnittlichen Unrechtsgehalt aufweise. Er habe ein Zeugnis gefälscht, um bei der Industrie- und Handelskammer eine – ihm materiell-rechtlich zustehende – Erlaubnis zum gewerblichen Gütertransport zu erhalten, die er kurzfristig für sein Unternehmen benötigt habe. Er habe sich nichts verschaffen wollen, was ihm aus seiner Sicht nicht ohnehin zustand, er habe keine Schädigungsabsicht gehabt. Gegen den Strafbefehl habe er sich nicht gewehrt, weil er – infolge eines falschen Ratschlags – davon ausgegangen sei, dass das Strafmaß keine Auswirkungen auf die Beurteilung seiner waffenrechtlichen Erlaubnis habe.
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Die Eilanträge hat das Verwaltungsgericht mit Beschluss vom 26. Mai 2023 abgelehnt. Die Klagen seien verfristet, der Bescheid bestandskräftig. Der Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand sei abzulehnen. Der Vortrag sei nicht schlüssig, jedenfalls müsse sich der Antragsteller vorwerfen lassen, dass er im Vorfeld seiner Abwesenheit nicht Sorge dafür getragen habe, dass ihn Post, die seine Mutter aus dem Briefkasten entnehme, zuverlässig erreiche. Zwar liege es selbstverständlich in seiner freien Entscheidungsmacht, wie und ob er solche Beauftragungsverhältnisse gestalte. Jedoch müsse er sich das Fehlen klarer Absprachen im Sinne eines Verschuldens gegen sich selbst entgegenhalten lassen. Absprachen, etwa in welchen Fällen eine Information des Antragstellers noch während seiner Abwesenheit erfolgen solle, hätten vor allem auch deshalb nahegelegen, weil der Antragsteller angebe, häufig beruflich abwesend zu sein und eine Leerung seines Briefkastens v.a. bei kurzen Abwesenheiten, bei denen noch keine Überfüllung des Briefkastens drohe, ansonsten wenig Nutzen habe, sondern vielmehr das Risiko eines Abhandenkommens oder einer unterbleibenden Weitergabe erst schaffe.
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Mit der Beschwerde verfolgt der Antragsteller sein Begehren weiter. Er beantragt,
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den Beschluss des Verwaltungsgerichts vom 26. Mai 2023 aufzuheben, Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren und die aufschiebende Wirkung der Klage gegen den Bescheid vom 22. Februar 2023 anzuordnen bzw. wiederherzustellen, hilfsweise das Verfahren an das Verwaltungsgericht zur erneuten Entscheidung zurückzuverweisen.
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Zur Begründung trägt er insbesondere vor, dass das Verwaltungsgericht zu Unrecht die Voraussetzungen für eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand verweigert habe. Er habe sich bei der Auswahl und Beaufsichtigung seiner bislang stets zuverlässigen Mutter als Hilfsperson kein Verschulden zuzuschreiben.
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Der Antragsgegner beantragt,
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die Beschwerde zurückzuweisen,
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und verteidigt den erstinstanzlichen Beschluss.
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Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstands wird auf die Gerichtsakten beider Rechtszüge und auf die vorgelegte Behördenakte verwiesen.
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A. Die Beschwerde ist unzulässig, soweit sich der Bescheid vom 22. Februar 2023 erledigt hat.
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Mit Ablauf des 31. März 2023 hat sich der bis dahin befristete Jagdschein und mithin auch der in Nummern 2 und 6 auf dessen Ungültigkeitserklärung gerichtete Bescheid durch Zeitablauf nach Art. 43 Abs. 2 Var. 4 BayVwVfG erledigt. Gegen einen erledigten Verwaltungsakt ist Rechtsschutz nach § 80 Abs. 5 VwGO nicht statthaft; der Eilrechtsschutz kann seine Sicherungsfunktion bezüglich des Hauptsacheverfahrens nicht mehr erreichen (vgl. BayVGH, B.v. 18.4.2016 – 22 CS 16.256 – juris Rn. 23; Schoch in Schoch/Schneider, Verwaltungsrecht, Werkstand August 2022, § 80 VwGO Rn. 365 m.w.N. (Stand Juli 2021)). Entsprechend ist eine Beschwerde nach § 146 Abs. 4 VwGO unzulässig, auch wenn die Erledigung bereits vor Abschluss des erstinstanzlichen Verfahrens eingetreten war.
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B. Die im Übrigen zulässige Beschwerde hat keinen Erfolg. Die fristgerecht dargelegten Gründe, auf die sich die Prüfung des Senats gemäß § 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO beschränkt, rechtfertigen es nicht, die angefochtene Entscheidung aufzuheben. Auch wenn das Verwaltungsgericht den Verschuldensmaßstab im Rahmen der Prüfung der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand überspannt hat und im Hauptsacheverfahren die Glaubhaftmachung der Tatsachen im Sinne von § 60 Abs. 2 Satz 2 VwGO zu überprüfen haben wird (I.), hat es zu Recht die begehrte Anordnung bzw. Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung abgelehnt. Denn bei vorliegend unterstellter Zulässigkeit der Klage und des Eilantrags bestehen derzeit keine durchgreifenden Zweifel daran, anzunehmen, dass der Bescheid materiell rechtmäßig, insbesondere mit § 45 Abs. 2 des Waffengesetzes i.d.F. d. Bek. vom 11. Oktober 2002 (BGBl I S. 3970), zuletzt geändert durch Verordnung vom 19. Juni 2020 (BGBl I S. 1328) – WaffG – vereinbar ist (III.).
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I. Der Senat entscheidet selbst über die Sache und verweist sie – unabhängig vom Vorliegen der sonstigen Voraussetzungen – schon wegen der Effektivität des Eilrechtsschutz nicht nach § 130 Abs. 2 Nr. 1 VwGO zurück, der auch im Beschwerdeverfahren anwendbar ist (vgl. OVG NW, B.v. 1.2.2021 – 18 B 2004/20 – juris Rn. 2). Es kommt daher nicht darauf an, dass das Verwaltungsgericht den Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nach § 60 VwGO unzulässigerweise durch den streitgegenständlichen Eilbeschluss abgelehnt hat (vgl. BA S. 6) und insoweit das verwaltungsgerichtliche Verfahren an einem Verfahrensfehler im Sinne von § 130a Abs. 2 Nr. 2 VwGO leidet. Über den Wiedereinsetzungsantrag kann nicht durch Beschluss entschieden werden. Denn nach § 238 Abs. 2 Satz 1 ZPO i.V.m. § 173 Satz 1 VwGO sind auf die Entscheidung über den Antrag nach § 60 VwGO die Vorschriften anzuwenden, die für die nachgeholte Prozesshandlung gelten. Prozesshandlung in diesem Sinne ist die Klageerhebung; der Eilantrag selbst ist nicht fristgebunden. Über die Klage wird durch Urteil entschieden. Deshalb kann über den Wiedereinsetzungsantrag gemäß § 238 Abs. 1 Satz 1 ZPO i.V.m. § 173 Satz 1 VwGO in Verbindung mit der Klage und deshalb wegen § 107 VwGO durch (End-)Urteil entschieden werden. Alternativ kommt in Betracht – im Rahmen eines durch Beschluss einzuleitenden Vorabverfahrens im Sinne von § 238 Abs. 1 Satz 2 ZPO i.V.m. § 173 Satz 1 VwGO (vgl. OVG Berlin, B.v. 12.7.1989 – 3 L 5.88 – juris Rn. 12) – durch Zwischenurteil nach § 109 VwGO zu entscheiden (vgl. OVG Berlin, B.v. 12.7.1989 – 3 L 5.88 – juris Rn. 4 ff.; Hoppe in Eyermann, VwGO, 16. Aufl. 2022, § 60 Rn. 43; ausführlich, auch zur Gegenansicht, Czybulka/Kluckert in Sodan/Ziekow, VwGO, 5. Aufl. 2018, § 60 Rn. 136 f.; Bier/Steinbeiß-Winkelmann in Schoch/Schneider, Verwaltungsrecht, § 60 VwGO Rn. 72 ff. m.w.N. (Stand Juni 2017)).
