Titel:
Fehlen einer ladungsfähigen Anschrift bei unbekanntem Aufenthalt
Normenketten:
VwGO § 82 Abs. 1 S. 1, § 173 S. 1
ZPO § 130 Nr. 1
Leitsätze:
1. § 82 Abs. 1 S. 1 VwGO ist in Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes in Bezug auf den Antragsteller entsprechend anzuwenden. Darüber hinaus gilt diese Vorschrift auch im Rechtsmittelverfahren in Bezug auf den Rechtsmittelführer. (Rn. 7) (redaktioneller Leitsatz)
2. Die Angabe einer Adresse, an der sich ein Kläger in Wahrheit gar nicht aufhält (Deckadresse), entspricht nicht den Anforderungen an eine ladungsfähige Anschrift, unter der ein Kläger bzw. Antragsteller tatsächlich zu erreichen ist (VGH München BeckRS 2023, 15590; BeckRS 2017, 138371). (Rn. 10) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Fehlen einer ladungsfähigen Anschrift, unbekannter Aufenthalt, „Deckadresse“, untergetauchter Antragsteller, Aufenthaltsort, einstweiliger Rechtsschutz, Rechtsmittelverfahren, Erreichbarkeit, Deckadresse
Vorinstanz:
VG Augsburg, Beschluss vom 09.01.2023 – Au 1 K 22.2256
Fundstelle:
BeckRS 2023, 20742
Tenor
I. Die Beschwerde wird verworfen.
II. Die Klägerin trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.
Gründe
1
Mit der Beschwerde verfolgt die Klägerin ihren in erster Instanz erfolglosen Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe unter Beiordnung ihres Bevollmächtigten für ihre beim Bayerischen Verwaltungsgericht Augsburg anhängige Klage (Au 1 K 22. …*) weiter, mit der die Beklagte verpflichtet werden soll, ihr eine Aufenthaltserlaubnis, hilfsweise eine Duldung, zu erteilen.
2
Nach Mitteilung der Beklagten vom 22. Juni 2023 ist die Klägerin derzeit unbekannten Aufenthalts. Sie sei seit einiger Zeit nicht mehr in der städtischen Unterkunft gesehen worden. Am 20. Juni 2023 sei festgestellt worden, dass sich auch ihre Wertsachen nicht mehr in ihrem Zimmer befänden, sie sei deshalb von Amts wegen abgemeldet worden. Auch ihr Betreuer kenne ihren Aufenthaltsort nicht.
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Nach einer Mitteilung des Betreuers der Klägerin vom 29. Juni 2023, die am 3. Juli 2023 übersandt wurde, habe die Klägerin ihm mitgeteilt, dass sie sich in Italien befinde und nicht nach Deutschland zurückkehren wolle; die Angabe der Adresse habe sie ihm verweigert.
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Der Bevollmächtigte des Antragstellers wurde mit Schreiben des Senats vom 23. Juni 2023 aufgefordert, die aktuelle ladungsfähige Anschrift der Klägerin mitzuteilen; dieser nannte mit Schreiben vom 4. Juli 2023 als ladungsfähige Anschrift diejenige eines „Bekannten“ in Kaufbeuren.
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Mit Schreiben vom 12. Juli 2023 teilte die Beklagte mit, einer ihrer Mitarbeiter habe den genannten Bekannten persönlich angetroffen und befragt. Dieser habe nach seiner Aussage die Klägerin seit einem Jahr nicht gesehen, und sie habe auch nie bei ihm gewohnt; nach seinem letzten Kenntnisstand sei sie nach Wien gezogen. Weitere Erkenntnisse über den Aufenthaltsort der Klägerin lägen der Beklagten nicht vor.
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Die Beschwerde ist bereits unzulässig, weil für die Klägerin keine ladungsfähige Anschrift vorliegt.
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Gemäß § 82 Abs. 1 Satz 1 VwGO muss die Klage den Kläger bezeichnen. Diese Vorschrift ist in Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes in Bezug auf den Antragsteller entsprechend anzuwenden (BayVGH, B.v. 21.6.2023 – 10 CE 23.962 – juris Rn. 6; BayVGH, B.v. 4.8.2021 – 10 CE 21.1469 – juris Rn. 5; BayVGH, B.v. 7.12.2017 – 10 CE 17.2321 – juris Rn. 6; BayVGH, B.v. 11.9.2012 – 7 CS 12.1423 – juris Rn. 19; VGH BW, B.v. 25.10.2004 – 11 S 1992/04 – juris Rn. 4; HessVGH, B.v. 21.12.1988 – 4 TG 2070/88 – juris Rn. 27). Darüber hinaus gilt diese Vorschrift auch im Rechtsmittelverfahren in Bezug auf den Rechtsmittelführer (BayVGH, B.v. 20.1.2023 – 10 CS 22.2324 – juris Rn. 4; BayVGH, B.v. 21.7.2021 – 15 ZB 21.30628 – juris Rn. 6; OVG Hamburg, U.v. 14.2.2006 – 3 Bf 245/02 – juris Rn. 20).
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Zur Bezeichnung eines Klägers bzw. Antragstellers im Sinne des § 82 Abs. 1 Satz 1 VwGO gehört nach § 173 Satz 1 VwGO i.V.m. § 130 Nr. 1 ZPO auch die Angabe seines Wohnortes. Die Angabe einer ladungsfähigen Anschrift, unter der der Kläger bzw. Antragsteller tatsächlich zu erreichen ist, ist erforderlich, um ihn zu individualisieren und seine Erreichbarkeit für das Gericht sicherzustellen. Es soll darüber hinaus dadurch auch gewährleistet werden, dass er nach entscheidungserheblichen Tatsachen befragt werden kann und sich im Falle seines Unterliegens seiner Kostentragungspflicht nicht entziehen kann. Das gilt auch für ein verwaltungsgerichtliches Verfahren unter Mitwirkung eines Prozessbevollmächtigten oder wenn sich während des Verfahrens die ladungsfähige Anschrift ändert. Die Pflicht zur Angabe der Anschrift entfällt nur, wenn deren Erfüllung ausnahmsweise unmöglich oder unzumutbar ist. Solches wird nur dann angenommen, wenn der Angabe der Anschrift unüberwindliche oder nur schwer zu beseitigende Schwierigkeiten oder ein schutzwürdiges Geheimhaltungsinteresse entgegenstehen (vgl. z.B. BVerwG, U.v. 13.4.1999 – 1 C 24.97 – juris Rn. 27 ff. m.w.N.; BVerwG, U.v. 15.8.2019 – 1 A 2/19 – juris Rn. 13 ff.; BayVGH, B.v. 21.6.2023 – 10 CE 23.962 – juris Rn. 7; BayVGH, B.v. 4.8.2021 – 10 CE 21.1469 – juris Rn. 6; BayVGH, B.v. 7.12.2017 – 10 CE 17.2321 – juris Rn. 7; BayVGH, B.v. 9.8.2016 – 10 CE 16.1145, 10 C 16.1146 – juris Rn. 15; BayVGH, B. 9.5.2016 – 10 ZB 15.677 – juris Rn. 4; BayVGH, B.v. 3.2.2016 – 10 ZB 15.1413 – juris Rn. 4).
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Entspricht die Klage bzw. der Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz nicht den Anforderungen des § 82 Abs. 1 VwGO, hat das Gericht den Kläger bzw. Antragsteller zu der erforderlichen Ergänzung aufzufordern.
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Auf die Aufforderung des Senats hat der Bevollmächtigte der Klägerin die Anschrift eines Bekannten der Klägerin als deren angebliche ladungsfähige Anschrift mitgeteilt. Nachforschungen der Beklagten haben jedoch ergeben, dass die Klägerin sich dort in Wahrheit nicht aufhält. Die Angabe einer Adresse, an der sich die Klägerin in Wahrheit gar nicht aufhält (Deckadresse), entspricht nicht den oben aufgeführten Anforderungen an eine ladungsfähige Anschrift (BayVGH, B.v. 21.6.2023 – 10 CE 23.962 – juris Rn. 9; BayVGH, B.v. 7.12.2017 – 10 CE 17.2321 – juris Rn. 9). Weitere Hinweise auf den konkreten Aufenthaltsort der Klägerin liegen nicht vor. Damit ist die gebotene Vervollständigung der Beschwerde unterblieben, die Beschwerde ist damit bereits aus diesem Grund unzulässig.
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Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO.
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Einer Streitwertfestsetzung bedarf es nicht, weil nach Nr. 5502 des Kostenverzeichnisses zum Gerichtskostengesetz (Anlage 1 zu § 3 Abs. 2 GKG) eine streitwertunabhängige Gebühr anfällt.
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Diese Entscheidung ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO).