Inhalt

VGH München, Beschluss v. 01.08.2023 – 6 ZB 22.31073
Titel:

Erfolgloser Antrag auf Zulassung der Berufung; Asylrecht Nigeria

Normenketten:
AsylG § 78 Abs. 3 Nr. 1, Nr. 3
VwGO § 138 Nr. 3
GG Art. 103 Abs. 1
Rückführungs-RL Art. 5 lit. a, lit. b
AufenthG § 11, § 60a Abs. 2
Leitsatz:
In der höchstrichterlichen Rechtsprechung ist grundsätzlich geklärt, dass der Asylbewerber selbst für die nachvollziehbare und widerspruchsfreie Darlegung seiner Fluchtgründe verantwortlich ist. Das gilt ebenso für die Darlegung etwaiger Gründe für ein geltend gemachtes Abschiebungsverbot. (Rn. 6) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Asylrecht (Nigeria), Grundsätzlichen Bedeutung, Nachträgliche Klärung, Abschiebungsandrohung, Berücksichtigung des Kindeswohls bei Rückkehrentscheidung, Zuständigkeit des BAMF, Überraschungsentscheidung (verneint), grundsätzlichen Bedeutung, Verfahrensrüge, Gewährung rechtlichen Gehörs, Überraschungsentscheidung, RL 2008/115/EG
Vorinstanz:
VG München, Urteil vom 26.08.2022 – M 25 K 18.34133
Fundstelle:
BeckRS 2023, 20737

Tenor

I. Der Antrag des Klägers auf Zulassung der Berufung gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts München vom 26. August 2022 – M 25 K 18.34133 – wird abgelehnt.
II. Der Kläger hat die Kosten des Zulassungsverfahrens zu tragen. Gerichtskosten werden nicht erhoben.

Gründe

1
Der Antrag des Klägers, die Berufung gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts zuzulassen, bleibt ohne Erfolg. Die geltend gemachten Zulassungsgründe der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache (§ 78 Abs. 3 Nr. 1 AsylG) und des Vorliegens eines Verfahrensfehlers (§ 78 Abs. 3 Nr. 3 AsylG) sind nicht den Anforderungen des § 78 Abs. 4 Satz 4 AsylG entsprechend dargelegt oder liegen nicht vor.
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1. Die Berufung ist nicht wegen der geltend gemachten grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache zuzulassen.
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Grundsätzliche Bedeutung im Sinn des § 78 Abs. 3 Nr. 1 AsylG hat eine Rechtssache nur dann, wenn sie eine bisher höchstrichterlich oder obergerichtlich nicht beantwortete Rechtsfrage oder eine im Bereich der Tatsachenfeststellung bisher obergerichtlich nicht geklärte Frage von allgemeiner Bedeutung aufwirft, die sich in dem angestrebten Berufungsverfahren stellen würde und die im Interesse der Einheitlichkeit der Rechtsprechung oder der Fortentwicklung des Rechts berufungsgerichtlicher Klärung bedarf. Für die Darlegung dieser Voraussetzungen bedarf es neben der Formulierung einer Rechts- oder Tatsachenfrage auch Ausführungen dazu, weshalb diese Frage für den Rechtsstreit entscheidungserheblich ist, ferner der Erläuterung, weshalb die formulierte Frage klärungsbedürftig ist, und schließlich der Darlegung, weshalb ihr eine über die einzelfallbezogene Rechtsanwendung hinausgehende Bedeutung zukommt (BayVGH, B.v. 16.2.2017 – 6 ZB 16.1586 – juris Rn. 25 m.w.N.).
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a) Dem Darlegungsgebot ist nicht genügt, soweit der Kläger Fragen als grundsätzlich bedeutsam aufwirft, die auf das Vorliegen des zielstaatbezogenen Abschiebungsverbotes einer drohenden Verelendung des Klägers abzielen.
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Die vom Kläger als klärungsbedürftig angesehene Frage, „ob im Rahmen der Prüfung der Abschiebeverbote zu berücksichtigen ist, ob einem Familienangehörigen eines Rückkehres eine Gefahr für Leib und Leben droht“, würde sich in einem Berufungsverfahren nicht entscheidungserheblich stellen. Denn das Verwaltungsgericht hat die geltend gemachte Erkrankung des Vaters des Klägers tatsächlich berücksichtigt, ist jedoch unter Verweis auf den streitgegenständlichen Bescheid sowie mit Blick auf die Entscheidungsgründe im Verfahren des Vaters (Urteil vom 24.11.2020, Az.: M 27 K 17.49555) und die Angaben in der mündlichen Verhandlung davon ausgegangen, dass dieser gerade nicht an schwerwiegenden oder gar lebensbedrohlichen Gesundheitsproblemen leidet, die seine Arbeitsfähigkeit und damit seine Möglichkeit, – gegebenenfalls gemeinsam mit seiner Frau – den Lebensunterhalt für seine Familie in Nigeria zu sichern, einschränken oder gar aufheben würden.
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Die Fragen, „ob eine realitätsnahe Rückkehrprognose ohne Berücksichtigung der geltend gemachten Gesundheitsgefahr erfolgen kann, wenn zu dem geltend gemachten Gesundheitsrisiko eines Familienangehörigen noch kein Attest vorliegt“, und „ob es ausreicht, wenn die erkrankte Person ihre Erkrankung im Rahmen der mündlichen Verhandlung durch Befragung des Gerichts erläutert“, führen ebenfalls nicht zur Zulassung der Berufung. Zum einen sind diese Fragen bereits nicht verallgemeinerungsfähig, weil sie von den Umständen des jeweiligen Einzelfalles abhängen. Zum anderen fehlt es ihnen ebenfalls an der erforderlichen Klärungsbedürftigkeit. In der höchstrichterlichen Rechtsprechung ist grundsätzlich geklärt, dass der Asylbewerber selbst für die nachvollziehbare und widerspruchsfreie Darlegung seiner Fluchtgründe verantwortlich ist (vgl. BVerwG, B.v. 26.11.2001 – 1 B 347-01 – juris Rn. 5; BayVGH, B.v. 3.5.2021 – 6 ZB 21.30505 – Rn. 8). Das gilt ebenso für die Darlegung etwaiger Gründe für ein geltend gemachtes Abschiebungsverbot. Im erstinstanzlichen Verfahren wurden jedoch keine (neuen) ärztlichen Atteste zum Gesundheitszustand des Vaters vorgelegt, obwohl dazu durchaus Veranlassung bestanden hätte, nachdem diesem in seinem Asylverfahren ausdrücklich keine Abschiebeverbote zuerkannt worden waren. Nach dem Grundsatz der freien Beweiswürdigung ist die Würdigung des Parteivorbringens oder die Feststellung der Schlüssigkeit einzelner Tatsachenbehauptungen Sache des Tatrichters, der hier zu der Überzeugungsgewissheit gekommen ist, dass keine Gründe für eine vom Urteil in der Streitsache des Vaters abweichende Einschätzung seiner gesundheitlichen Einschränkungen vorliegen. Der Kläger macht im Gewand der Grundsatzrüge Zweifel an der verwaltungsgerichtlichen Entscheidung geltend, die aber gemäß der abschließenden Sonderregelung in § 78 Abs. 3 AsylG kein Zulassungsgrund in Streitigkeiten nach dem Asylgesetz sind.
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Auch die als grundsätzlich aufgeworfene Frage, „ob die Anhörung einer Person im Rahmen der mündlichen Verhandlung zu Tatsachenfragen die Amtsermittlungspflicht auslöst“, bedarf keiner grundsätzlichen Klärung in einem Berufungsverfahren. Sie kann ebenfalls nur einzelfallbezogen beantwortet werden. Der Sache nach rügt der Kläger vielmehr eine Verletzung der gerichtlichen Aufklärungspflicht nach § 86 Abs. 1 VwGO. Eine Verletzung der gerichtlichen Aufklärungspflicht kann aber grundsätzlich dann schon nicht geltend gemacht werden, wenn ein anwaltlich vertretener Beteiligter, wie hier der Kläger, es in der mündlichen Verhandlung unterlassen hat, entsprechend vorzutragen bzw. einen entsprechenden Beweisantrag zu stellen. Denn die Rüge unzureichender Sachaufklärung ist kein Mittel, um das Fehlen eines entsprechenden Vortrags oder die unterbliebene Stellung von Beweisanträgen in der mündlichen Verhandlung zu kompensieren (vgl. BVerwG, B.v. 16.4.2012 – 4 B 29.11 – juris Rn. 5; BayVGH, B.v. 4.9.2017 – 6 ZB 17.1325 – juris Rn. 6).
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Die in diesem Zusammenhang weiter gestellten Fragen,
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„Welcher Ort ist bei einer nigerianischen Familie der Zielort der Abschiebung, wenn sie nicht zu ihren Herkunftsfamilien zurückkehren können?“
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„Kann eine 6-köpfige Familie in Lagos unmittelbar nach Ankunft auf dem Flughafen eine Unterkunft bekommen?“
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„Kann eine Familie, falls die Frage zu 6. bejaht wird, in der Unterkunft so lange verbleiben, bis sie eine eigene Unterkunft gefunden hat?“
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„Welche Rückkehrhilfen kann eine Familie mit Kindern erhalten?“
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„Umfassen diese Rückkehrhilfen auch Geldleistungen für Unterkunft und Ernährung?“
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„Wie lange dauert es, bis diese Leistungen beantragt werden können?“
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„Wo können sie in Lagos beantragt werden?“
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„Wie lange dauert es, bis dieser Leistungsantrag beschieden wird?“
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„Wann werden nach der Bescheidung die Leistungen ausgezahlt?“
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„In welcher Form werden die Leistungen ausgezahlt?“
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führen ebenfalls nicht zur Berufungszulassung. Zum einen fehlt es bereits an der Darlegung der Entscheidungserheblichkeit dieser Fragen. Sie unterstellen eine Vulnerabilität der klägerischen Familie, die das Verwaltungsgericht gerade nicht angenommen hat. Daher kam es für seine Entscheidung – worauf in der Zulassungsbegründung sogar selbst hingewiesen wird (S. 4 d. Schriftsatzes v. 7.10.2022) – auf mögliche Rückkehrhilfen nicht entscheidungserheblich an. Zum anderen genügt ein auf die grundsätzliche Bedeutung von Tatsachenfragen gestützter Zulassungsantrag bereits dann nicht den Darlegungsanforderungen des § 78 Abs. 4 Satz 4 AsylG, wenn in ihm lediglich Fragen gestellt werden, die auf eine Sachverhaltsaufklärung zielen (und die damit gegebenenfalls im Rahmen der ersten Instanz mittels entsprechender Beweisanträge hätten geklärt werden müssen) und damit sinngemäß die Behauptung aufgestellt wird, die für die Beurteilung maßgeblichen Verhältnisse stellten sich anders dar als vom Verwaltungsgericht angenommen (vgl. OVG Saarl, B.v. 12.6.2019 – 2 A 31/19 – juris Rn. 13). Die damit in der Sache gerügten ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit der verwaltungsgerichtlichen Entscheidung vermögen die Zulassung der Berufung im Asylverfahren nicht zu begründen.
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b) Die weiteren Grundsatzrügen, die sich vor allem gegen die mit der Ablehnung des Asylantrags verfügte Abschiebungsandrohung richten, greifen ebenfalls nicht durch.
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Der Zulassungsantrag wirft insoweit folgende Rechtsfragen auf:
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1. „Ist das Kindeswohl im Rahmen einer Rückkehrentscheidung – hier Abschiebungsandrohung – mit zu berücksichtigen?“
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2. „Sperren inlandsbezogene Vollstreckungshindernisse wie etwa eine dauernde Reiseunfähigkeit, eine Beschäftigungsduldung, eine abgeschlossene Ausbildung oder familiäre Gründe oder sonstige vergleichbare Gründe den Erlass einer Abschiebungsanordnung in einem Asylverfahren in der Bundesrepublik Deutschland?“
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3. „Ist das BAMF für die Prüfung des Kindeswohls im Rahmen der Abschiebungsandrohung zuständig?“
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4. „Ist ein Duldungsgrund nach § 43 AsylG im Rahmen einer Rückkehrentscheidung vom BAMF zu berücksichtigen?“
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5. „Darf eine Rückkehrentscheidung vor dem Abschluss der Asylverfahren aller Familienmitglieder ergehen?“
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6. „Hat das BAMF im Rahmen der Verfügung eines Einreise- und Aufenthaltsverbots gem. § 11 AufenthG Kindeswohl und Duldungsgründe zu berücksichtigen und selbst zu prüfen?“
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Diese Fragen zielen auf die Vereinbarkeit der vom Bundesamt angewandten nationalen Rechtslage mit Unionsrecht und bedürfen keiner rechtsgrundsätzlichen Klärung mehr, weil sie inzwischen durch den Gerichtshof der Europäischen Union beantwortet sind. Der Gerichtshof hat – auf das Vorabentscheidungsersuchen des Bundesverwaltungsgerichts (BVerwG, B.v. 8.6.2022 – 1 C 24.21 – juris) – mit Beschluss vom 15. Februar 2023 (C-484/22 – juris) entschieden, dass Art. 5 Buchst. a und b der RL 2008/115/EG verlangt, das Wohl des Kindes und seine familiären Bindungen im Rahmen eines zum Erlass einer gegen einen Minderjährigen ausgesprochenen Rückkehrentscheidung führenden Verfahrens zu schützen. Es genügt nicht, wenn der Minderjährige diese beiden geschützten Interessen – wie es das nationale Recht vorsieht – im Rahmen eines nachfolgenden Verfahrens betreffend den Vollzug dieser Rückkehrentscheidung geltend machen kann, um gegebenenfalls eine Aussetzung deren Vollzugs zu erwirken.
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Durch die Entscheidung des Gerichtshofs sind nicht nur die Frage Nr. 1, sondern auch die daran anknüpfenden weiteren Fragen, soweit sie grundsätzliche Bedeutung haben und sich entscheidungserheblich stellen, ausreichend geklärt, ohne dass es dazu weiterer Umsetzung insbesondere durch das Bundesverwaltungsgericht bedürfte.
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Im Hinblick auf Frage Nr. 2 fehlt es teilweise bereits an der Entscheidungserheblichkeit. Denn es wurden keine Anhaltspunkte für eine dauernde Reiseunfähigkeit, eine Beschäftigungsduldung oder eine abgeschlossene Ausbildung eines der Familienmitglieder des Klägers aufgezeigt. Im Übrigen ist die Frage einer grundsätzlichen Klärung nicht zugänglich. Nach der Entscheidung des Gerichtshofs muss dem Erlass einer Abschiebungsandrohung eine umfassende konkret-individuelle Beurteilung der jeweiligen familiären Situation des Ausländers vorausgehen, wobei das Wohl des Kindes und die familiären Bindungen gebührend zu berücksichtigen sind. Kann eine Frage aber nur nach den den jeweiligen Einzelfall kennzeichnenden persönlichen Kriterien und Lebensumständen der Betroffenen und damit nur einzelfallbezogen beantwortet werden, ist sie schon von daher nicht geeignet, eine generelle („grundsätzliche) Klärung im Sinn von § 78 Abs. 3 Nr. 1 AsylG herbeizuführen oder zu befördern.
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Frage Nr. 3 kann ohne weiteres auf der Grundlage der geltenden Gesetze und mit Hilfe der durch den Gerichtshof im Beschluss vom 15. Februar 2023 vorgegebenen Auslegung des Art. 5 Buchst. a und b der RL 2008/15/EG beantwortet werden, ohne dass es der Durchführung eines Berufungsverfahrens bedarf. Nach nationalem Recht (§ 34 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 AsylG) liegt die Zuständigkeit für den Erlass der Abschiebungsandrohung im Asylverfahren beim Bundesamt. Da die relevanten Aspekte des Familienlebens des betreffenden Drittstaatenangehörigen nach der vorgenannten Entscheidung des Gerichtshofs im Rahmen des Erlasses der Rückkehrentscheidung mit zu berücksichtigen sind, obliegt die entsprechende Prüfung (nach geltendem Recht) dem Bundesamt.
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Die Frage Nr. 4 ist, soweit von grundsätzlicher Bedeutung, ebenfalls durch den Beschluss des Gerichtshofs 15. Februar 2023 geklärt. Danach muss vor Erlass einer Rückkehrentscheidung eine umfassende konkret-individuelle Beurteilung der familiären Situation des betroffenen Ausländers vorgenommen und dabei das Wohl des Kindes und die familiären Bindungen berücksichtigt werden und es reicht insoweit nicht aus, wenn die Berücksichtigung dieser Belange erst nach Erlass der Rückkehrentscheidung im Rahmen des Vollstreckungsverfahrens durch Erteilung einer Duldung nach § 60a Abs. 2 AufenthG erfolgt. Ein unterschiedlicher Verlauf der Asylverfahren der einzelnen Familienmitglieder und eine dadurch etwa verursachte Verletzung des Kindeswohls bzw. der zu betrachtenden familiären Bindungen der betroffenen Ausländer ist daher vom Bundesamt vor Erlass der Abschiebungsandrohung zu berücksichtigen.
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Frage Nr. 5 ist einer grundsätzlichen Klärung bereits nicht zugänglich. Denn sie lässt sich nicht allgemeingültig, sondern nur anhand der Umstände des jeweiligen Einzelfalles beantworten. Entscheidend sind insbesondere die konkret-individuellen Umstände des Familienlebens und die Frage, inwieweit im Einzelfall eine geschützte Eltern-Kind Gemeinschaft vorliegt.
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Die Frage Nr. 6 zeigt ebenfalls auf keinen grundsätzlichen Klärungsbedarf auf. Auch sie lässt sich ohne weiteres aus den geltenden Gesetzen beantworten, ohne dass es der Durchführung eines Berufungsverfahrens bedarf. Gemäß § 11 Abs. 2 Satz 2 AufenthG soll das Einreise- und Aufenthaltsverbot gemeinsam mit der Abschiebungsandrohung erlassen werden. Für den Erlass einer Abschiebungsandrohung im Rahmen eines Asylverfahrens ist das Bundesamt zuständig. In diesem Fall ergibt sich die Zuständigkeit des Bundesamts auch für den Erlass und die erstmalige Befristung des damit zusammenhängenden Einreise- und Aufenthaltsverbots aus § 11 Abs. 5c AufenthG. Da das Bundesamt – wie oben dargelegt – nach der Entscheidung des Gerichtshofs vom 15. Februar 2023 vor Erlass einer Abschiebungsandrohung die jeweilige familiäre Situation der davon betroffenen Ausländer gebührend zu berücksichtigen hat, sind diese Umstände bereits an dieser Stelle unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls zu prüfen. Das Ergebnis dieser Prüfung ist auch für den Erlass des damit zusammenhängenden Einreise- und Aufenthaltsverbots maßgeblich. Dieses teilt das Schicksal der Rückkehrentscheidung: Wird diese aufgehoben, kann auch das Einreise- und Aufenthaltsverbot nicht aufrechterhalten werden (vgl. EuGH, U.v. 3.6.2021 – C-546/19 –, juris Rn. 54).
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Die nachträgliche Klärung der aufgeworfenen Rechtsfragen durch den Gerichtshof lässt den ursprünglich bestehenden Zulassungsgrund des § 78 Abs. 3 Nr. 1 AsylG entfallen und kann im maßgeblichen Entscheidungszeitpunkt nicht mehr die Zulassung der Berufung rechtfertigen. Denn dieser hat sich nicht in den allein noch in Betracht kommenden Zulassungsgrund der Divergenz (§ 78 Abs. 3 Nr. 2 AsylG) umgewandelt, weil der Gerichtshof nicht zu den gesetzlich abschließend festgelegten Divergenzgerichten zählt. Darauf, ob das Verwaltungsgericht den vom Gerichtshof aufgestellten Anforderungen im Einzelfall ausreichend und zutreffend Rechnung getragen hat, kommt es bei der Zulassungsentscheidung nicht an (vgl. BayVGH, B.v. 5.6.2023 – 11 ZB 23.30200 – juris Rn. 7). Ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des Urteils oder besondere rechtliche oder tatsächliche Schwierigkeiten sind als Zulassungsgrund in der abschließenden und gegenüber § 124 VwGO vorrangigen Regelung des § 78 Abs. 3 AsylG nicht vorgesehen.
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c) Die weiter als grundsätzlich bedeutsam angesehene Frage, „ob die Einführung einer Erkrankung einer Person, die zum Familienverband gehört, aber nicht Partei des Verfahrens ist, den Voraussetzungen des § 60a Abs. 2c AufenthG unterliegt“, führt ebenfalls nicht zur Zulassung der Berufung, da diese Frage hier nicht entscheidungserheblich und daher nicht klärungsfähig ist. Das Verwaltungsgericht hat im angefochtenen Urteil sowohl auf die Ausführungen im streitgegenständlichen Bescheid vom 29. Oktober 2018 (§ 77 Abs. 2 AsylG) als auch auf die Entscheidungsgründe der klageabweisenden Urteile hinsichtlich der Eltern und zweier Brüder des Klägers verwiesen. Damit hat es zum Ausdruck gebracht, auch in Ansehung der – nicht durch Vorlage entsprechender ärztlicher Atteste belegten – Angaben der Eltern des Klägers zum derzeitigen Gesundheitszustand des Vaters in der mündlichen Verhandlung am 26. August 2022 habe sich an der in den genannten Verfahren gewonnenen richterlichen Überzeugung, der Vater des Klägers habe eine Schulbildung und Arbeitserfahrung als Friseur und könne dieser Tätigkeit auch nach einer Rückkehr nach Nigeria wieder nachgehen und den Lebensunterhalt für sich und seine Familie sichern, nichts geändert (§ 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO). Die oben bezeichnete Frage würde sich daher im Berufungsverfahren nicht stellen.
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2. Die mit der Antragsschrift vorgebrachte Verfahrensrüge greift nicht durch. Insbesondere hat das Verwaltungsgericht nicht den Anspruch des Klägers auf Gewährung rechtlichen Gehörs verletzt (§ 78 Abs. 3 Nr. 3 AsylG i.V.m. § 138 Nr. 3 VwGO).
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a) Der Kläger trägt hierzu vor, das Verwaltungsgericht habe zur Begründung seiner klageabweisenden Entscheidung auf das im Asylverfahren des Vaters ergangene Urteil vom 24. November 2020 verwiesen, ohne dieses Urteil aber in das Verfahren des Klägers eingeführt zu haben. Dem Kläger und seinem Bevollmächtigten sei dieses Urteil nicht bekannt gewesen und sie hätten sich daher dazu nicht äußern können. Damit wird ein Verfahrensfehler nicht dargetan.
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Art. 103 Abs. 1 GG gebietet, dass ein Urteil nur auf Tatsachen und Beweismittel gestützt werden darf, zu denen sich die Beteiligten äußern konnten. Die Verwertung von tatsächlichen Umständen bei der Entscheidungsfindung setzt deshalb voraus, dass diese von den Verfahrensbeteiligten oder vom Gericht im Einzelnen bezeichnet zum Gegenstand der mündlichen Verhandlung gemacht oder sonst in das Verfahren eingeführt worden sind, so dass es den Beteiligten ermöglicht wird, diese zur Kenntnis zu nehmen und sich dazu zu äußern (vgl. dazu BayVGH, B.v. 18.2.2020 – 9 ZB 20.30246 – juris Rn. 6 m.w.N.; VGH BW, B.v. 9.3.2017 – A 12 S 235/17 – juris Rn. 6). Zu den ordnungsgemäß in das Verfahren einzuführenden Erkenntnismitteln sind auch Gerichtsentscheidungen in anderen Verfahren zu rechnen, sofern sie nicht allein wegen ihrer rechtlichen Schlussfolgerungen, sondern (auch) im Hinblick auf ihre tatsächlichen Feststellungen zur Begründung herangezogen werden (vgl. BVerwG, U.v. 8.2.1983 – 9 C 847.82 – juris Rn. 8; BayVGH, B.v. 20.2.2019 – 13a ZB 17.31832 – juris Rn. 13).
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Dies zugrunde legend weist der Kläger zwar im Ansatz zutreffend darauf hin, dass die zum Beleg der Richtigkeit einer Tatsachenfeststellung in Bezug genommene Entscheidung des Verwaltungsgerichts im Verfahren des Vaters vom 24. November 2020 vom Verwaltungsgericht nicht ausdrücklich zum Gegenstand des Verfahrens gemacht wurde. Es kann dahingestellt bleiben, ob das den Vater betreffende Urteil, mit dessen Gesundheitszustand der minderjährige Kläger seine Klage begründet, überhaupt einer förmlichen Einführung in sein Verfahren bedurfte.
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Unabhängig davon kann das Vorbringen des Klägers die Zulassung der Berufung aus diesem Grund nicht rechtfertigen. Denn das Verwaltungsgericht hat lediglich ergänzend auf die Entscheidungsgründe u.a. im Urteil vom 24. November 2020 verwiesen und diese damit lediglich als zusätzliches (Hilfs-)Argument für die im Verfahren des Klägers gewonnene Überzeugung herangezogen, die im streitgegenständlichen Bescheid enthaltenen Ausführungen zur Arbeitsfähigkeit des Vaters seien – auch in Ansehung des Ergebnisses der mündlichen Verhandlung – zutreffend. Aus diesem Grund beruht das Urteil des Verwaltungsgerichts nicht auf dem vom Kläger angenommenen Gehörsverstoß.
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b) Die sinngemäß erhobene Rüge, das Verwaltungsgericht habe mit Blick auf das geltend gemachte Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG eine Überraschungsentscheidung getroffen und dadurch rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG) verletzt, greift nicht durch.
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Eine unzulässige Überraschungsentscheidung ist anzunehmen, wenn das Gericht einen bis dahin im Verfahren nicht erörterten rechtlichen oder tatsächlichen Gesichtspunkt zur Grundlage seiner Entscheidung macht und damit dem Rechtsstreit eine Wendung gibt, mit der ein gewissenhafter und kundiger Prozessbeteiligter nach dem bisherigen Verlauf des Verfahrens nicht zu rechnen brauchte (BVerwG, B.v. 9.9.2016 – 9 B 78.15 – juris Rn. 4 m.w.N.). Eine allgemeine Frage- und Aufklärungspflicht des Gerichts folgt allerdings aus dem Recht auf Gewährung rechtlichen Gehörs nicht (vgl. BVerwG, B.v. 15.7.2016 – 5 P 4.16 – juris Rn. 3 m.w.N). Eine Überraschungsentscheidung liegt deswegen dann nicht vor, wenn sich die Gesichtspunkte, auf die sich das Gericht stützt, ohne weiteres aus dem anzuwendenden Gesetz ergeben oder sich sonst den Beteiligten hätten aufdrängen müssen (BVerfG, B.v. 29.9.2006 – 1 BvR 247/05 – juris Rn.29).
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Nach diesem Maßstab ist für eine Verletzung von Art. 103 Abs. 1 GG durch die angegriffene Entscheidung nichts ersichtlich. Der Kläger beanstandet, das Verwaltungsgericht habe nicht zu erkennen gegeben, dass es den in der mündlichen Verhandlung vom Vater geschilderten gesundheitlichen Beeinträchtigungen (Diabetes) keine Bedeutung beimesse. Damit habe es dem Kläger die Möglichkeit genommen, einen Beweisantrag zur Erkrankung des Vaters zu stellen. Damit kann er nicht durchdringen. Zunächst verlangt der Grundsatz des rechtlichen Gehörs nicht, dass das Gericht die Beteiligten vorab auf seine Rechtsauffassung oder die beabsichtigte Würdigung des Prozessstoffes hinweist, weil sich die tatsächliche und rechtliche Würdigung regelmäßig erst aufgrund der abschließenden Beratung oder Bewertung der in der Verhandlung gewonnenen Erkenntnisse ergibt (BVerwG, B.v. 15.7.2016 a.a.O. Rn. 3 m.w.N.; BayVGH, B.v. 25.4.2017 – 20 ZB 17.30228 – juris Rn. 7). Das gilt auch für den Tatsachenvortrag des Asylbewerbers, der selbst für die Darlegung seiner Asylgründe verantwortlich ist (BVerwG, B.v. 26.11.2001 – 1 B 347.01 – juris). Das Verwaltungsgericht hat auch nicht etwa einen möglichen Beweisantrag verhindert, indem es dem Kläger und seinem Bevollmächtigten Anlass zu der Annahme gegeben hätte, es würde eine die Schwere der angegebenen gesundheitlichen Beeinträchtigungen bestätigende ärztliche Stellungnahme für nicht erforderlich halten. Einem gewissenhaften und kundigen Prozessbevollmächtigten wäre die Pflicht des Asylbewerbers, die Gründe für das begehrte Bleiberecht schlüssig und nachvollziehbar darzulegen und seinen Vortrag ausreichend zu substantiieren (vgl. BVerwG, B.v. 26.7.2012 – 10 B 21.12 – juris Rn. 7 m.w.N.) bekannt gewesen; ebenso wäre ihm bekannt gewesen, dass zur Substantiierung des Vorbringens einer Erkrankung – auf die ein Anspruch gestützt wird – regelmäßig die Vorlage eines gewissen Mindestanforderungen genügenden fachärztlichen Attestes gehört (vgl. BayVGH, B.v. 5.1.2017 – 10 CE 17.30 – juris Rn. 5). Der Klägerbevollmächtigte hätte daher mit der vorgenommenen Bewertung der Schilderungen des Vaters zu seinen gesundheitlichen Einschränkungen durch das Gericht rechnen müssen.
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c) Soweit die Zulassungsschrift rügt, im Protokoll über die mündliche Verhandlung sei nicht enthalten, dass der Vater des Klägers selbst zu seiner Erkrankung gehört worden sei, legt er ebenfalls keinen Verfahrensfehler dar. Die vorgetragene Verletzung der tatrichterlichen Überzeugungsbildung (§ 108 Abs. 2 VwGO) ergibt sich daraus nicht.
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Von einer weiteren Begründung wird abgesehen (§ 78 Abs. 5 Satz 1 AsylG).
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3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO, § 83b AsylG. Der Gegenstandswert ergibt sich aus § 30 RVG; Gründe für eine Abweichung nach § 30 Abs. 2 RVG liegen nicht vor.
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Mit der Ablehnung des Zulassungsantrags wird das Urteil des Verwaltungsgerichts rechtskräftig (§ 78 Abs. 5 Satz 2 AsylG).