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Diese Vorgaben hindern allerdings nur daran, im Eilbeschluss abschließend über den Antrag auf Wiedereinsetzung zu entscheiden, nicht jedoch einstweiligen Rechtsschutz zu gewähren. Ohne weiteres dürfen und müssen die Erfolgsaussichten des Wiedereinsetzungsantrags als Aspekt der Erfolgsaussichten der Klage, die die gerichtliche Abwägungsentscheidung im Rahmen des § 80 Abs. 5 VwGO vorrangig prägen, Beachtung finden.
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II. Der Senat lässt offen, ob die nach Fristablauf erhobene Klage zulässig ist, weil das Verwaltungsgericht Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gewähren müsste. Die erfolgreiche Glaubhaftmachung, die selbst nicht innerhalb der Frist des § 60 Abs. 2 Satz 1 VwGO erfolgen muss (vgl. BVerwG, B.v. 23.2.2021 – 2 C 11.19 – juris Rn. 7), wird das Verwaltungsgericht im Hauptsacheverfahren – möglicherweise durch Zeugenvernehmung der Mutter des Antragstellers – zu prüfen haben. Vorbehaltlich dabei gewonnener Erkenntnisse dürften die vorgetragenen Tatsachen für sich genommen – entgegen der Ansicht des Verwaltungsgerichts – die Annahme zulassen, dass der Antragsteller im Sinne von § 60 Abs. 1 VwGO ohne Verschulden verhindert war, eine gesetzliche Frist einzuhalten.
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1. Es ist anerkannt, dass im Normalfall eine Abwesenheit von bis zu sechs Wochen nicht die Obliegenheit begründet, durch die Beauftragung von Dritten sicherzustellen, Kenntnis von seiner Post zu erhalten (vgl. Hoppe in Eyermann, VwGO, § 60 Rn. 30). Gleichwohl ist es grundsätzlich ohne weiteres zulässig, auch für nur sehr kurze Zeit eine Hilfsperson mit der Leerung seines Briefkastens zu beauftragen. Es ist unerheblich, ob für eine solche Beauftragung ein intersubjektiv nachvollziehbares Bedürfnis besteht. Selbst wenn es zutreffen sollte, dass eine Beauftragung bei Abwesenheit für wenige Tage – insbesondere mit Blick auf die gewöhnlich vorgesehenen Anfechtungsfristen bei Behördenpost – keinen ersichtlichen Nutzen hat, sondern womöglich das Risiko, von Post keine Kenntnis zu erlangen, erhöht (BA S. 9), ist es mit der bestehenden Gestaltungsfreiheit in eigenen Angelegenheit unvereinbar, die Maßstäbe an Auswahl, Unterweisung und Aufsicht von Hilfspersonen gerade deshalb zu erhöhen, weil keine Obliegenheit besteht, Vorkehrungen für eine Briefkastenleerung zu treffen (BA S. 9).
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Mithin ist für die Beantwortung der Frage, ob der Antragsteller ohne Verschulden verhindert war, die gesetzliche Klagefrist einzuhalten, allein entscheidend, ob er selbst eine zuverlässige Person ausgewählt, in zumutbaren Grenzen unterwiesen und beaufsichtigt hat (vgl. BVerwG, U.v. 9.10.1973 – V C 110.72 – juris Rn. 29; OVG NW, U.v. 29.3.1995 – 13 A 3442/93 – juris Rn. 8). Denn die Mutter ist als Familienangehörige typischerweise – und so auch hier – nicht Bevollmächtigte (vgl. BFH, B.v. 23.10.2001 – VIII B 51/01 – juris Rn. 9; OVG NW, U.v. 29.3.1995 – 13 A 3442/93 – juris Rn. 6; Czybulka/Kluckert in Sodan/Ziekow, VwGO, § 60 Rn. 69), so dass eine Zurechnung ihres eigenen Verschuldens nach Maßgabe des § 85 Abs. 2 ZPO i.V.m. § 173 Satz 1 VwGO ausscheidet.
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2. Die Anforderungen an Auswahl, Unterweisung und Beaufsichtigung einer zur Briefkastenleerung ausgewählten Hilfsperson dürfen dabei nicht überspannt werden, um eine Überformalisierung sozialadäquater Gefälligkeiten zu vermeiden. Sie orientieren sich insbesondere nicht an den Anforderungen für eine angemessene Büroorganisation einer Rechtsanwaltskanzlei. Ein Verschulden des Antragsstellers ist vorliegend zunächst nicht deshalb ersichtlich, weil etwa mit Blick auf Alter und Gesundheit der Mutter Anhaltspunkte bestanden hätten, dass sie nicht zu einer ordnungsgemäßen Entnahme der Post oder nicht dazu in der Lage ist, bei Rückkehr des Antragstellers die während seiner Abwesenheit eingegangene Post vollständig zu übergeben (vgl. BGH, B.v. 28.7.1999 – VIII ZB 3/99 – juris Rn. 17 f.). Auch eine unzureichende Unterweisung ist nicht ersichtlich. Eine nähere Aufklärung darüber, dass die entnommene Post zwecks Übergabe an den Adressaten aufgehoben wird, versteht sich als Wesenskern jeder Beauftragung zur Briefkastenleerung von selbst. Daher ist auch keine Verletzung einer Obliegenheit erkennbar, wenn es der Antragsteller unterlassen haben sollte, mit konkreten Absprachen das Risiko des Abhandenkommens von Post als auch des unterbleibenden Informationsflusses gesondert zu minimieren (BA S. 9). Mit Blick auf die kurze Abwesenheit ist auch nicht ersichtlich, dass der Antragsteller bei seiner Mutter nach Behördenpost gezielt hätte nachfragen müssen, so dass es nicht darauf ankommt, ob er das Anhörungsschreiben des Landratsamts erhalten hat oder nicht. Es ist auch entgegen der Annahme des Verwaltungsgerichts weder im Allgemeinen noch im konkreten Fall ersichtlich, weshalb aus dem Umstand häufiger kurzer Abwesenheiten die Obliegenheit resultieren sollte, eine – hier wohl nicht vorliegende – Absprache zu treffen, in welchen Fällen eine Information noch während der Abwesenheit zu erfolgen habe (BA S. 9). Es bedarf auch keiner näheren Absprache, wie die Post bei Rückkehr den Adressaten erreicht soll (BA S. 9). Sollte dieser seine Post nach Rückkehr nicht innerhalb eines angemessenen Zeitraums abholen, trifft ihn selbst ein Verschulden, das einer Wiedereinsetzung entgegensteht.
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III. Der Widerruf der Waffenbesitzkarte und des Kleinen Waffenscheins sowie die damit verbundenen waffenrechtlichen Nebenentscheidungen sind rechtmäßig. Nach § 45 Abs. 2 WaffG ist eine Erlaubnis zu widerrufen, wenn nachträglich Tatsachen eintreten, die zur Versagung hätten führen müssen. Dies ist hier der Fall, weil der Antragsteller im maßgeblichen Zeitpunkt nicht mehr die für die Erteilung einer waffenrechtlichen Erlaubnis nach § 4 Abs. 1 Nr. 2 Alt. 1 WaffG erforderliche Zuverlässigkeit besitzt; es liegt ein Unzuverlässigkeitstatbestand im Sinne von § 5 Abs. 2 Nr. 2 Buchst. a WaffG vor.
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1. Das Erfordernis der Zuverlässigkeit dient der Feinsteuerung von behördlichen Entscheidungen und soll Gefahren für die Allgemeinheit oder Dritte vermeiden (vgl. Gade, WaffG, 3. Aufl. 2022, § 5 Rn. 1; Knauff, Jura 2022, 1418/1418). Entsprechend dieser Funktion geht es nicht um die Sanktionierung von Fehlverhalten, sondern um die Gewährleistung künftig ordnungsgemäßen und insbesondere gefahrlosen und rechtstreuen Agierens. Somit verlangt die Zuverlässigkeitsprüfung die Vornahme einer Prognose (vgl. BVerwG, B.v. 10.7.2018 – 6 B 79.18 – juris Rn. 6). Diese unterliegt der vollen gerichtlichen Kontrolle (vgl. OVG RhPf, U.v. 28.6.2018 – 7 A 11748/17 – juris Rn. 26). Maßgeblich für die Beurteilung der Rechtmäßigkeit der Prognose und des Bescheids im Übrigen ist dabei die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der letzten Behördenentscheidung (vgl. BayVGH, B.v. 18.8.2008 – 21 BV 06.3271 – juris Rn. 25). Alle zu diesem Zeitpunkt vorhandenen und rechtlich relevanten Umstände dürfen für die Prognose herangezogen werden.
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2. Im vorliegenden Fall ist die erforderliche Zuverlässigkeitsprognose allerdings durch den Gesetzgeber entscheidend vorgeprägt. Er geht davon aus, dass Personen in der Regel unzuverlässig sind, wenn sie wegen einer vorsätzlichen Straftat zu einer Geldstrafe von mindestens 60 Tagessätzen rechtskräftig verurteilt worden sind (§ 5 Abs. 2 Nr. 1 Buchst. a WaffG). Diese Voraussetzungen der Regelvermutung erfüllt der Antragsteller (a), eine Widerlegung der Vermutung gelingt ihm nicht (b).
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a) Der Antragsteller wurde mit Strafbefehl des Amtsgerichts E. … … … … wegen vorsätzlicher Urkundenfälschung rechtskräftig zu einer Geldstrafe von 90 Tagessätzen zu je 50,00 EUR verurteilt. Da das Eingreifen der Regelvermutung keine bestimmte Art der Verurteilung voraussetzt, ist es ohne Belang, dass der Antragsteller nicht durch Urteil aufgrund mündlicher Hauptverhandlung, sondern durch Strafbefehl verurteilt worden ist. Ein Strafbefehl, gegen den nicht rechtzeitig Einspruch erhoben worden ist, steht nach § 410 Abs. 3 StPO einem rechtskräftigen Urteil gleich.
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b) Der Antragsteller trägt im Ergebnis keine Umstände vor, die diese Regelvermutung widerlegen.
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aa) Eine Widerlegung kann (nur) gelingen, wenn die Umstände der abgeurteilten Tat die Verfehlung ausnahmsweise derart in einem milden Licht erscheinen lassen, dass die nach der Wertung des Gesetzgebers in der Regel durch eine solche Straftat begründeten Zweifel an der Zuverlässigkeit des Betroffenen bezüglich des Umgangs mit Waffen und Munition nicht gerechtfertigt sind (vgl. BVerwG, U.v. 19.6. 2019 – 6 C 9.18 – juris Rn. 35; BayVGH, B.v. 19.1.2022 – 24 CS 21.3067 – juris Rn. 9). Bei der Prüfung des Vorliegens eines Ausnahmefalls dürfen die Verwaltungsbehörden und Verwaltungsgerichte grundsätzlich die strafgerichtlichen Feststellungen ohne weitere Ermittlungen ihrer Entscheidung zugrunde legen; anders ist dies nur, wenn ohne weiteres erkennbar ist, dass die Verurteilung auf einem Irrtum beruht oder wenn sie ausnahmsweise in der Lage sind, den Vorfall besser als die Strafverfolgungsorgane aufzuklären (vgl. BayVGH, B.v. 5.7.2017 – 21 CS 17.856 – juris Rn. 10).
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Vorzunehmen ist eine tatbezogene Prüfung in Gestalt der Würdigung der Schwere der konkreten Verfehlung und der Persönlichkeit des Betroffenen, wie sie in seinem Verhalten zum Ausdruck kommt (vgl. BVerwG, U.v. 19.6.2019 – 6 C 9.18 – juris Rn. 35). Danach ist gegebenenfalls zu prüfen, ob die der strafgerichtlichen Verurteilung zugrundeliegende Tat im Einzelfall lediglich Bagatellcharakter hat. Es ist danach zu fragen, ob die Tat von einem typischen Fall der konkreten Straftat wesentlich abweicht. Handelt es sich um einen typischen Fall, so fehlen besondere Tatumstände, die ausnahmsweise die Regelvermutung entkräften könnten. Die Vermutungsregelung setzt insbesondere nicht voraus, dass außer der Verurteilung weitere nachteilige Umstände über den Waffenbesitzer bekanntgeworden sind (vgl. HessVGH, B.v. 15.9.2022 – 4 A 2514/20.Z – juris Rn. 31). Sie greift auch, soweit der Antragsteller sich ansonsten straffrei geführt hat (vgl. BVerwG, B.v. 21.7.2008 – 3 B 12.08 – juris Rn. 5; BayVGH, B.v. 9.8.2022 – 24 CS 22.1575 – Rn. 18). Ebenfalls kann aus der beruflichen Stellung des Betroffenen für sich regelmäßig nichts zu seinen Gunsten hergeleitet werden (vgl. HessVGH, B.v. 15.9.2022 – 4 A 2514/20.Z – juris Rn. 31).
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bb) Nach diesem Maßstab erscheint vorliegend die Tat nicht in einem derart milden Licht, dass von der Regelvermutung des § 5 Abs. 2 Nr. 1 Buchst. a WaffG abgewichen werden könnte.
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(1) Zunächst gelingt keine Widerlegung mit Blick auf die Motivation des Antragstellers, die fragliche Straftat zu begehen. Es mag sein – und hat sich womöglich auch in dem ausgesprochenen Strafmaß niedergeschlagen – dass der Antragsteller sich, wie er vorträgt, willkürlich behandelt fühlte und sich auch nichts verschaffen wollte, worauf er nicht ohnehin einen rechtlichen Anspruch hatte. Dass er aber nicht auf dem Rechtsweg versucht hat, die begehrte Erlaubnis zum gewerblichen Gütertransport zu erlangen, sondern eine Straftat beging, lässt die Tat nicht in einem besonderes milden Licht erscheinen. Die vorgetragene Charakterisierung der Tat als Kurzschlussreaktion erscheint zum einen mit Blick auf die Vornahme der notwendigen Fälschungshandlungen verharmlosend, zum anderen mit Blick auf die gerade von Waffenbesitzern verlangte Impulskontrolle aus der Perspektive der Zuverlässigkeit nicht günstig.
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(2) Sodann widerlegt auch das Strafmaß die Regelvermutung nicht. Eine Verurteilung zu einer Geldstrafe von 90 Tagessätzen deutet aus einer strafrechtlichen Warte nicht auf ein Bagatellgeschehen hin. Eine Geldstrafe wird nach § 40 Abs. 1 Satz 1 StGB in Tagessätzen verhängt. Die Bestimmung der Zahl der Tagessätze bildet dabei den Kern der Strafzumessungstätigkeit, die sich – wie bei der Verhängung einer Freiheitsstrafe – am Unrechts- und Schuldgehalt der Tat und an präventiven Gesichtspunkten auszurichten hat. Das Mindestmaß der Geldstrafe beträgt dabei nach § 40 Abs. 1 Satz 2 StGB fünf Tagessätze, das Höchstmaß grundsätzlich 360 Tagessätze (vgl. Kinzig in Schönke/Schröder, StGB, 30. Aufl. 2019, § 40 Rn. 1 f.). Die vorliegend verhängte Geldstrafe von 90 Tagessätzen liegt zwar eher im unteren Bereich des sanktionsrechtlich Zulässigen, kann aber ersichtlich nicht als lediglich bagatellhaft beschrieben werden.
32
Auch der Umstand, dass die Zahl der verhängten Tagessätze sich an der unteren Grenze der waffenrechtlichen Regelvermutung befindet, begründet keinen Ausnahmefall; andernfalls würde die Festlegung einer unteren Grenze ihres Sinnes beraubt (vgl. BayVGH, B.v. 19.1.2022 – 24 CS 21.3067 – juris Rn. 9).
33
(3) Schließlich wird die Regelvermutung nicht entkräftet, weil sich der Antragsteller – seinen Angaben nach wegen fehlerhafter Beratung durch einen Juristen aus dem Bekanntenkreis – der waffenrechtlichen Auswirkungen einer einspruchslosen „Hinnahme“ des Strafbefehls mit einer Geldstrafe in dieser Höhe nicht bewusst war. Ob es in einer anberaumten Hauptverhandlung (§ 411 Abs. 1 Satz 2 StPO) gelungen wäre, mit Blick auf den konkreten Fall ein strafrechtlich milderes und deshalb waffenrechtlich günstigeres Strafmaß oder gar eine Einstellung des Verfahrens zu erreichen, wenn der Antragsteller nach § 410 Abs. 1 StPO Einspruch eingelegt hätte, muss jedenfalls als Spekulation solange unberücksichtigt bleiben, wie die strafgerichtlichen Feststellungen auch im verwaltungsbehördlichen und -gerichtlichen Verfahren zugrunde gelegt werden dürfen.
34
3. Ergibt die Prognose die Unzuverlässigkeit des Antragstellers, ist die Behörde nach § 45 Abs. 2 WaffG zum Widerruf verpflichtet; Raum für Ermessens-, insbesondere Verhältnismäßigkeitsüberlegungen besteht nicht. Auch bei der Vornahme der Prognose selbst besteht für die Behörde strukturell kein Raum für Ermessen (vgl. auch BayVGH, B.v. 20.4.2023 – 24 CS 23.251 – juris Rn. 26).
35
4. Gegen die waffenrechtlichen Nebenentscheidung – insbesondere die Anordnungen, die Waffen unbrauchbar zu machen oder sie einem Dritten zu übergeben (§ 46 Abs. 2 Satz 1 WaffG) und für die Anordnung der Rückgabe von Erlaubnisurkunden (§ 46 Abs. 1 Satz 1 WaffG) sowie die Androhung der Sicherstellung und der Androhung eines Zwangsgeldes – bestehen keine Bedenken (vgl. BayVGH, B.v. 2.12.2020 – 24 CS 20.2211 – juris Rn. 29; B.v. 18.6.2020 – 24 CS 20.1010 – juris Rn. 25).
36
IV. Ungeachtet der gegenwärtig fehlenden Zweifel an der Rechtmäßigkeit des Bescheids hat die Beschwerde auch deshalb keinen Erfolg, weil bei der gebotenen Interessenabwägung die differenzierte gesetzgeberische Wertung des § 80 Abs. 2 Satz 1 Nrn. 1 bis 3 VwGO einerseits und § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 VwGO andererseits zu berücksichtigen ist (vgl. BVerfG, B.v. 17.1.2017 – 2 BvR 2013/16 – Rn. 17). Aus diesem Grund überwiegt vorliegend das Vollzugsinteresse der Behörde das Suspensivinteresse des Antragstellers. Der Gesetzgeber hat mit § 45 Abs. 5 WaffG einen grundsätzlichen Vorrang des Vollziehungsinteresses angeordnet; er hielt den Sofortvollzug ausweislich der Gesetzesmaterialien für dringend angezeigt (vgl. BT-Drs. 16/7717, S. 33). Es bedarf deshalb besonderer Umstände, um eine hiervon abweichende Entscheidung zu rechtfertigen. Hiervon ausgehend hat der Antragsteller keine Gründe vorgetragen, die über die im Regelfall mit der Anordnung sofortiger Vollziehung verbundenen Umstände hinausreichen, zumal er im maßgeblichen Zeitpunkt bereits wegen einer weiteren Straftat verurteilt worden war.
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Dieses öffentliche Interesse am sofortigen Vollzug aus Gründen der Gefahrenabwehr besteht auch – wie regelmäßig – für die nicht vom gesetzlich angeordneten sofortigen Vollzug erfassten, mit der Widerrufsentscheidung verbundenen notwendigen waffen- und vollstreckungsrechtlichen Nebenentscheidungen.
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C. Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 154 Abs. 2 VwGO.
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D. Die Streitwertfestsetzung folgt aus §§ 47, 53 Abs. 2 Nr. 2, 52 Abs. 1 GKG unter Berücksichtigung der Nrn. 1.5, 20.3 und 50.2 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit i.d.F. vom 18. Juli 2013 und entspricht der Streitwertfestsetzung im erstinstanzlichen Verfahren.
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Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO).