Titel:
Bebauungstiefe als Kriterium des Einfügens in die Eigenart der näheren Umgebung
Normenketten:
BauGB § 34 Abs. 1 S. 1
VwGO § 146 Abs. 4 S. 6
Leitsätze:
1. Die Frage des Einfügens in die Eigenart der näheren Umgebung (§ 34 Abs. 1 S. 1 VwGO) nach der Bebauungstiefe ist von der jeweiligen Erschließungsstraße des Quartiers ausgehend zu beurteilen. Etwaige abweichende Bebauungstiefen in benachbarten Quartieren haben außer Betracht zu bleiben. (Rn. 3) (redaktioneller Leitsatz)
2. Singuläre Anlagen, die in einem auffälligen Kontrast zu der sie umgebenden im wesentlichen homogenen Bebauung stehen, sind regelmäßig als Fremdkörper für das Einfügen in die Eigenart der näheren Umgebung unbeachtlich, soweit sie nicht ausnahmsweise ihre Umgebung beherrschen oder mit ihr eine Einheit bilden. (Rn. 3) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Einfügen nach der überbaubaren Grundstücksfläche, Einfügen in die Eigenart der näheren Umgebung, Bebauungstiefe, Quartier, singuläre Anlage, Altbestand, überbaubare Grundstücksfläche
Vorinstanz:
VG München, Beschluss vom 28.02.2023 – M 9 SN 22.160
Fundstelle:
BeckRS 2023, 20786
Tenor
I. Unter Aufhebung des Beschlusses des Verwaltungsgerichts München vom 28. Februar 2023 wird die aufschiebende Wirkung der Klage der Antragstellerin vom 21. Dezember 2021 gegen den Bescheid des Antragsgegners vom 22. November 2021 angeordnet.
II. Von den Kosten des Verfahrens in beiden Rechtszügen haben die Antragsgegnerin und die Beigeladene jeweils die Hälfte zu tragen.
III. Der Streitwert wird für beide Rechtszügen auf jeweils 7.500 € festgesetzt.
Gründe
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Die zulässige Beschwerde der Antragstellerin, mit der sie die Anordnung der aufschiebenden Wirkung ihrer Klage gegen die unter Ersetzung ihres gemeindlichen Einvernehmens erteilte Baugenehmigung vom 22. November 2021 erreichen will, ist begründet, da die Hauptsacheerfolgsaussichten zumindest als offen zu beurteilen sind.
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1. Die Ersetzung des gemeindlichen Einvernehmens beruht im hier zu entscheidenden Fall auf Art. 67 BayBO. Voraussetzung hierfür ist unter anderem, dass ein Rechtsanspruch auf Erteilung der Baugenehmigung besteht (Satz 1 der Vorschrift). Nach vorläufiger Einschätzung des Verwaltungsgerichtshofs unter Zugrundelegung der den Akten beigefügten Bauzeichnungen und Pläne bestehen jedoch Zweifel daran, ob sich das streitgegenständliche Vorhaben nach der Grundstücksfläche, die überbaut werden soll, in die Eigenart der näheren Umgebung einfügt (§ 34 Abs. 1 Satz 1 BauGB).
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Nach der Rechtsprechung des Senats ist die Frage des Einfügens nach der Bebauungstiefe im hier zu entscheidenden Fall anhand des Quartiers, das durch die W. straße, die R1. straße, die R2. straße sowie die Z. straße begrenzt wird, von der jeweiligen Erschließungsstraße ausgehend zu beurteilen. Etwaige abweichende Bebauungstiefen in benachbarten Quartieren haben außer Betracht zu bleiben. Unter Außerachtlassung des Baugrundstücks, der Flurnummer …108, beträgt die maximale Bebauungstiefe von der R1. straße aus gesehen etwa 41 m (abgegriffen). Selbst unter Einbeziehung der anderen Erschließungsstraße des Quartiers gibt es keine Bebauungstiefe, die etwa 43 m (abgegriffen; Flurnummer …130) überschreitet. Die geplanten Vorhaben auf dem Baugrundstück erreichen von der Erschließungsstraße aus gesehen eine Bebauungstiefe von ca. 60 m bzw. ca. 86 m (jeweils abgegriffen) und sind daher im Quartier ohne Vorbild. Unter Berücksichtigung einer etwaigen Nachwirkung des Altbestands auf dem Baugrundstück ergibt sich zwar eine Bebauungstiefe von ca. 86 m (abgegriffen). Es bestehen jedoch erhebliche Zweifel daran, ob der Altbestand auf dem Baugrundstück das Quartier in Bezug auf das Einfügensmerkmal der Grundstücksfläche, die überbaut werden soll, prägen konnte. Das Quartier ist insoweit maßgeblich dadurch gekennzeichnet, dass sich die vorhandenen Hauptgebäude zur jeweiligen Erschließungsstraße hin in maximal zwei Reihen ausrichten und dabei eine Bebauungstiefe von etwa 30-40 m einhalten. Der vor Einreichung des genehmigten Plans am 27. Oktober 2021 bereits Ende 2020 beseitigte Altbestand auf dem Baugrundstück erreichte insoweit nicht nur eine mehr als doppelt so große Bebauungstiefe, sondern bildete im Verhältnis zur Erschließungsstraße eine dritte Reihe und war damit als singuläre Anlage einzustufen. Singuläre Anlagen, die – wie hier – in einem auffälligen Kontrast zu der sie umgebenden im wesentlichen homogenen Bebauung stehen, sind regelmäßig als Fremdkörper unbeachtlich, soweit sie nicht ausnahmsweise ihre Umgebung beherrschen oder mit ihr eine Einheit bilden (BayVGH, B.v. 3.12.2019 – 2 ZB 17.388; Ernst/Zinkahn/Bielenberg/Krautzberger, BauGB, 148. EL Oktober 2022, § 34 BGB, Rn. 37 ff m.w.N.). Die beiden letztgenannten Kriterien dürften hier ausscheiden. Vor diesem Hintergrund dürfte der Altbestand auf dem Baugrundstück nicht geeignet sein, zur Maßstabsbildung im Hinblick auf die zulässige Bebauungstiefe beizutragen. Die geplanten Vorhaben auf dem Baugrundstück überschreiten damit nicht nur die maximal zulässige Bebauungstiefe erheblich, sondern würden im Fall ihrer Zulassung auch eine dritte bzw. vierte Reihe im Verhältnis zur Erschließungsstraße entstehen lassen und auch insoweit den vorhandenen Rahmen sprengen.
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Die geplanten Vorhaben würden sich bei der wahrscheinlich anzunehmenden Rahmenüberschreitung auch nicht ausnahmsweise in die Eigenart der näheren Umgebung einfügen, da sie unter Berücksichtigung der Tatsache, dass das östlich an das Baugrundstück angrenzende Grundstück mit der Flurnummer …77 im hinteren Grundstücksteil, der im Verhältnis zur Erschließungsstraße eine ähnliche Tiefe wie derjenige des Baugrundstücks erreicht, unbebaut ist, geeignet wären, bodenrechtlich beachtliche und ausgleichsbedürftige Spannungen zu begründen (BVerwG, U.v. 17.6.1993 – 4 C 17.91 – juris).
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2. Der Verwaltungsgerichtshof konnte das Einfügenskriterium der Bebauungstiefe im Rahmen seiner Beschwerdeentscheidung zu Gunsten der Antragstellerin berücksichtigen, obwohl es von deren Bevollmächtigten nicht fristgerecht im Rahmen der Beschwerdebegründung nach § 146 Abs. 4 Sätze 1 bis 3 VwGO ausdrücklich gerügt wurde. Unbeschadet der Vorschrift des § 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO, wonach der Verwaltungsgerichtshof nur die dargelegten (Beschwerde-)Gründe prüft, durfte er diese Gründe – worauf er mit gerichtlichen Schreiben vom 16. Juni 2023 hingewiesen hatte – jedoch von Amts wegen berücksichtigen. Die Regelung des § 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO, wonach das Beschwerdegericht nur die dargelegten (Beschwerde-)Gründe prüft, verengt nur scheinbar den gerichtlichen Prüfungsrahmen. Wesentliches Element der Entscheidung nach § 80 Abs. 5 VwGO ist die originäre Interessenabwägung des Gerichts, die in wesentlicher Beziehung von der Erfolgsprognose für das Hauptsacheverfahren, also von der Frage der materiell-rechtlichen Richtigkeit des strittigen Verwaltungsakts gesteuert wird. Ein gravierender, zu Brüchen führender Eingriff in die Struktur des Verfahrens nach § 80 Abs. 5 VwGO vor dem Beschwerdegericht läge vor, wenn eine gerechte Abwägung der öffentlichen und privaten Belange daran scheitern müsste, dass ein bestimmter – tatsächlicher oder rechtlicher – Gesichtspunkt, der in dem Verfahren zumindest im Ansatz eingeführt – oder wie hier – für das Beschwerdegericht offensichtlich ist, nur deshalb nicht berücksichtigt werden dürfte, weil ihn der Beschwerdeführer in seiner Beschwerdeschrift nicht oder nicht hinreichend dargelegt hat. Damit würde § 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO trotz der grundsätzlichen Unterschiede der Verwaltungsgerichtsordnung und der Zivilprozessordnung im Bereich der Sachverhaltsermittlung in Anlehnung an den zivilprozessualen Wahrheitsbegriff ausgelegt. Darüber hinaus hätte eine solche Verfahrensweise insbesondere die unerträgliche Konsequenz, dass das Beschwerdegericht im vorläufigen Rechtsschutzverfahren und im Hauptsacheverfahren sehenden Auges zu unterschiedlichen Beurteilungen der Rechtslage kommen müsste; dem Gesetzeszweck, eine vernünftige Zwischenregelung im Verfahren nach § 80 Abs. 5 VwGO treffen zu können, würde dies nicht gerecht (vgl. BayVGH, B.v. 23.1.2002 – 25 CS 02.172 – BayVBl 2002, 306/309). Derart strukturverändernde Konsequenzen können aus einer Vorschrift, die lediglich die Darlegungslast des Beschwerdeführers verstärken will, nicht hergeleitet werden. Wenn vom Gesetzgeber eine weitergehende Änderung gewollt worden wäre, hätte dies in einer weit deutlicheren Weise im Regelungsgefüge des § 146 Abs. 4 VwGO Ausdruck finden müssen. Durch § 146 Abs. 4 VwGO wird deshalb der Grundsatz der Amtsermittlung (§ 86 Abs. 1 VwGO) nicht aufgehoben, sondern lediglich gemildert (vgl. BayVGH, B.v. 23.1.2002 a.a.O.). § 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO fixiert auch das Beschwerdegericht nicht ausnahmslos auf den Vortrag des Beschwerdeführers und verbietet dem Gericht nicht jede Amtsermittlung (BayVGH, B.v. 27.8.2002 – 8 CS 02.1514 – juris).
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3. Sind die Hauptsacheerfolgsaussichten damit zumindest als offen anzusehen, ergibt eine an den gegenläufigen Interessen orientierte Abwägung, dass das Interesse der Antragstellerin an der Anordnung der aufschiebenden Wirkung ihrer Klage das Interesse der Beigeladenen an dem Beginn der Verwirklichung des Vorhabens bzw. an dessen vollständiger Realisierung vor Eintritt der Rechtskraft des Hauptsacheverfahrens überwiegt, da nach der Erfahrung des Senats mit einer nachträglichen Beseitigung solchermaßen begonnener bzw. realisierter Baulichkeiten mit hoher Wahrscheinlichkeit praktisch nicht zu rechnen ist.
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4. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 und 3 i.V.m. § 159 VwGO. Die Streitwertfestsetzung beruht auf 52 Abs. 1 VwGO i.V.m. den Nrn. 1.2 und 1.5 des Streitwertkatalogs und entspricht der Streitwertfestsetzung der ersten Instanz, die von den Beteiligten nicht in Frage gestellt wurde.
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Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO).