Inhalt

VGH München, Beschluss v. 03.08.2023 – 10 ZB 23.1136
Titel:

keine Aufenthaltserlaubnis zum Zwecke des Familiennachzugs

Normenkette:
AufenthG § 36 Abs. 2
Leitsatz:
Eine außergewöhnliche Härte im Sinne von § 36 Abs. 2 AufenthG kann ihre Ursache nur in subjektiven, die Herstellung bzw. Wahrung der Familieneinheit betreffenden Umständen haben; außerhalb dieses Schutzbereichs liegende Beeinträchtigungen bleiben deshalb in der Regel außer Betracht. Die Beeinträchtigung von öffentlichen Interessen kann in aller Regel keine außergewöhnliche Härte im Sinne von § 36 Abs. 2 AufenthG begründen. (Rn. 9) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Familiennachzug der Großmutter zur alleinerziehenden Tochter bzw. Enkelin, Betreuung eines Schulkindes, außergewöhnliche Härte (nicht dargelegt), Aufenthaltserlaubnis zum Familiennachzug, Betreuungsbedürftigkeit, außergewöhnliche Härte
Vorinstanz:
VG München, Urteil vom 02.05.2023 – M 4 K 23.411
Fundstelle:
BeckRS 2023, 20747

Tenor

I. Der Antrag auf Zulassung der Berufung wird abgelehnt.
II. Die Klägerin hat die Kosten des Zulassungsverfahrens zu tragen.
III. Der Streitwert für das Zulassungsverfahren wird auf 5.000,00 Euro festgesetzt.

Gründe

1
Die Klägerin, eine brasilianische Staatsangehörige, verfolgt mit ihrem Antrag auf Zulassung der Berufung ihre in erster Instanz erfolglose Klage auf Verpflichtung des Beklagten, ihr eine Aufenthaltserlaubnis zum Familiennachzug zu ihrer Tochter bzw. Enkelin zu erteilen, weiter.
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Der Antrag auf Zulassung der Berufung bleibt ohne Erfolg.
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Dabei kann dahinstehen, ob der Klägerin Wiedereinsetzung in die versäumte Frist zur Begründung des Zulassungsantrags zu gewähren wäre – die Frist für die Begründung des Antrags auf Zulassung der Berufung endete mit Ablauf des 24. Juli 2023 (Montag), die Begründung des Zulassungsantrags ist beim Verwaltungsgerichtshof jedoch erst am 25. Juli 2023 eingegangen, nachdem das Verwaltungsgericht die dort am 21. Juli 2023 eingegangene Zulassungsbegründung an den Verwaltungsgerichtshof weitergeleitet hatte –, weil es das Verwaltungsgericht möglicherweise versäumt hat, den Schriftsatz im normalen Geschäftsgang rechtzeitig an den Verwaltungsgerichtshof weiterzuleiten (vgl. BVerfG, B.v. 20.6.1995 – 1 BvR 166/93 – BVerfGE 93, 99 – juris Rn. 46 ff.). Denn der Antrag auf Zulassung der Berufung ist jedenfalls unbegründet.
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Aus dem der rechtlichen Überprüfung durch den Senat allein unterliegenden Vorbringen im Zulassungsantrag ergeben sich weder ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des verwaltungsgerichtlichen Urteils im Sinne des § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO (1.) noch eine grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache § 124 Abs. 2 Nr. 3 VwGO (2.).
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1. Ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des angefochtenen Urteils im Sinne des § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO bestünden dann, wenn der Kläger im Zulassungsverfahren einen einzelnen tragenden Rechtssatz oder eine einzelne erhebliche Tatsachenfeststellung des Erstgerichts mit schlüssigen Gegenargumenten infrage gestellt hätte (BVerfG, B.v. 10.9.2009 – 1 BvR 814/09 – juris Rn. 11; B.v. 9.6.2016 – 1 BvR 2453/12 – juris Rn. 16; B.v. 8.5.2019 – 2 BvR 657/19 – juris Rn. 33). Die von § 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO geforderte Darlegung dieses Zulassungsgrundes erfordert innerhalb der Zulassungsbegründungsfrist von zwei Monaten eine konkret fallbezogene und hinreichend substantiierte Auseinandersetzung mit den Gründen der angefochtenen Entscheidung; es muss dargelegt werden, dass und weshalb das Verwaltungsgericht entscheidungstragende Rechts- und Tatsachenfragen unrichtig entschieden hat (BayVGH, B.v. 29.4.2020 – 10 ZB 20.104 – juris Rn. 3), wobei „darlegen“ schon nach allgemeinem Sprachgebrauch mehr als lediglich einen allgemeinen Hinweis bedeutet; „etwas darlegen“ bedeutet vielmehr so viel wie „erläutern“, „erklären“ oder „näher auf etwas eingehen“ (BVerwG, B.v. 9.3.1993 – 3 B 105.92 – juris Rn. 3 m.w.N.). Diesen Anforderungen wird das Zulassungsvorbringen nicht gerecht.
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Die Klägerin macht geltend, die Versagung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 36 Abs. 2 AufenthG führe für sie und ihre in Deutschland lebende Tochter bzw. Enkelin zu nicht hinnehmbaren Nachteilen. Die Tochter der Klägerin sei alleinerziehende Mutter und verfüge aufgrund ihrer Stelle als Krankenschwester in einem Krankenhaus über einen Aufenthaltstitel in Deutschland. Sie leide an Depressionen. Die Klägerin sei die einzige Verwandte und enge Vertraute, die sich täglich um deren Tochter, die Enkelin der Klägerin, kümmern könnte. Eine Betreuung sei vom lokalen Hort in der Vergangenheit stets abgelehnt worden, weil es an ausreichenden Betreuungsplätzen und Fachpersonal fehle. Eine Babysitterin oder anderweitige Betreuungsperson habe sich nicht organisieren lassen. Mangels weiterer Betreuungsmöglichkeiten wäre die Tochter der Klägerin ohne die Mithilfe der Klägerin gezwungen, nach Brasilien zurückzukehren. Dass sie dabei einen Mangelberuf in Deutschland aufgeben und als dringend benötigte Fachkraft das Land wieder verlassen müsste, sei vom Verwaltungsgericht nicht hinreichend berücksichtigt worden. Das öffentliche Interesse an der Erteilung der begehrten Aufenthaltserlaubnis rechtfertige die Annahme einer außergewöhnlichen Härte im Sinne von § 36 Abs. 2 AufenthG.
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Dieses Vorbringen zeigt keine erheblichen Richtigkeitszweifel auf.
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Eine „außergewöhnliche Härte“ im Sinne von § 36 Abs. 2 AufenthG ist nur dann anzunehmen, wenn im konkreten Einzelfall gewichtige Umstände vorliegen, die unter Berücksichtigung des Schutzgebots des Art. 6 Abs. 1 und 2 GG und im Vergleich zu den gesetzlich geregelten Fällen des Familiennachzugs ausnahmsweise die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis zum Familiennachzug gebieten (BVerwG, U.v. 10.3.2011 – 1 C 7/10 – juris Rn. 10). Ob eine außergewöhnliche Härte vorliegt, kann nur unter Berücksichtigung der konkreten Umstände des Einzelfalls beantwortet werden (Zimmerer in BeckOK MigR, Stand: 15.1.2023, § 36 AufenthG Rn. 18 m.w.N.). Die Betreuung von Kindern begründet in der Regel keine Notwendigkeit zur Gestattung des Nachzugs für die Großmutter und zwar selbst dann nicht, wenn die Eltern die Kinderbetreuung aufgrund der Berufstätigkeit nicht leisten können. Anderes kann im Einzelfall allenfalls gelten, wenn ein Elternteil nicht mehr zur Kinderbetreuung in der Lage ist (Dienelt in Bergmann/Dienelt, AuslR, 14. Aufl. 2022, § 36 AufenthG Rn. 51 m.w.N.).
9
Das Verwaltungsgericht hat zur Begründung seiner Auffassung, dass im Falle der Klägerin keine außergewöhnliche Härte vorliege, eine ausführliche Würdigung der Umstände des Einzelfalls vorgenommen und u.a. ausgeführt, die Klägerin sei zusammen mit ihrer Enkelin erst im April 2022 in das Bundesgebiet eingereist und habe damit den Betreuungsbedarf im Bundesgebiet selbst ausgelöst. Zudem könne sich die Tochter der Klägerin eine andere Erwerbstätigkeit ohne Schichtdienst suchen und die Kinderbetreuung auf diese Weise sicherstellen. Auch sei bislang vorgetragen, dass für die Enkelin der Klägerin unter der Prämisse, dass eine Betreuung durch die Klägerin möglich sei, kein Hortplatz zu erhalten sei; bei Wegfall der Betreuungsmöglichkeit durch die Klägerin sehe dies möglicherweise anders aus. Im Übrigen sei bei einem lediglich vorübergehenden Betreuungsbedarf für die Enkelin vorrangig eine Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 4 Satz 1 AufenthG zu erteilen. Mit alledem setzt sich das Zulassungsvorbringen nicht in der gebotenen Weise auseinander. Insbesondere bleibt es im Hinblick auf alternative Betreuungsmöglichkeiten bei der bloßen Behauptung, solche bestünden nicht. Konkrete und nachvollziehbare Bemühungen um einen Hortplatz sind nicht dargelegt. Gleiches gilt für die Behauptung, andere Betreuungsformen seien nicht finanzierbar, zumal die Enkelin der Klägerin einen unterhaltspflichtigen Vater hat, zu dessen finanzieller Leistungsfähigkeit nichts vorgetragen ist. Im Übrigen dürfte der Hinweis, die Tochter der Klägerin müsse für die Kinderbetreuung eine Tätigkeit in einem Mangelberuf aufgeben, was öffentlichen Interessen widerspreche, bereits im Ansatz ungeeignet sein, eine außergewöhnliche Härte im Sinne von § 36 Abs. 2 AufenthG aufzuzeigen. Aufgrund des Zwecks der Regelung und ihrer systematischen Stellung im Rahmen der Vorschriften über den Familiennachzug kann eine außergewöhnliche Härte im Sinne von § 36 Abs. 2 AufenthG ihre Ursache nur in subjektiven, die Herstellung bzw. Wahrung der Familieneinheit betreffenden Umständen haben. Außerhalb dieses Schutzbereichs liegende Beeinträchtigungen bleiben deshalb in der Regel außer Betracht (Dienelt in Bergmann/Dienelt, AuslR, 14. Aufl. 2022, AufenthG § 36 Rn. 34). Die Beeinträchtigung von öffentlichen Interessen kann daher in aller Regel keine außergewöhnliche Härte im Sinne von § 36 Abs. 2 AufenthG begründen.
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Im Übrigen weist der Senat darauf hin, dass die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis für die Klägerin auch ausgeschlossen sein dürfte, weil ihr Lebensunterhalt in Ermangelung eines Krankenversicherungsschutzes nicht gesichert ist (§ 5 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG).
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2. Der Zulassungsgrund der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache im Sinne des § 124 Abs. 2 Nr. 3 VwGO ist ebenfalls nicht dargelegt.
12
Die Darlegung der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache setzt voraus, dass für die Entscheidung des Verwaltungsgerichts eine konkrete, jedoch fallübergreifende Rechts- oder Tatsachenfrage von Bedeutung ist, deren noch ausstehende obergerichtliche Klärung im Berufungsverfahren zu erwarten ist und zur Erhaltung der Einheitlichkeit der Rechtsprechung oder zu einer bedeutsamen Weiterentwicklung des Rechts geboten erscheint. Dementsprechend verlangt die Darlegung (§ 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO) der rechtsgrundsätzlichen Bedeutung, dass eine konkrete Rechts- oder Tatsachenfrage formuliert und aufgezeigt wird, weshalb die Frage im Interesse der Einheitlichkeit der Rechtsprechung oder der Fortentwicklung des Rechts klärungsbedürftig und entscheidungserheblich (klärungsfähig) ist; ferner muss dargelegt werden, worin die allgemeine, über den Einzelfall hinausgehende Bedeutung dieser Frage besteht (vgl. BayVGH, B.v. 23.1.2020 – 10 ZB 19.2235 – Rn. 4; B.v. 14.2.2019 – 10 ZB 18.1967 – juris Rn. 10).
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Gemessen daran liegen die Voraussetzungen des § 124 Abs. 2 Nr. 3 VwGO nicht vor.
14
Die Klägerin hält der Sache nach für klärungsbedürftig, ob der Umstand, dass eine im Bundesgebiet lebende alleinerziehende Mutter die Tätigkeit in einem Mangelberuf aufgeben müsste, wenn einem anderen Familienangehörigen keine Aufenthaltserlaubnis erteilt würde, eine außergewöhnliche Härte im Sinne von § 36 Abs. 2 AufenthG darstellt. Dass diese Frage in einem Berufungsverfahren entscheidungserheblich wäre, zeigt das Zulassungsvorbringen aber schon deshalb nicht auf, weil sie einen Sachverhalt voraussetzt, den das Verwaltungsgericht so gerade nicht festgestellt hat und der mit dem Zulassungsvorbringen auch nicht substantiiert dargelegt wurde. Im Übrigen kann die Frage, ob eine außergewöhnliche Härte vorliegt, – wie dargestellt – nur unter Berücksichtigung der konkreten Umstände des Einzelfalls beantwortet werden und entzieht sich damit einer grundsätzlichen Klärung.
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Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO.
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Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 63 Abs. 2 Satz 1, § 47 Abs. 1 und 3 und § 52 Abs. 2 GKG.
17
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO). Mit der Ablehnung des Antrags auf Zulassung der Berufung wird die Entscheidung des Verwaltungsgerichts rechtskräftig (§ 124a Abs. 5 Satz 4 VwGO).