Inhalt

VGH München, Beschluss v. 01.08.2023 – 2 ZB 23.30551
Titel:

Berücksichtigung des Kindeswohls bei Erlass einer Rückkehrentscheidung

Normenketten:
Rückführungs-RL Art. 5 lit. a. lit. b
AsylG § 55, § 77 Abs. 1, § 78 Abs. 3 Nr. 1
Leitsätze:
1. Nach der Rspr. des EuGH hat der betreffende Mitgliedstaat vor dem Erlass einer Rückkehrentscheidung gegenüber einem Minderjährigen konkret eine umfassende und eingehende Beurteilung der Situation des Minderjährigen vornehmen und dabei das Wohl des Kindes gebührend zu berücksichtigen. (Rn. 4) (redaktioneller Leitsatz)
2. Da es nach § 77 Abs. 1 AsylG auf die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung vor dem Tatsachengericht ankommt, sind nachträgliche bzw. nach Erlass der behördlichen Rückkehrentscheidung eintretende Umstände zu berücksichtigen. (Rn. 7 – 8) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Keine grundsätzliche Bedeutung der Frage, ob ein „Aufenthaltsrecht“ nach § 55 AsylG eines Mitglieds der „Kernfamilie“ zu einer Prüfung des Kindeswohls und der familiären Beziehungen eines anderen Mitglieds der „Kernfamilie“ im Rahmen der Rückkehrentscheidung führt, Kindeswohl, familiäre Beziehungen, Kernfamilie, Aufenthaltsrecht, grundsätzliche Bedeutung, Rückkehrentscheidung, RL 2008/115/EG
Vorinstanz:
VG München, Urteil vom 19.06.2023 – M 9 K 18.33243
Fundstelle:
BeckRS 2023, 20789

Tenor

I. Der Antrag auf Zulassung der Berufung wird abgelehnt.
II. Die Beklagte hat die Kosten des gerichtskostenfreien Zulassungsverfahrens zu tragen.

Gründe

1
Der Antrag der Beklagten auf Zulassung der Berufung bleibt ohne Erfolg. Der von ihr geltend gemachte Zulassungsgrund der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache gemäß § 78 Abs. 3 Nr. 1 AsylG liegt nicht vor.
2
1. Grundsätzliche Bedeutung hat eine Asylrechtsstreitigkeit, wenn mit ihr eine grundsätzliche, bisher höchstrichterlich und obergerichtlich nicht beantwortete Rechtsfrage oder eine im Bereich der Tatsachenfeststellungen bisher obergerichtlich nicht geklärte Frage von allgemeiner Bedeutung aufgeworfen wird, die sich in dem erstrebten Berufungsverfahren stellen würde und im Interesse der Einheitlichkeit der Rechtsprechung oder der Fortentwicklung des Rechts berufungsgerichtlicher Klärung bedarf. Die Darlegung dieser Voraussetzungen erfordert wenigstens die Bezeichnung einer konkreten Frage, die sowohl für die Entscheidung des Verwaltungsgerichts von Bedeutung war als auch für das Berufungsverfahren erheblich wäre. Eine verallgemeinerungsfähige Frage tatsächlicher Natur ist als grundsätzlich bedeutsam anzusehen, wenn sich nach Auswertung der zur Verfügung stehenden Erkenntnismittel klärungsbedürftige Gesichtspunkte ergeben, weil diese Erkenntnismittel in ihrer Gesamtheit keine klare und eindeutige Aussage zu der Tatsachenfrage zulassen. Insoweit verlangt das Darlegungserfordernis gemäß § 78 Abs. 4 Satz 4 AsylG, dass die tatsächliche Frage nicht nur aufgeworfen wird, sondern im Wege der inhaltlichen Auseinandersetzung mit den Ausführungen in dem angefochtenen Urteil und mit den wichtigsten Erkenntnismitteln, etwa aktuellen Lageberichten des Auswärtigen Amtes, herausgearbeitet wird, warum ein allgemeiner Klärungsbedarf bestehen soll (Seibert in: Sodan/Ziekow, VwGO, 5. Aufl. 2018, § 124a Rn. 211 ff.). Dabei gilt allgemein, dass die Anforderungen an die Darlegung nicht überspannt werden dürfen, sondern sich nach der Begründungstiefe der angefochtenen Entscheidung zu richten haben.
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Soweit die Beklagte für allgemein klärungsbedürftig hält, ob ein bei der Rückkehrentscheidung bzw. dem Erlass einer Abschiebungsandrohung zu berücksichtigendes inlandsbezogenes Abschiebungsverbot auch eine während des Asylverfahrens bestehende Aufenthaltsgestattung eines Mitglieds der Kernfamilie sein kann bzw. ob die Aufenthaltsgestattung gemäß § 55 AsylG einen rechtmäßigen Aufenthalt begründet, der vor dem Hintergrund der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs (Urteil vom 15. Februar 2023 – C-484/22) im Rahmen des Art. 5 Buchstaben a und b der Rückführungsrichtlinie Berücksichtigung finden muss, war diese Frage für das Erstgericht nicht entscheidungserheblich.
4
Der Europäische Gerichtshof hat in der von der Beklagten in Bezug genommen Entscheidung ausgesprochen, dass der betreffende Mitgliedstaat vor dem Erlass einer Rückkehrentscheidung gegenüber einem Minderjährigen konkret eine umfassende und eingehende Beurteilung der Situation des Minderjährigen vornehmen und dabei das Wohl des Kindes gebührend berücksichtigen müsse. Folglich stünden Art. 5 Buchst. a und b der RL 2008/115 einer nationalen Rechtsprechung entgegen, nach der die Verpflichtung, beim Erlass einer Abschiebungsandrohung das Wohl des
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Kindes und dessen familiären Bindungen zu berücksichtigen, als erfüllt gilt, solange die Abschiebung nicht vollzogen wird.
6
Das Erstgericht hat in Umsetzung dieser Rechtsprechung entscheidungserheblich darauf abgestellt, dass ein Mitglied der Kernfamilie der Klägerin ein „Aufenthaltsrecht“ im Bundesgebiet besaß, das es im maßgeblichen Entscheidungszeitpunkt über die Rechtmäßigkeit der gegenüber der Klägerin ergangenen Abschiebungsandrohung und über die Befristung des gesetzlichen Einreise- und Aufenthaltsverbots vor jedweder Überstellung in einen möglichen Verfolgerstaat schützt und hat diesen Umstand im Rahmen der Beurteilung des Kindeswohls der Klägerin und ihrer familiären Bindungen einfließen lassen. Art und Dauer des Aufenthaltsrechts, insbesondere dessen Rechtmäßigkeit im Sinne der Definition der Beklagten waren demgegenüber für das Erstgericht nicht entscheidungserheblich.
7
Soweit die Beklagte weiter für grundsätzlich bedeutsam hält, ob nachträgliche bzw. nach Erlass der behördlichen Rückkehrentscheidung eintretende Umstände vor dem Hintergrund der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes (Urteil vom 15. Februar 2023 – C-484/22) im Rahmen des Art. 5 Buchstaben a und b der Rückführungsrichtlinie Berücksichtigung finden müssen oder ob zeitlich der Rückkehrentscheidung nachfolgende neue Umstände nicht vom Rechtssatz der Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs umfasst sind, liegt tatsächlich keine grundsätzliche Bedeutung vor.
8
Die Frage des maßgeblichen Entscheidungszeitpunkts ergibt sich ohne weiteres aus dem Gesetz. Es kommt auf die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung vor dem Tatsachengericht an (§ 77 Abs. 1 AsylG). Auf diese Sach- und Rechtslage hat das Erstgericht abgestellt. Im Übrigen wird mit der Formulierung der für grundsätzlich bedeutsam gehaltenen Frage eine Auslegung der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs verlangt, die jeder Rechtsanwender in Abhängigkeit von den Umständen des jeweiligen Einzelfalls, auf den die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs angewendet wird, selbst zu treffen hat.
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2. Von einer weiteren Begründung des Nichtzulassungsbeschlusses wird abgesehen (§ 78 Abs. 5 Satz 1 AsylG).
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3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO.