Inhalt

VGH München, Beschluss v. 07.08.2023 – 15 CS 23.1179
Titel:

Nachbarschutz gegen Baugenehmigung wegen Verletzung des Gebietserhaltungsanspruchs

Normenketten:
VwGO § 80a Abs. 3, § 80 Abs. 5
BauNVO § 6, § 8, § 11 Abs. 3 S. 1 Nr. 2
Leitsätze:
1. Der sog. Gebietserhaltungsanspruch gibt grundsätzlich allen Eigentümern von Grundstücken in einem durch Bebauungsplan festgesetzten Baugebiet das Recht, sich gegen hinsichtlich der Art der baulichen Nutzung nicht zulässige Vorhaben in diesem Gebiet zur Wehr zu setzen. Der Anspruch ist eine Folge davon, dass Baugebietsfestsetzungen kraft Gesetzes dem Schutz aller Eigentümer der in dem Gebiet gelegenen Grundstücke dienen. (Rn. 29) (redaktioneller Leitsatz)
2. Der Gebietserhaltungsanspruch ist unabhängig von einer konkreten Beeinträchtigung. Es genügt die abstrakte Gefahr, dass ein gebietsfremdes Vorhaben weitere gebietsfremde Vorhaben gleich welcher Art nach sich zieht. (Rn. 29) (redaktioneller Leitsatz)
3. Aufgrund des besonderen Näheverhältnisses im Abstandsflächenrecht ist es dort gerechtfertigt bei einem beiderseitigen Abstandsflächenverstoß darauf abzustellen, ob eine quantitative und/oder qualitative Vergleichbarkeit von Verstößen vorliegt bzw. zwischen beiderseitigen Verstößen ein grobes Missverhältnis gegeben ist. Durch die Genehmigung eines planwidrigen Vorhabens kann sich hingegen der Gebietscharakter für alle im Plangebiet vorhandenen Grundstücke ändern, auch wenn sie nicht unmittelbare Grundstücksnachbarn sind. (Rn. 30) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
erfolgreiche Beschwerde, Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung, Verstoß gegen Treu und Glauben bei Geltendmachung des Anspruchs auf Gebietserhaltung eines selbst gegen die Gebietsfestsetzung verstoßenden Nachbarn (offengelassen), Keine Vergleichbarkeit mit Grundsätzen bei beiderseitigem Verstoß gegen Abstandsflächen, Baugenehmigung, einstweiliger Rechtsschutz, Verletzung des Gebietserhaltungsansruchs, eigener Verstoß, beidseitiger Verstoß gegen Abstandsflächen, Vergleichbarkeit
Vorinstanz:
VG Regensburg, Beschluss vom 09.06.2023 – RO 7 S 23.726
Fundstelle:
BeckRS 2023, 20765

Tenor

I. Unter Aufhebung des Beschlusses des Verwaltungsgerichts Regensburg vom 9. Juni 2023 (RO 7 S 23.726) wird die aufschiebende Wirkung der Klage des Antragstellers vom 9. Dezember 2022 (RO 7 K 22.2834) gegen den Bescheid der Antragsgegnerin vom 11. November 2022 in der Fassung vom 2. Mai 2023 angeordnet.
II. Die Antragsgegnerin und die Beigeladene tragen die Kosten des Verfahrens in beiden Rechtszügen je zur Hälfte.
III. Der Streitwert für das Beschwerdeverfahren wird auf 7.500 Euro festgesetzt.

Gründe

I.
1
Der Antragsteller wendet sich im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes gegen eine der Beigeladenen von der Antragsgegnerin erteilte Baugenehmigung für einen Einkaufsmarkt.
2
Der Antragsteller ist Eigentümer der mit einem Haupt- und Nebengebäude bebauten Grundstücke Fl.-Nrn. …32 und …36 der Gemarkung W* … … Auf dem Grundstück Fl.-Nr. …32 der Gemarkung W* … … betreibt er derzeit einen N* …-Markt mitsamt Parkplatz.
3
Nördlich und nordwestlich der Grundstücke des Antragstellers befinden sich – getrennt durch die ca. 8 m breite R* …-Straße – die Grundstücke der Beigeladenen (Fl.-Nrn. …24 und …25 der Gemarkung W* … …*).
4
Sowohl die Grundstücke des Antragstellers als auch die Beigeladenengrundstücke liegen im Geltungsbereich des Bebauungsplans „L* … …“, Änderung Nr. … … … …“ (im Folgenden: Bebauungsplan). Der Bebauungsplan setzt hinsichtlich der Art der Nutzung für die Grundstücke des Antragstellers und die Beigeladenengrundstücke jeweils ein Gewerbegebiet fest (vgl. B.1.1 des Bebauungsplans) und enthält im Hinblick auf die im Geltungsbereich des Bebauungsplans zulässigen Nutzungen eine textliche Festsetzung zu den Einzelhandelsbetrieben (vgl. B.1.2.1 des Bebauungsplans).
5
Mit Bescheid der Antragsgegnerin vom 11. November 2022 wurde der Beigeladenen eine Baugenehmigung auf den Grundstücken Fl.-Nrn. …24 und …25 der Gemarkung W* … … für folgendes Vorhaben erteilt: „Neubau eines N* …-Marktes und eines F* …-Getränkemarktes inkl. Werbeanlagen“. Es handele sich weder bei dem geplanten N* …-Markt noch bei dem geplanten F* …-Getränkemarkt um großflächige Einzelhandelsbetriebe, die sich nach Art, Lage oder Umfang auf die Verwirklichung der Ziele der Raumordnung und Landesplanung oder auf die städtebauliche Entwicklung und Ordnung nicht nur unwesentlich auswirken könnten. Die Atypik belege die von der Beigeladenen vorgelegte Auswirkungsanalyse und Verträglichkeitsprüfung der geplanten Verlagerung und Neuerrichtung des N* …-Marktes R* …-Straße der Dr. H* … … … … GmbH vom 27. Mai 2022 (im Folgenden: Auswirkungsanalyse) und die ergänzende Stellungnahme der Dr. H* … … … … GmbH vom 11. Juli 2022 (im Folgenden: ergänzende Stellungnahme). Überdies könne sich der Nachbar jedenfalls nach dem Grundsatz von Treu und Glauben nicht auf die Verletzung einer nachbarschützenden Vorschrift berufen, da er selbst Inhaber einer Baugenehmigung für einen Lebensmittelmarkt mit Backshop sei, für den eine Verkaufsfläche von insgesamt 1.093 qm vorgesehen sei.
6
Gegen die Baugenehmigung vom 11. November 2022 ließ der Antragsteller durch seinen Prozessbevollmächtigten am 9. Dezember 2022 Klage zum Verwaltungsgericht Regensburg (RO 7 K 22.2834) erheben, über die noch nicht entschieden wurde.
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Mit Änderungs- und Ergänzungsbescheid vom 2. Mai 2023 wurde die Ziffer 2.1 des Bescheides vom 11. November 2022 im Hinblick auf das Sortiment neu gefasst. In den Bescheidsgründen wird im Wesentlichen ausgeführt, dass der Baugenehmigungsbescheid vom 11. November 2022 per se hinreichend bestimmt sei. Der Änderungs- und Ergänzungsbescheid ergehe jedoch, um jegliche Zweifel hinsichtlich der Bestimmtheit auszuräumen.
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Mit Beschluss vom 8. Mai 2023 lehnte das Verwaltungsgericht einen Antrag auf Erlass einer Zwischenentscheidung ab.
9
Mit Schriftsatz vom 1. Juni 2023 ließ der Antragsteller gegen den Änderungs- und Ergänzungsbescheid vom 2. Mai 2023 Klage erheben, der in das Verfahren RO 7 K 22.2834 einbezogen wurde.
10
Mit Beschluss vom 9. Juni 2023 lehnte das Verwaltungsgericht den am 25. April 2023 gestellten Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz ab. Hinsichtlich des streitgegenständlichen N* …-Marktes könne dahinstehen, ob dieser als rechtwidriger großflächiger Einzelhandelsbetrieb i.S.v. § 11 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 BauNVO zu qualifizieren und damit der Gebietserhaltungsanspruch verletzt sei. Denn der Antragsteller sei jedenfalls unter dem Gesichtspunkt der unzulässigen Rechtsausübung gehindert, eine etwaige Verletzung des Gebietserhaltungsanspruchs geltend zu machen. Der Antragsteller nutze sein Grundstück mit einem im Gewerbegebiet unzulässigen großflächigen Einzelhandelsbetrieb selbst planwidrig, da er eine Verkaufsfläche von mehr als 800 qm und eine Geschossfläche von 1.373,57 qm aufweise. Soweit der Antragsteller vorbringe, dass nur ein vergleichbarer Verstoß gegen die Gebietsfestsetzung eine rechtsmissbräuchliches Verhalten begründen könne, verfange dieser Einwand nicht. Im Falle der Verletzung von Abstandsflächenvorschriften werde für ein rechtsmissbräuchliches, den Gebietserhaltungsanspruch ausschließendes Verhalten von der Rechtsprechung zwar gefordert, dass die beiderseitigen Abweichungen quantitativ und qualitativ gleichgewichtig seien. Diese Auffassung lasse sich jedoch – im Hinblick auf die quantitative Vergleichbarkeit – nicht auf einen beiderseitigen Verstoß gegen die Nutzungsbeschränkungen der Gebietsart übertragen. Die quantitative Beschaffenheit eines Vorhabens lasse den Gebietscharakter in der Regel unberührt, so dass in der vorliegenden Konstellation ein Rekurs auf die quantitative Vergleichbarkeit nicht zielführend sei. Im Übrigen könne für die Inanspruchnahme des Gebietserhaltungsanspruchs nicht entscheidend sein, ob jemand weniger oder mehr gegen eine Festsetzung des Bebauungsplans zur Gebietsart verstoße. Bei Festsetzungen zur Art der baulichen Nutzung sei lediglich maßgebend, ob von den Nutzungsbeschränkungen abgewichen werde und damit ein gebietsfremdes Vorhaben gegeben sei. Die quantitative Vergleichbarkeit könne für die Frage, ob der Gebietserhaltungsanspruch des Antragstellers wegen unzulässiger Rechtsausübung entfalle, allenfalls dann relevant werden, wenn zwischen den beiderseitigen Verstößen ein grobes Missverhältnis bestehe. Ein solches Missverhältnis sei vorliegend jedoch nicht ersichtlich. Demnach sei der Antragsteller nach Treu und Glauben gehindert, eine etwaige Verletzung des Gebietserhaltungsanspruchs zu rügen. Aus diesem Grund könne ferner dahinstehen, ob die Baugenehmigung in der Fassung des Änderungs- und Ergänzungsbescheides hinreichend bestimmt sei.
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Gegen den Beschluss erhob der Antragsteller am 3. Juli 2023 Beschwerde. Er trägt auch mit weiterem Schriftsatz vom 21. Juli 2023 vor, der bestehende N* …-Markt verstoße nicht gegen die Gebietsart, da es sich nicht um einen unzulässigen Einzelhandelsbetrieb nach § 11 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 BauNVO 1990 handele. Die Grundsätze zur Anwendbarkeit von Treu und Glauben in der Ausgestaltung der unzulässigen Rechtsausübung seien überwiegend zu wechselseitigen Abstandsflächenverstößen ergangen. In qualitativer Hinsicht wären die jeweiligen Verstöße nicht vergleichbar, da es durch das antragsgegenständliche Vorhaben zu einer landesplanerisch relevanten Agglomeration von Einzelhandelsbetrieben zu einem Einzelhandelsgroßprojekt komme. Ausweislich der Genehmigungsunterlagen „Berechnungen zum Bauantrag“ habe der N* …-Markt eine Verkaufsfläche von 1.144,78 qm. Es gingen wesentliche Auswirkungen nach § 11 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 BauNVO von dem Vorhaben aus. Die Vermutungsregelung des § 11 Abs. 3 Satz 3 BauNVO sei unzweifelhaft anzunehmen, da der N* …markt eine Gesamtfläche von 1.657,79 qm und mit dem F* …markt (639,04 qm) sogar 2.296,83 qm habe. Die Festsetzungsschablonen hinsichtlich der Art der Nutzung Gewerbegebiet seien identisch, es liege fern, verschiedene Teilbereiche anzunehmen. Die vorgelegte „Auswirkungsanalyse und Verträglichkeitsprüfung der geplanten Verlagerung des N* …marktes R* …-Straße“ von Dr. H* … vom 27. Mai 2022 samt Ergänzung vom 11. Juli 2022 weise nicht nach, dass Auswirkungen nach § 11 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 BauNVO nicht vorlägen. Die Analyse verkenne, dass eine landesplanerisch unerwünschte Einzelhandelsagglomeration vorliege und vermöge daher nicht, deren Auswirkungen zu widerlegen, da diese überhaupt nicht geprüft worden seien. Darüber hinaus gelänge es nicht, eine Atypik nachvollziehbar zu belegen und damit die Vermutungsregelung zu widerlegen. Die Analyse nehme fehlerhaft an, dass die Einzelhandelsbetriebe durch bestehende Standortstrukturen und Erschließungssowie Anfahrtssituationen getrennt seien. Vielmehr liege eine Agglomeration von acht Einzelhandelsbetrieben zu einem Einzelhandelsgroßprojekt nach 5.3.1. LEP vor, da mehr als zwei Einzelhandelsbetriebe vorlägen, die in räumlich-funktionalem Zusammenhang stünden und die erheblich überörtlich raumbedeutsam seien. Diese stünden in einem räumlich funktionalen Zusammenhang, da sie gegenseitig sich ergänzende Warensortimente aufwiesen und faktisch eine einheitliche Erschließungssowie Anfahrtssituation vorliege, die wie ein Einzelhandelsgroßprojekt wirke. Die Betriebe seien fußläufig untereinander ohne etwaiges Umparken erreichbar. Die fachliche Stellungnahme des Ingenieurbüros C* … … … vom 6. Juni 2023 zeige, dass sich die Auswirkungs- und Verträglichkeitsanalyse zum antragsgegenständliche Bauvorhaben nicht ausreichend mit den Auswirkungen auf den Verkehr beschäftigt habe. Es sei auch nicht richtig in der Auswirkungsanalyse ausgeführt, dass es sich nur um einen Ersatzbau handele, denn es würde ein zusätzliches Gebäude entstehen. Insbesondere sei die Fläche aktuell unbebaut. Zudem seien auch andere Anhaltspunkte zu berücksichtigen, die gegen eine Atypik sprächen. Das Verwaltungsgericht habe unzutreffend festgestellt, dass sich der Antragsteller wegen des Grundsatzes von Treu und Glauben nicht auf die Unbestimmtheit der Baugenehmigung berufen könne.
12
Der Antragsteller beantragt sinngemäß,
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unter Aufhebung des Beschlusses des Verwaltungsgerichts Regensburg vom 9. Juni 2023 die aufschiebende Wirkung der Anfechtungsklage gegen den Bescheid der Antragsgegnerin vom 11. November 2022 in der Fassung vom 2. Mai 2023 anzuordnen.
14
Die Antragsgegnerin beantragt,
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die Beschwerde zurückzuweisen.
16
Sie führt in ihren Schriftsätzen vom 11. Juli 2023 und 24. Juli 2023 aus, dass der Vergleich mit unterschiedlichen Abstandsflächenüberschreitungen fehlgehe, da die Abstandsflächen nicht die Art der baulichen Nutzung beträfen und auch nicht über den Gebietserhaltungsanspruch geschützt würden. Obwohl das Abstandsflächenrecht ebenfalls das nachbarliche Austauschverhältnis betreffe, ergebe sich der Drittschutz per se aus den Vorschriften des Abstandsflächenrechts. Dies sei nicht streitentscheidend, da beide Vorhaben die 1.200 qm Schwelle überschreiten würden, weshalb die Vermutungsregelung des § 11 Abs. 3 Satz 3 BauNVO zur Anwendung käme und es rechtmissbräuchlich sei, eine Nutzung des Beschwerdeführers zu schützen, obwohl er selbst das nachbarschaftliche Gemeinschaftsverhältnis störe, zumal die beidseitigen Verstöße nicht in einem groben Missverhältnis stünden. Selbst wenn ein drittschützender Gebietserhaltungsanspruch vermittelt würde, sei dieser nicht verletzt, da die Vermutungsregelung des § 11 Abs. 3 Satz Nr. 2, Satz 3 BauNVO widerlegt sei. Es sei nicht von einer Agglomeration auszugehen. Aufgrund der Vergleichbarkeit der Produkte und mangels Vertriebsabsprachen stünden sie in einem direkten Wettbewerb. Es bestehe auch kein räumlicher Zusammenhang, da die sechs/sieben Märkte von drei verschiedenen Straßen erschlossen würden. Auswirkungen auf andere Standorte im Gebiet der Antragsgegnerin seien nicht ersichtlich. Mit dem Änderungsbescheid seien die ohnehin unbegründeten Befürchtungen des Antragstellers, der Nonfood-Anteil betrage weniger als 10% der Verkaufsfläche und der Bescheid sei zu unbestimmt, erledigt.
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Die Beigeladene beantragt,
18
die Beschwerde zurückzuweisen.
19
Sie führt mit Schriftsätzen vom 17. Juli 2023 und 21. Juli 2023 aus, es handele sich um eine reine Konkurrentenklage, da der Antragsteller seinen potenziellen Mieter für sein eigenes Vorhaben sichern und verhindern wolle, dass er diesen Mieter an die Beigeladene verliere. Der Antragsteller verfüge über eine Baugenehmigung, um selbst einen Discounter mit integriertem Backshop mit einer Geschossfläche von 1.762,19 qm und einer Verkaufsfläche von 1.162,15 qm zu errichten. Schon jetzt liege eine potenziell gleichartige Verletzung des Gebietscharakters vor. Die Verletzung des Gebietserhaltungsanspruchs scheitere auch deshalb, weil bereits heute das Gebiet durch eine Vielzahl von klein- und großflächigen Einzelhandelsbetrieben geprägt sei. Die Grundstücke des Antragstellers und der Beigeladenen lägen auch nicht im selben Teilbaugebiet des Bebauungsplans und hätten eigene, wenn auch inhaltsgleiche Festsetzungsschablonen erhalten. Es bestehe keine funktionale Einheit des geplanten N* …-Marktes und des Getränkemarktes. Wie die Auswirkungsanalyse zeige, bestünden auch keine erheblichen Auswirkungen des Vorhabens, vielmehr sei nur eine geringe Auswirkung auf die Versorgungsstruktur zu erwarten, zumal die Antragsgegnerin über einen großen Einzugsbereich verfüge. Andere Betriebe würden nicht gefährdet. Spätestens mit dem Änderungsbescheid sei den Bestimmtheitserfordernissen genügt. Es gebe auch keine besonderen verkehrlichen Auswirkungen.
20
Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten wird auf die Gerichtsakten beider Instanzen sowie auf die vorgelegten Behördenakten der Antragsgegnerin Bezug genommen.
II.
21
Die zulässige Beschwerde des Antragstellers ist begründet. Entgegen der Ansicht des Verwaltungsgerichts ist die aufschiebende Wirkung der gegen die Baugenehmigung vom 11. November 2022 in der Fassung vom 2. Mai 2023 erhobenen Anfechtungsklage anzuordnen.
22
Im Rahmen eines Verfahrens nach § 80a Abs. 3 i.V. mit § 80 Abs. 5 VwGO trifft das Gericht aufgrund der sich im Zeitpunkt seiner Entscheidung darstellenden Sach- und Rechtslage eine eigene Ermessensentscheidung darüber, ob die Interessen, die für einen sofortigen Vollzug des angefochtenen Verwaltungsakts sprechen, oder diejenigen, die für die Anordnung der aufschiebenden Wirkung streiten, höher zu bewerten sind. Im Rahmen dieser Interessenabwägung sind auch die Erfolgsaussichten des Rechtsbehelfs in der Hauptsache zu berücksichtigen. Diese sind ein wesentliches, aber nicht das alleinige Indiz für und gegen den gestellten Antrag. Wird der in der Hauptsache erhobene Rechtsbehelf bei der im einstweiligen Rechtsschutzverfahren nur möglichen summarischen Prüfung voraussichtlich erfolgreich sein (weil er zulässig und begründet ist), so wird regelmäßig nur die Anordnung der aufschiebenden Wirkung in Betracht kommen. Wird dagegen der in der Hauptsache erhobene Rechtsbehelf voraussichtlich keinen Erfolg haben (weil er unzulässig oder unbegründet ist), so ist dies ein starkes Indiz für die Ablehnung des Antrages auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung. Sind schließlich die Erfolgsaussichten offen, findet eine allgemeine, von den Erfolgsaussichten unabhängige Abwägung der für und gegen den Sofortvollzug sprechenden Interessen statt (vgl. BayVGH, B.v. 16.6.2023 – 15 CS 23.731 – juris Rn. 16 m.w.N.)
23
Nach summarischer Prüfung der Sach- und Rechtslage, wie sie das Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes kennzeichnet, sind unter Zugrundelegung des für die Beschwerdeentscheidung maßgebenden Beschwerdevorbringens (§ 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO) die Erfolgsaussichten der Anfechtungsklage des Antragstellers derzeit als offen einzuschätzen (1.). Die demnach vorzunehmende Abwägung der gegenseitigen Interessen fällt zu Gunsten des Antragstellers und zu Lasten des Beigeladenen und der Antragsgegnerin aus (2.).
24
1. Die Erfolgsaussichten der Klage sind offen.
25
Nach dem Vortrag der Beteiligten und den vorgelegten Akten ist die Sach- und Rechtslage, ob das streitgegenständliche Vorhaben und/oder das Vorhaben des Antragstellers gegen den Gebietscharakter verstoßen, im Rahmen der summarischen Prüfung nicht zu klären.
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Anders als von der Beigeladenen vorgetragen, trifft der Bebauungsplan keine gesonderten Festsetzungen für die Grundstücke des Antragstellers und des Beigeladenen. Vielmehr ergibt sich aus der Begründung unter Nr. 3.7. auf S. 5, dass im vorhandenen Bebauungsplan ein Mischgebiet gem. § 6 BauNVO nördlich der N* …-Straße sowie ein Gewerbegebiet gem. § 8 BauNVO für den Bereich südlich der N* …-Straße festgesetzt sind. Letzteres unterteilt sich in ein eingeschränktes und ein „normales“ Gewerbegebiet über die Festsetzung eines immissionswirksamen flächenbezogenen Schalleistungspegels. Wie sich aus den Plänen ergibt, liegen das streitgegenständliche Vorhaben und das Vorhaben des Antragstellers südlich der N* …-Straße im festgesetzten „normalen“ Gewerbegebiet und damit voraussichtlich im selben Plangebiet.
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Aufgrund des Vortrags der Beteiligten und den Unterlagen lässt sich im vorliegenden Beschwerdeverfahren nicht ausreichend klären, ob der Antragsteller mit seinem Vorhaben gegen den Gebietscharakter verstößt. Selbst wenn der Antragsteller sein Grundstück planwidrig nutzen würde, weil er in einem Gewerbegebiet einen unzulässigen Einzelhandelsbetrieb nach § 11 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 BauNVO betreiben würde, ist im Hauptsacheverfahren aufzuklären, ob sich der Gebietscharakter dadurch bereits so verändert hat, dass unabhängig vom streitgegenständlichen Vorhaben kein Gewerbegebiet mehr besteht, was zur Folge hätte, dass auch kein Anspruch auf Gebietserhaltung mehr bestehen dürfte.
28
Zwar liegt sowohl bei der Verletzung von Abstandsflächen als auch bei der Verletzung des Gebietserhaltungsanspruchs ein nachbarliches Austauschverhältnis vor, jedoch ist im Hauptsacheverfahren zu klären, ob die hier vom Verwaltungsgericht und den Beteiligten zugrunde gelegte Rechtsprechung zu den Vorschriften über die Abstandsflächen vollständig auf den hier vorliegenden Fall einer möglichen Verletzung des Gebietserhaltungsanspruchs übertragen werden kann. Denn die Abstandsflächen haben Bedeutung für die ausreichende Belichtung, Besonnung und Belüftung, für eine ausreichende Sicherung des sozialen Wohnfriedens sowie für einen ausreichenden Brandschutz. Das Abstandsflächenrecht gewährt daher in der Regel nur denjenigen Eigentümern oder dinglich Berechtigten Nachbarschutz, deren Grundstücke unmittelbar an das Baugrundstück angrenzen (Hahn in Busse/Kraus, Bayerische Bauordnung, Stand Januar 2023, Art. 6 Rn. 547 ff.).
29
Demgegenüber gibt der sog. Gebietserhaltungsanspruch (z.T. auch „Gebietsbewahrungsanspruch“ genannt) grundsätzlich allen Eigentümern von Grundstücken in einem durch Bebauungsplan festgesetzten Baugebiet (§ 1 Abs. 3 Satz 1 i. V. m. Abs. 2 BauNVO) das Recht, sich gegen hinsichtlich der Art der baulichen Nutzung nicht zulässige Vorhaben in diesem Gebiet zur Wehr zu setzen. Der Anspruch ist eine Folge davon, dass Baugebietsfestsetzungen kraft Gesetzes dem Schutz aller Eigentümer der in dem Gebiet gelegenen Grundstücke dienen. Er beruht auf der Erwägung, dass die Grundstückseigentümer durch die Lage ihrer Anwesen in demselben Baugebiet zu einer Gemeinschaft verbunden sind, bei der jeder in derselben Weise berechtigt und verpflichtet ist, dass also ein wechselseitiges Austauschverhältnis besteht (st. Rspr.; vgl. BVerwG, U.v. 23.8.1996 – 4 C 13.94 – BVerwGE 101, 364 und B.v. 18.12.2007 – 4 B 55.07 – BayVBl. 2008 S. 765 = juris Rn. 5). Der Gebietserhaltungsanspruch ist unabhängig von einer konkreten Beeinträchtigung. Es genügt die abstrakte Gefahr, dass ein gebietsfremdes Vorhaben weitere gebietsfremde Vorhaben gleich welcher Art nach sich zieht (Bienek in PdK Bund F-1, 7. Fassung 2022, § 30 BauGB, Nr. 6.2.1; BVerwG, B.v. 27.8.2013 – 4 B 39.13 – juris Rn. 4).
30
Aufgrund des besonderen Näheverhältnisses im Abstandsflächenrecht ist es dort gerechtfertigt bei einem beiderseitigen Abstandsflächenverstoß darauf abzustellen, ob eine quantitative und/oder qualitative Vergleichbarkeit von Verstößen vorliegt bzw. zwischen beiderseitigen Verstößen ein grobes Missverhältnis gegeben ist. Durch die Genehmigung eines planwidrigen Vorhabens kann sich hingegen der Gebietscharakter für alle im Plangebiet vorhandenen Grundstücke ändern, auch wenn sie nicht unmittelbare Grundstücksnachbarn sind. Selbst wenn der Antragsteller mit seinem vorhandenen genehmigten N* …markt gegen den Gebietscharakter verstoßen würde, ist daher zweifelhaft, ob nach den Grundsätzen von Treu und Glauben eine unzulässige Rechtsausübung vorliege, wenn er sich auf die Verletzung des Gebietscharakters beruft. Das Vorhaben des Antragstellers könnte beispielsweise ein „Ausreißer“ sein, der für sich noch keine Veränderung des Gebietscharakters hervorrufen würde, während durch das Hinzutreten des Vorhabens der Beigeladenen der Gebietscharakter „kippen“ könnte.
31
Ob der Gebietscharakter hier durch das streitgegenständliche Vorhaben der Beigeladenen verletzt wird, muss im Hauptsacheverfahren geklärt werden. Das Verwaltungsgericht, das der Auffassung war, dass der Antragsteller unter dem Gesichtspunkt der unzulässigen Rechtsausübung gehindert sei, eine etwaige Verletzung des Gebietserhaltungsanspruchs geltend zu machen, hat es dahinstehen lassen, ob das streitgegenständliche Vorhaben als großflächiger Einzelhandelsbetrieb zu qualifizieren sei und den Gebietserhaltungsanspruch verletze.
32
Die Beteiligten sind ausführlich darauf eingegangen, ob das Vorhaben des Antragstellers planungsrechtlich zulässig sei, aus den Akten ist aber nicht eindeutig ersichtlich, ob bei dem streitgegenständlichen Vorhaben der Beigeladenen eine Atypik vorliegt, die die Regelvermutung des § 11 Abs. 3 Satz 3 BauNVO widerlegt und ob das Vorhaben im Gewerbegebiet zulässig ist. Vielmehr ergibt sich aus dem Vortrag der Beteiligten und den Unterlagen, dass u.a. streitig ist, ob eine funktionale Einheit zwischen N* …markt und F* …markt besteht und wie sich die Verkaufs- und Geschossfläche errechnet. Streitig ist auch, ob die Vermutungsregelung, dass das Vorhaben wesentliche Auswirkungen nach § 11 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 BauNVO hat, gilt oder nicht. Zudem ist strittig, ob die vorgelegte Auswirkungsanalyse und Verträglichkeitsprüfung Dr. H* … vom 27. Mai 2022 samt Ergänzung vom 11. Juli 2022 auf richtigen Annahmen beruht und im Ergebnis zu den richtigen Schlussfolgerungen kommt. Diese Fragen sind sämtlich im Hauptsacheverfahren zu klären und führen aufgrund des Umfangs, der Komplexität sowie des streitigen Sachverhalts im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes dazu, dass die Erfolgsaussichten hier als offen zu beurteilen sind.
33
2. Ergibt – wie hier – die auf dargelegte Gründe beschränkte Prüfung des Beschwerdegerichts (§ 146 Abs. 4 Satz 3 und 6 VwGO), dass die tragende Begründung des Verwaltungsgerichts die Ablehnung des Antrags auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes so nicht rechtfertigt, ist im Beschwerdeverfahren zu prüfen, ob vorläufiger Rechtsschutz nach allgemeinen Maßstäben zu gewähren ist (vgl. VGH BW, B.v. 14.3.2013 – 8 S 2504/12 – ZfBR 2013, 583 = juris Rn. 11 m.w.N.; OVG NRW, B.v. 8.5.2002 – 1 B 241/02 – NVwZ-RR 2003, 50 = juris Rn. 4). Sind – wie hier – aufgrund der vorgebrachten Einwände die Erfolgsaussichten der Klage als offen anzusehen, ist über den Antrag aufgrund einer allgemeinen Interessenabwägung zu entscheiden. Diese fällt vorliegend zugunsten des Antragstellers und zu Lasten der Antragsgegnerin sowie der Beigeladenen aus.
34
Auch wenn es für die Beigeladene erhebliche finanzielle Auswirkungen haben dürfte, wenn sie zunächst das Vorhaben nicht verwirklichen kann, überwiegt im vorliegenden Fall das Interesse des Antragstellers, vor der Schaffung vollendeter Tatsachen geschützt zu werden, die aus der Ausnützung einer ihn möglicherweise in seinen Rechten verletzenden Baugenehmigung resultieren würde. Zudem dürfte eine mögliche Veränderung des Gebietscharakters durch das angefochtene Bauvorhaben Auswirkungen auf das gesamte Plangebiet haben.
35
3. Die Kostenentscheidung beruht auf 154 Abs. 1‚ Abs. 3 VwGO. Dabei sind die Kosten zwischen der Antragsgegnerin und der Beigeladenen‚ die sich durch Antragstellung am Kostenrisiko beteiligt hat‚ hälftig zu teilen. Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 63 Abs. 2 Satz 1, § 47, § 53 Abs. 2 Nr. 2 und § 52 Abs. 1 GKG. Sie orientiert sich an Nr. 9.7.1. und Nr. 1.5 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit 2013 (abgedruckt in Eyermann, VwGO, 16. Aufl. 2022, Anhang) und folgt der Streitwertfestsetzung der erstinstanzlichen Entscheidung, gegen die im Beschwerdeverfahren keine Einwände erhoben worden sind.
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4. Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO).