Titel:
Rechtmäßige Ausweisung wegen wiederholter Drogendelikte
Normenketten:
AufenthG § 53
AEUV Art. 83 Abs. 1 UAbs. 2
Leitsatz:
In Fällen, in denen Straftaten (auch) aufgrund einer bestehenden Suchtmittelproblematik begangen wurden, ist in der Regel davon auszugehen, dass die konkrete Wiederholungsgefahr erst entfällt, sobald der Ausländer eine Drogentherapie erfolgreich abgeschlossen und darüber hinaus die damit verbundene Erwartung künftigen drogen- und straffreien Verhaltens auch nach dem Therapieende glaubhaft gemacht hat, insbesondere indem er sich außerhalb des Straf- oder Maßregelvollzugs bewährt hat. (Rn. 8) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Antrag auf Zulassung der Berufung, Ausweisung, Gefahrenprognose, Drogenhandel, Drogensucht, Kein erfolgreicher Abschluss der Therapie, Abwägung, Sozialprognose, illegaler Drogenhandel, Beschaffungskriminalität
Vorinstanz:
VG München, Urteil vom 02.03.2023 – M 12 K 22.4482
Fundstelle:
BeckRS 2023, 20751
Tenor
I. Der Antrag auf Zulassung der Berufung wird abgelehnt.
II. Der Kläger trägt die Kosten des Zulassungsverfahrens.
III. Der Streitwert für das Zulassungsverfahren wird auf 5.000,-- Euro festgesetzt.
Gründe
1
Mit seinem Antrag auf Zulassung der Berufung verfolgt der Kläger seine vor dem Verwaltungsgericht erfolglose Klage gegen den Bescheid der Beklagten vom 2. September 2022 weiter, mit dem diese ihn aus dem Bundesgebiet ausgewiesen, ihm gegenüber ein Einreise- und Aufenthaltsverbot erlassen und die Abschiebung nach erfülltem Strafanspruch und Vollziehbarkeit der Ausreisepflicht aus der Haft beziehungsweise Unterbringung in die Türkei angekündigt hat, wobei er für den Fall der Entlassung vor Durchführbarkeit der Abschiebung aufgefordert wurde, das Bundesgebiet binnen vier Wochen nach Entlassung zu verlassen, sowie ihm für den Fall der nicht fristgerechten Ausreise die Abschiebung in die Türkei angedroht hat.
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1. Der zulässige Antrag auf Zulassung der Berufung ist unbegründet. Aus dem Zulassungsvorbringen, das allein der rechtlichen Überprüfung durch den Senat unterliegt, ergeben sich die geltend gemachten Zulassungsgründe nicht.
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a) Dies betrifft insbesondere den geltend gemachten Zulassungsgrund der ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit des Urteils gemäß § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO.
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aa) Ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des angefochtenen Urteils im Sinne des § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO bestehen dann, wenn der Kläger im Zulassungsverfahren einen einzelnen tragenden Rechtssatz oder eine einzelne erhebliche Tatsachenfeststellung des Erstgerichts mit schlüssigen Gegenargumenten in Frage stellt (vgl. BVerfG, B.v. 10.9.2009 – 1 BvR 814/09 – juris Rn. 11; B.v. 9.6.2016 – 1 BvR 2453/12 – juris Rn. 16).
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Nach § 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO sind die Gründe, aus denen die Berufung zuzulassen ist, innerhalb von zwei Monaten nach Zustellung des vollständigen Urteils darzulegen. Das Darlegungsgebot verlangt, dass der Rechtsschutzsuchende die geltend gemachten Zulassungsgründe substantiiert erörtert und den Streitstoff sichtet und rechtlich durchdringt. Die Zulassungsbegründung muss sich mit dem angefochtenen Urteil und den tragenden Erwägungen konkret, fallbezogen und substantiiert auseinandersetzen (vgl. BayVGH, B.v. 27.4.2022 – 10 ZB 22.879 – juris Rn. 8 m.w.N.).
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bb) Gemessen daran zeigt das Zulassungsvorbringen keine derartigen Zweifel auf. Der Senat verweist zur Vermeidung von Wiederholungen entsprechend § 122 Abs. 2 Satz 3 VwGO auf die zutreffenden Gründe des angegriffenen Urteils. Ergänzend gilt lediglich Folgendes:
7
Nicht durchdringen kann die Klägerseite insbesondere mit dem gegen die Gefahrenprognose des Verwaltungsgerichts gerichteten Einwand, dass von dem Kläger, der sich seit dem Herbst 2022 im Isar-Amper-Klinikum in einer Rehabilitationsmaßnahme nach § 64 StGB befinde und dem die behandelnden Ärzte eine ausgesprochen positive Sozialprognose ausgestellt hätten, keine Gefahr mehr ausgehe. Ausweislich der gutachterlichen Stellungnahme des Isar-Amper-Klinikums Haar vom 16. Februar 2023 ergebe sich bei den Prognosefaktoren bezüglich des Anlassdelikts eine „eher moderate Bewertung“, die anamnestischen Daten präsentierten sich „weitestgehend positiv“, und die postdeliktische Persönlichkeitsentwicklung sei „überwiegend positiv“.
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Das Verwaltungsgericht hat die Gefahr, dass der Kläger bei einem Verbleib im Bundesgebiet weitere Straftaten, insbesondere im Bereich der Betäubungsmitteldelikte, begehen werde, als erheblich wahrscheinlich eingestuft. Dabei hat es verwertet, dass der Kläger aufgrund der Straftaten, die der Ausweisungsentscheidung zugrunde lagen, zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren und neun Monaten verurteilt wurde. Der illegale Drogenhandel gefährde Leib und Leben anderer Menschen, indem er eine Abhängigkeit hervorrufe oder aufrechterhalte. Der illegale Drogenhandel, zumal der Handel mit der harten Droge Heroin, gehöre zu den in Art. 83 Abs. 1 Unterabs. 2 AEUV angeführten Straftaten der besonders schweren Kriminalität (vgl. UA S. 14). Der Kläger sei bereits zwölf Mal strafrechtlich in Erscheinung getreten. Dabei hätten zwei Verurteilungen Betäubungsmitteldelikte betroffen. Mehrfach habe er trotz laufender Bewährung erneut eine Straftat begangen. Trotz strafrechtlicher Sanktionen und ausländerrechtlicher Verwarnungen habe er wiederholt und mit beachtlicher Rückfallgeschwindigkeit weiter gegen die geltende Rechtsordnung verstoßen und zuletzt mit der harten Droge Heroin Handel getrieben. Dass er eine so große Menge Heroin habe erlangen können, zeige seine tiefe Verbindung ins Drogenmilieu (vgl. UA S. 15). Außerdem hat das Verwaltungsgericht im Rahmen der Gefahrenprognose berücksichtigt, dass der Kläger selbst seit vielen Jahren drogenabhängig gewesen sei und überwiegend zur Beschaffung von Betäubungsmitteln zum Eigenkonsum gehandelt habe. In Fällen, in denen Straftaten (auch) aufgrund einer bestehenden Suchtmittelproblematik begangen worden seien, sei davon auszugehen, dass die konkrete Wiederholungsgefahr erst entfalle, sobald der Ausländer eine Drogentherapie erfolgreich abgeschlossen und darüber hinaus die damit verbundene Erwartung künftigen drogen- und straffreien Verhaltens auch nach dem Therapieende glaubhaft gemacht habe, insbesondere indem er sich außerhalb des Straf- oder Maßregelvollzugs bewährt habe. Dies sei bei dem langjährig drogenabhängigen Kläger, der die begonnene Therapie noch nicht abgeschlossen und sich auch nicht in Freiheit bewährt habe, nicht der Fall (vgl. UA S. 15).
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Eine substantiierte Auseinandersetzung mit den tatsächlichen Feststellungen und rechtlichen Erwägungen des Verwaltungsgerichts ist dem Zulassungsvorbringen nicht zu entnehmen. Dabei steht insbesondere die Erwägung, dass bei Straftaten, die, wie im Falle des Klägers, ihre Ursache in einer Suchterkrankung haben, von einem Entfallen der Wiederholungsgefahr nicht ausgegangen werden kann, solange eine entsprechende Therapie nicht (vollständig) abgeschlossen ist und sich die betreffende Person nach Therapieende hinreichend in Freiheit bewährt hat, im Einklang mit der ständigen Rechtsprechung des Senats (vgl. BayVGH, B.v. 2.2.2022 – 10 ZB 21.3030 – juris Rn. 3 m.w.N.).
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Abgesehen davon stellt die von Klägerseite angeführte gutachterliche Stellungnahme, die dem angegriffenen Urteil des Verwaltungsgerichts im Übrigen bereits zugrunde lag (vgl. UA S. 10 f.), dem Kläger nicht nur keine uneingeschränkt positive Sozialprognose aus, wie die von der Klägerseite zitierten Formulierungen signalisieren (s.o.), sondern weist ausdrücklich auf Wiederholungsgefahren hin (vgl. Senatsakte, Bl. 29: „zum aktuellen Zeitpunkt bestehen weitere Faktoren, die zu einer Aufrechterhaltung der Gefährlichkeit … führen“, „besitzt …noch nicht ausreichende Bewältigungsstrategien für Suchtdruck“ u. „großes Bedürfnis nach Status und Leistung …, welches auslösend für dysfunktionale Verhaltensweisen in der Zukunft sein könnte“). Es ist daher weder substantiiert dargelegt noch anderweitig ersichtlich, dass die gutachterliche Stellungnahme im Ergebnis zu einer anderen Einschätzung der von dem Kläger ausgehenden Gefahren führen könnte. Gleiches gilt für die im Zulassungsverfahren nachträglich vorgelegte gutachterliche Stellungnahme vom 1. Juni 2023, die den Kläger − weiterhin − innerhalb der Gruppe von Straftätern mit einem erhöhten allgemeinen Rückfallrisiko für haftstrafenbewehrte Delikte innerhalb von zwei Jahren nach Entlassung verortet. Darin wird „unter gewissen Bedingungen“ ausdrücklich mit erneuten Straftaten gerechnet, wobei der Eintritt der Bedingungen nicht nur nicht ausgeschlossen, sondern sogar nahegelegt wird (vgl. Senatsakte, Bl. 38 Rückseite u. Bl. 39: „Von einer erhöhten Wahrscheinlichkeit für eine Rückfälligkeit ist … auszugehen, wenn es ihm nicht gelingen sollte, eine gesunde Balance zwischen seinem „Erlebnishunger“ und einer gleichzeitig benötigten geregelten Arbeits- und Tagesstruktur zu finden“).
11
Soweit die Klägerseite vorträgt, der Kläger sei „erstmals in Haft bzw. in Unterbringung nach § 64 StGB“ gewesen, fällt dies nicht entscheidend ins Gewicht. Abgesehen davon hat er sich jedenfalls nach den nicht angegriffenen Feststellungen des Verwaltungsgerichts und nach dem unwidersprochen gebliebenen Vortrag der Beklagten bereits in Therapieeinrichtungen sowie in Untersuchungshaft befunden und auch schon zwei Wochen Jugendarrest absolviert (vgl. UA S. 2 u. 3 sowie Senatsakte, Bl. 32 Rückseite).
12
Kein Erfolg ist schließlich dem Einwand der Klägerseite beschieden, die Ausweisung und die Abschiebung verstießen gegen Art. 8 EMRK und Art. 6 GG, weil der Kläger in der Türkei überhaupt keine Angehörigen mehr habe, hingegen in München seine Verlobte, eine serbische Staatsbürgerin mit unbefristeter Aufenthaltserlaubnis, sowie sein Bruder, die einzige familiäre Bezugsperson, lebten. Mit dem Vorbringen, dass die Lebensgefährtin die serbische und nicht die türkische Staatsangehörigkeit besitze, ist nicht dargelegt, dass es nicht möglich und zumutbar ist, die Beziehung anderweitig fortzuführen. Dies ist auch nicht anderweitig ersichtlich. Die Klägerseite hat damit nicht aufgezeigt, dass die von dem Verwaltungsgericht vorgenommene Gesamtabwägung (vgl. UA S. 20) im Ergebnis fehlerhaft ist und der Bindung des Klägers zu der Lebensgefährtin gegenüber den Sicherheitsinteressen der Bundesrepublik Deutschland aufgrund der von ihm ausgehenden Gefahren für höchste Rechtsgüter – auch unter Berücksichtigung von Fernkommunikationsmitteln, Besuchen in der Türkei sowie Betretenserlaubnissen für den Kläger − in der Gesamtabwägung der Vorrang einzuräumen wäre.
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Entsprechendes gilt für die Bindung des Klägers zu seinem Bruder. Das Verwaltungsgericht hat entschieden, dass der erwachsene Kläger nicht auf die Unterstützung des erwachsenen Bruders angewiesen sei, wie auch dieser umgekehrt nicht auf ihn (vgl. UA S. 20). Dies greift die Klägerseite nicht substantiiert an mit dem Vorbringen, der Bruder, der an einer Psychose leide, müsse sich regelmäßig in Behandlung ins Isar-Amper-Klinikum Haar begeben, der Kläger hätte (gemeint wohl: nach Entlassung – Anm. d. Senats) bei diesem eine Wohnmöglichkeit, und die Brüder seien gegenseitig auf ihre Unterstützung angewiesen, da andere Familienangehörige nicht existierten. Die Klägerseite hat die geltend gemachte „Psychose“ des Bruders in der Zulassungsschrift nicht konkretisiert und auch nicht belegt. Genauso wenig hat sie dessen Aufenthalte in der genannten Einrichtung oder die Unterstützung näher dargelegt, die der Kläger dem Bruder in der Vergangenheit hat angedeihen lassen. Aus dem Umstand, dass keine anderen Familienangehörigen vorhanden sind, ergibt sich nicht, dass der eine erwachsene Bruder auf den anderen angewiesen ist. Dass der Kläger nach der Entlassung bei dem Bruder eine Wohnmöglichkeit hat, reicht nicht hin, um von einem Angewiesensein sprechen können. Weitere Unterstützungsleistungen des Bruders an den Kläger wurden nicht benannt. Daher ist auch insoweit nicht aufgezeigt, dass die von dem Verwaltungsgericht vorgenommene Gesamtabwägung (s.o.) im Ergebnis fehlerhaft ist und der Bindung des Klägers zu seinem Bruder gegenüber den Sicherheitsinteressen der Bundesrepublik Deutschland – auch unter Berücksichtigung der genannten Begegnungsmöglichkeiten − in der Gesamtabwägung der Vorrang einzuräumen wäre.
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b) Zu dem ebenfalls geltend gemachten Zulassungsgrund der besonderen tatsächlichen oder rechtlichen Schwierigkeiten der Rechtssache im Sinne von § 124 Abs. 2 Nr. 2 VwGO hat die Klägerseite nichts vorgetragen.
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2. Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO.
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3. Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 63 Abs. 2 Satz 1, § 47 Abs. 1 und § 52 Abs. 1 und 2 GKG in Verbindung mit Nr. 8.2 des Katalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit.
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4. Dieser Beschluss ist nach § 152 Abs. 1 VwGO unanfechtbar. Mit der Ablehnung des Antrags auf Zulassung der Berufung wird die Entscheidung des Verwaltungsgerichts nach § 124a Abs. 5 Satz 4 VwGO rechtskräftig.