Titel:
Auslegung der Regelung im TV über vollkontinuierliche Arbeitsweise bezüglich der erfassten Arbeitnehmer
Normenkette:
TV über vollkontinuierliche Arbeitsweise vom 2.5.1969/04.07.1992 (TVvA) § 3 Ziff. 6 S. 3
Leitsätze:
Die Auslegung von § 3 Ziff. 6 S. 3 TVvA ergibt einen Anspruch des Klägers auf einen Ausgleich für die Arbeit, die er am 2. Weihnachtfeiertag zu erbringen hatte. I.S. der Regelung sind in vollautomatisch arbeitenden Betrieben, die Hohlglas bzw. optisches Rohglas erzeugen oder Glasfaser herstellen alle Arbeitnehmer, in den Produktionsprozess eingebunden, die in einem in der Anlage I aufgeführten Produktionsgang tätig sind und aus diesem Grunde trotz des grundsätzlich für besondere Feiertage bestehenden Produktionsverbots eingesetzt werden dürfen. Die bezahlte Freizeit erhält der Kläger entsprechend der hierzu abgeschlossenen Betriebsvereinbarung auf Wunsch als Abgeltung. (Rn. 26 und 32 – 34)
Für die Auslegung von Tarifnormen ist zunächst vom Wortlaut der Norm auszugehen darüber hinaus der wirkliche Wille der Tarifvertragsparteien zu berücksichtigen, wie er in den tariflichen Normen seinen Niederschlag gefunden hat. Für die bei Zweifeln darüber hinaus mögliche Heranziehung weiterer Auslegungskriterien (Tarifgeschichte, praktische Tarifübung und Entstehungsgeschichte des Tarifvertrages) gibt es keinen Zwang zu einer bestimmten Reihenfolge. Im Zweifel gebührt diejenigen Tarifauslegung der Vorrang, die zu einer vernünftigen, sachgerechten, zweckorientierten und praktisch brauchbaren Regelung führt. (Rn. 29) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Auslegung Tarifvertrag, Auslegung, Tarifvertrag, Tarifnormen, Vollkontinuierliche Arbeitsweise, Erfasste Arbeitnehmer, Besondere Feiertage, Betriebsvereinbarung
Vorinstanz:
ArbG München, Endurteil vom 12.10.2022 – 10 Ca 451/21
Fundstelle:
BeckRS 2023, 20681
Tenor
1. Auf die Berufung des Klägers wird das Urteil des Arbeitsgerichts München – Kammer Ingolstadt – vom 12.10.2022, Az.: 10 Ca 451/21 abgeändert:
Die Beklagte wird verurteilt, an den Kläger € 84,90 brutto nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit dem 13.01.2021 zu zahlen.
2. Die Beklagte trägt die Kosten des Rechtsstreits.
3. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
1
Der Kläger begehrt für am zweiten Weihnachtsfeiertag 2020 geleistete Arbeit neben der erhaltenen Vergütung die Auszahlung von zu gewährender Freizeit in Geld.
2
Der Kläger ist bei der Beklagten seit 01.11.2014 als Lagerarbeiter und Staplerfahrer mit 37,5 Stunden pro Woche und einem Stundenlohn in Höhe von 16,98 € brutto beschäftigt.
3
Er ist nicht im Schichtbetrieb in vollkontinuierlicher Arbeitsweise eingesetzt.
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Auf das Arbeitsverhältnis der Parteien finden kraft beiderseitiger Organisationszugehörigkeit der Manteltarifvertrag für gewerbliche Arbeitnehmer und Auszubildende der Betriebe, die Hohlglas aller Art oder Glasfaser erzeugen, veredeln oder verarbeiten, in der F. (MTV), sowie der Tarifvertrag über vollkontinuierliche Arbeitsweise vom 02.05.1969/04.07.1992 (TVvA) (Bl. 17 ff d.A.) Anwendung.
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Gemäß § 4 Abs. 1 Nr. 5 des MTV erhält ein Arbeitnehmer für Arbeiten an gesetzlichen Feiertagen neben der Grundvergütung einen Zuschlag von 150%.
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Der TVvA sieht folgende Regelungen vor:
Betriebe, die vollautomatisch Hohlglas bzw. optischen Rohglas erzeugen oder vollautomatisch Glasfaser herstellen.
Gewerbliche Arbeitnehmer in Betrieben oder Betriebsabteilungen gem. § 2 Ziff. 1
§ 2 Vollkontinuierliche Arbeitsweise
In vollautomatisch arbeitenden Betrieben oder Betriebsabteilungen kann in den in der Anlage I aufgeführten Produktionsgängen vollkontinuierlich gearbeitet werden.
Die Anlage I ist Bestandteil dieses Tarifvertrages.
§ 3 Arbeitszeit und Schichtregelung …
5. Der 1. Januar, Ostersonntag und Ostermontag, Pfingstsonntag und Pfingstmontag, der 1. Mai, der 24. Dezember, der 1. und 2. Weihnachtsfeiertag bleiben produktionsfrei. Am 24. Dezember kann jedoch zur Vermeidung überlanger Stillstandszeiten bis 14:00 Uhr gearbeitet werden, wenn am 31. Dezember die letzte Schicht produktionsfrei ist.
6. Für die Betriebe der Behälterglasindustrie kann zwischen Arbeitgeber und Betriebsrat durch Betriebsvereinbarung von dem Produktionsverbot der Ziffer 5 Satz 1 abgewichen werden, wenn für die Arbeitnehmer, die schichtplanmäßig eingesetzt werden, zum Ausgleich eine bezahlte Freizeit gewährt wird im Umfang der tatsächlich gearbeiteten Zeit.
Die Bezahlung der Freizeit erfolgt gemäß §§ 5 und 4 (ausgefallener Verdienst ohne Zuschläge, jedoch zuzüglich Vk-Zuschlag von 10,5%).
Diese Regelung gilt auch für Arbeitnehmer, die in den Produktionsprozess eingebunden sind, auch wenn sie nicht vollkontinuierlich arbeiten.“
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Die Anlage I zum TVvA hat nachstehenden Wortlaut:
„Energieversorgung (Gas, Heizöl, Dampf, Strom, Preßluft, Wasser und sonstiges)
Gemengeherstellung Schmelzofenbetrieb (Einlegeeinrichtungen und Ofenführung)
Glasverformung (Automatenbedienung, Formeninstandhaltung und Einbringung in den Kühlofen)
Glaskühlung (Wartung und Beaufsichtigung der Öfen)
Innerbetriebliches Transportwesen (Brennstoffe, Rohstoffe, Fertigwaren)
Bereitschaftsdienst Sonstige Betriebseinrichtungen (Werkschutz, Pförtner, Sanitäter usw.)
Glasfaserfertigung (Glasfaserziehbetrieb, Produktion von Glasseidematten)“
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Die Betriebsvereinbarung vom 16.12.1994 sieht folgende Regelungen vor:
1. „An allen produktionsfreien Tagen gemäß § 3, Ziff. 5, des „Tarifvertrags über vollkontinuierliche Arbeitsweise“ kann nach Entscheidung der Firma, auf freiwilliger Basis, mit allen Produktionslinien produziert werden.
2. Grundlage dieser Vereinbarung ist Ziffer 6 „des Tarifvertrags über vollkontinuierliche Arbeitsweise“.
Ergänzend zu Ziffer 6, Absatz 1, wird vereinbart, dass die zu gewährende bezahlte Freizeit auf Wunsch des Mitarbeiters in Geld abgegolten werden kann.
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Der Kläger arbeitete am 26.12.2020 im Betrieb der Beklagten für 5 Stunden und war mit der Umlagerung von Glasflaschen eingesetzt. Die Beklagte zahlte an den Kläger für diese Tätigkeit die Grundvergütung einschließlich des Zuschlags gemäß § 4 Abs. 1 Nr. 5 MTV.
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Eine weitere vom Kläger geltend gemachte Zahlung in Höhe von € 84,90 brutto (€ 16,98 brutto x 5 Stunden) als Abgeltung der zu gewährenden Freizeit gem. Ziff. 2 Satz 2 der Betriebsvereinbarung vom 16.12.1994 hat die Beklagte abgelehnt. Eine Stundengutschrift auf dem Arbeitszeitkonto ist nicht erfolgt.
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Mit seiner Klage verfolgt der Kläger diesen Anspruch weiter.
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Der Kläger hat erstinstanzlich beantragt,
Die Beklagte wird verurteilt, an den Kläger, € 84,90 brutto nebst Zinsen in Höhe von 5%-Punkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit 13.01.2021 zu zahlen.
Die Beklagte wird verurteilt, dem Arbeitszeitkonto des Klägers 5 Arbeitsstunden gutzuschreiben.
13
Die Beklagte hat erstinstanzlich beantragt,
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Die Beklagte hat die Ansicht vertreten, dass die Regelung im TV über vollkontinuierliche Arbeitsweise vor allem dem Ausgleich der erheblichen Belastungen bei Schichtarbeit diene, denen der Kläger nicht ausgesetzt sei. Allenfalls könnten diese Regelungen auf nicht-vollkontinuierliche arbeitende Arbeitnehmer übertragen werden, die ebenfalls unmittelbar in der Produktion eingebunden seien und deshalb ähnlich belastet.
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Das Arbeitsgericht hat mit seinem Urteil vom 12.10.2022 – Az.: 10 Ca 451/21, auf das hinsichtlich des weiteren Sachverhalts und der Entscheidungsgründe im Einzelnen Bezug genommen wird, die Klage abgewiesen. Zur Begründung hat es im Wesentlichen ausgeführt, dass es die tarifliche Regelung in § 3 Nr. 6 Satz 3 TVvA dahingehend versteht, dass nur ein Mitarbeiter „in den Produktionsprozess eingebunden“ ist, wenn dieser unmittelbar am Produktionsprozess, also hier an der Herstellung von Glasflaschen, beteiligt ist, was bei der Tätigkeit des Klägers, der lediglich im innerbetrieblichen Transportwesen Glasflaschen umgelagert habe, nicht der Fall gewesen sei. Daher habe der Kläger weder einen Anspruch auf Abgeltung von Freizeit noch einen Anspruch auf Gutschrift in seinem Arbeitszeitkonto., sondern. Für dieses Ergebnis sprächen auch die im Zusammenhang mit der oben genannten Rechtsbestimmung heranzuziehenden Bestimmungen gemäß § 2 Nr. 1 TVvA in Verbindung mit Anlage I. Zwar werde in § 2 Nr. 1 TVvA von den in der Anlage I aufgeführten Produktionsgängen gesprochen; in dieser Anlage würden jedoch detailliert verschiedene Arbeitsvorgänge genannt, die zum Teil unmittelbar dem Produktionsprozess dienen und im Übrigen lediglich mittelbar den Produktionsprozess unterstützten, wie insbesondere, dass innerbetriebliche Transportwesen. Hieraus ergebe sich, dass mit Produktionsprozess im Sinne von § 3 Nr. 6 S. 3 TVvA nur solche Tätigkeiten gemeint seien, die Tätigkeit des unmittelbaren Prozesses zur Herstellung der Glasprodukte der Beklagten seien. Für diese Unterscheidung spreche auch der Umstand, dass in § 2 Nr. 1 TVvA von „Produktionsgängen“ gesprochen werde, während § 3 Nr. 6 S. 3 TVvA die Bezeichnung „Produktionsprozess“ wählt.
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Gegen dieses Urteil vom 12.10.2022, dem Kläger zugestellt am 24.10.2022, legte dieser am 21.11.2022 Berufung ein, welche er mit einen am 27.01.2023 eingegangenen Schriftsatz begründete, nachdem die Berufungsbegründungsfrist bis zu diesem Tage verlängert worden war.
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Der Kläger macht mit seiner Berufung geltend, dass die vom Arbeitsgericht gewählte Auslegung des Tarifvertrages unzutreffend ist und dieses die Systematik verkannt habe. Ein „Produktionsgang“ gemäß § 2 Nr. 1 TVvA i.V.m. Anlage 1 des TVvA sei stets Teil eines Produktionsprozesses (§ 3 Nr. 6 Satz 3 TVvA). Das Arbeitsgericht habe die in der Anlage 1 aufgelisteten Produktionsgänge, die sowohl unmittelbare als auch mittelbare Tätigkeiten als Produktionsgang qualifizierten, ohne nähere Begründung nicht dem Produktionsprozess nach § 3 Nr. 6 Satz 3 TVvA zugeordnet. Der Kläger sei mit seiner Tätigkeit am 26.12.2020 gemäß § 3 Nr. 6 Satz TVvA in den Produktionsprozess eingebunden gewesen. Mit „Einbindung“ hätten alle Tätigkeiten erfasst werden sollen, die mit dem Produktionsprozess in Berührung kommen. Dies sei nicht nur dann gegeben, wenn unmittelbar am Produkt gearbeitet werde, sondern auch, wenn in irgendeiner Form dazu beigetragen werde, dass das Produkt hergestellt und produziert wird, bzw. dafür Sorge getragen wird, dass die Produktion nicht in Stillstand gerät. Hätte der Kläger am 26.12.2020 die produzierten Glasflaschen nicht umgelagert, so wäre die gesamte Produktion zum Stillstand gekommen, was zeige, dass der Kläger in den Produktionsprozess eingebunden war.
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Bei der Beklagten arbeiteten zudem alle Arbeitnehmer, die unmittelbar an der Produktion mitwirken, in vollkontinuierlicher Schicht. Daher hätte § 3 Nr. 6 Satz 3 TVvA in der Auslegung des Arbeitsgerichts keinen Anwendungsbereich. Sinn und Zweck der Regelung sei es, hinsichtlich des in § 3 Nr. 5 TVvA geregelten grundsätzlichen Produktionsverbots eine Ausnahme durch Betriebsvereinbarung zuzulassen, um die dann mögliche Arbeit an den grundsätzlich produktionsfreien Tagen entsprechend durch die zusätzliche Gewährung von Freizeit beziehungsweise nach der Betriebsvereinbarung mögliche wahlweise Vergütung auszugleichen.
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Am 26.12.2020 habe der Kläger fünf Stunden arbeiten müssen, da anderenfalls die Produktion zum Stillstand gekommen wäre. Hintergrund sei, dass bei der Beklagten die produzierten Glasflaschen vor dem Versand im Fertigwarenlagern eingelagert würden. Ein kleineres Fertigwarenlager befinde sich direkt hinter der Produktion, ein weiteres größeres Fertigwarenlager an einem entfernteren Standort auf dem Betriebsgelände der Beklagten. Aufgabe des Klägers sei es, die im Fertigwarenlager hinter der Produktion zwischengelagerten Glasflaschen in das entferntere Fertigwarenlager umzulagern. Dies sei spätestens nach zwei Produktionstagen erforderlich, da dann das Fertigwarenlager weitestgehend vollgelaufen sei. Der Zeitraum vom 24.12.2020 bis zum 27.12.2020 habe 3,5 Feierbeziehungsweise Sonntage umfasst, so dass in dieser Zeit eine Tätigkeit erforderlich gewesen sei.
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Wie die bereits vorgelegte Abrechnung und die Zeitaufstellung von April 2019 zeige, habe die Beklagte dies auch entsprechend dem Verständnis des Klägers in der Vergangenheit immer so gehandhabt.
Das Endurteil des Arbeitsgerichts München – Kammer Ingolstadt – vom 12.10.2022, Az.: 10 Ca 451/21 wird abgeändert und wie folgt erkannt:
Die Beklagte wird verurteilt, an den Kläger 84,90 Euro brutto nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit dem 13.01.2021 zu zahlen.
Die Beklagte wird verurteilt, dem Arbeitszeitkonto des Klägers 5 Arbeitsstunden gutzuschreiben.
22
Die Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
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Die Beklagte verteidigt das erstinstanzliche Urteil als zutreffend und macht geltend, dass der Tarifvertrag die besonderen Belastungen von Mitarbeitern ausgleichen solle, die in vollkontinuierlicher Tätigkeit in Schichtarbeit beschäftigt seien. Es sei zwar zutreffend, dass der Einsatz des Klägers wegen der Lage der Feiertage in Kombination mit dem Wochenende erforderlich gewesen sei, um die fertiggestellten Flaschen aus dem vollgelaufenen kleineren Zwischenlager nach zwei Tagen umzulagern, um so einen „Stau“ zu vermeiden. Die Ausnahmeregelung in § 3 Ziff. 6 Satz 3 sei dennoch eng zu verstehen und nur auf die nicht vollkontinuierlich eingesetzten Mitarbeiter zu beziehen, die in gleicher Weise unmittelbar in die Produktion eingebunden und daher belastet seien. Die frühere Handhabung gegenüber dem Kläger und anderen Mitarbeitern und die damit einhergehende zusätzliche Abgeltung von Freizeit sei nicht zutreffend gewesen.
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Hinsichtlich des Vorbringens der Parteien im Berufungsverfahren wird auf die zwischen ihnen gewechselten Schriftsätze vom 26.01.2023 und 31.03.2023 samt Anlagen sowie auf das Sitzungsprotokoll Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
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Die gemäß § 64 Abs. 2 ArbGG statthafte Berufung der Klägerin ist form- und fristgerecht eingelegt und begründet worden und daher zulässig (§§ 66 Abs. 1 S. 1, 64 Abs. 6 S. 1 ArbGG, 519, 520 ZPO).
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Die Berufung des Klägers ist auch begründet. Die Auslegung des Arbeitsgerichts ist unzutreffend. Der TVvA ist vielmehr dahingehend zu verstehen, dass er in Betrieben, die vollautomatisch Hohlglas bzw. optischen Rohglas erzeugen oder vollautomatisch Glasfaser herstellen und deren Art der Produktion daher eine vollkontinuierliche Arbeitsform für die in den in Anlage 1 aufgeführten Produktionsgänge erfordert oder zulässt, einen Ausgleich für einen Einsatz an ansonsten produktionsfreien Feiertagen schaffen soll. Der Einsatz des Klägers am 26.12.2020 war unstreitig erforderlich, damit die Produktion in den 3,5 für den Kläger ansonsten arbeitsfreien Tagen durchlaufen konnte. Hierzu musste nach zwei arbeitsfreien Tagen ein Arbeitseinsatz erfolgen, um die im vollgelaufenen Fertigwarenlager hinter der Produktion zwischengelagerten Glasflaschen in das entferntere Fertigwarenlager umzulagern. Damit war nach der Auslegung des Tarifvertrages die Tätigkeit des Klägers an Weihnachten als Teil des Produktionsprozesses erforderlich und hierfür der vom Kläger geltend gemachte Ausgleich zu gewähren.
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1. Der TVvA ist grundsätzlich auf den Sachverhalt anwendbar. Der Anwendungsbereich ist gemäß §§ 1 u. 2 Abs. 1 TVvA eröffnet. Maßgebend ist, ob der Betrieb in den Anwendungsbereich fällt. Die Tätigkeit des Klägers spielt zunächst keine Rolle. Bei der Beklagten handelt es sich unstreitig um einen Betrieb, der vollautomatisch Hohlglas bzw. optischen Rohglas erzeugt und in dem deshalb nach dem TVvA eine vollkontinuierliche Arbeitsweise in den in der Anlage I aufgeführten Produktionsgängen erlaubt ist.
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2. Der Kläger ist auch in den Produktionsprozess i.S. von § 3 Ziff. 6 TVvA eingebunden. Dies ergibt die Auslegung des Tarifvertrages.
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2.1 Das Arbeitsgericht hat zutreffend ausgeführt, dass für die Auslegung von Tarifnormen genauso, wie für die Auslegung von Gesetzesnormen, zunächst vom Wortlaut der Norm auszugehen ist. Außerdem ist über den reinen Tarifwortlaut hinaus der wirkliche Wille der Tarifvertragsparteien zu berücksichtigen, wie er in den tariflichen Normen seinen Niederschlag gefunden hat. Hierzu ist auch auf den tariflichen Gesamtzusammenhang abzustellen. Für die bei Zweifeln darüber hinaus mögliche Heranziehung weiterer Auslegungskriterien (Tarifgeschichte, praktische Tarifübung und Entstehungsgeschichte des Tarifvertrages) gibt es keinen Zwang zu einer bestimmten Reihenfolge. Im Zweifel gebührt diejenigen Tarifauslegung der Vorrang, die zu einer vernünftigen, sachgerechten, zweckorientierten und praktisch brauchbaren Regelung führt (st. Rspr., s. BAG 10.02.2015, 3 AZR 904/13; 14.08.1991, 4 AZR 649/90 und BAG 12.09.1984, 4 AZR 336/82, NZA 1985, 160).
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2.2 Aus Anlage 1 ist ersichtlich, dass der Kläger, der mit dem innerbetrieblichen Transport der in der Produktion fertiggestellten Glasflaschen von einem Zwischenlager in ein anderes beschäftigt war, in einer Abteilung tätig ist, die zu den dort genannten Produktionsgängen gehört. Entgegen der Ansicht des Arbeitsgerichts geht aus Sinn und Zweck der tariflichen Regelung hervor, dass die in dieser Anlage genannten Produktionsgänge zum Produktionsprozess gehören und bei den in den Anwendungsbereich fallenden Betrieben deswegen für diese Produktionsgänge auch eine voll kontinuierliche Arbeit ermöglichen. Als Pendant zu der für die Betriebsparteien in § 3 Ziff. 6 TVvA geschaffenen Möglichkeit, von dem Produktionsverbot gem. § 3 Ziff. 5 S. 1 TVvA abzuweichen, besteht dann für die hiervon betroffenen, voll kontinuierlich in Schichtarbeit eingesetzten Arbeitnehmer zum Ausgleich ein Anspruch auf eine bezahlte Freizeit im Umfang der tatsächlich gearbeiteten Zeit.
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2.3 Entgegen der Ansicht der Beklagten setzt ein solcher Anspruch aber nicht voraus, dass der Betrieb von der Möglichkeit einer voll kontinuierlichen Arbeit in dem Produktionsgang auch Gebrauch gemacht hat. Der Kläger war in seiner Tätigkeit, dem innerbetrieblichen Transportwesen, nicht im Schichtbetrieb eingesetzt.
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Hier geht aus dem Wortlaut von § 3 Ziff. 6 TVvA eindeutig hervor, dass eben nicht nur voll kontinuierlich im Schichtbetrieb eingesetzte Mitarbeiter von dieser Regelung erfasst werden, sondern eben zusätzlich auch Mitarbeiter, die in den Produktionsprozess eingebunden sind. Hieraus folgt eindeutig, dass der Ausgleich in Form von bezahlter Freizeit nicht für die Härte von Schichtarbeit gewährt wird, sondern für die Härte die dadurch entsteht, dass die entsprechenden Mitarbeiter an den besonders geschützten und gem. § 3 Ziff. 5 S. 1 TVvA mit einem Produktionsverbot belegten Tagen arbeiten müssen. Aus dem tariflichen Gesamtzusammenhang heraus bedeutet daher eine „Eingebundenheit in den Produktionsprozess in Sinne dieser Ausnahmevorschrift, dass ein Mitarbeiter Tätigkeiten ausfüllt, die erforderlich sind, damit der gesamte Produktionsprozess am Laufen gehalten und sinnvoll gestaltet werden kann.
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Gerade weil der Kläger in den Produktionsprozess in diesem Sinne eingebunden war, ist er auch am 26. Dezember 2020, also am zweiten Weihnachtsfeiertag eingesetzt worden, da eine Umlagerung der im Zwischenlager gelagerten, fertiggestellten Flaschen erforderlich war, um die laufend weiter produzierten Flaschen nach der Produktion unterbringen zu können und – wie sich die Beklagte ausgedrückt hat – einen „Stau“ zu vermeiden. Wäre dies nicht der Fall gewesen, hätte die Beklagte gar keine Erlaubnis dazu gehabt, den Kläger am zweiten Weihnachtsfeiertag einzusetzen. Bezogen auf das von der Beklagten genannte Beispiel der Kantine wird dies noch einmal deutlich: die Mitarbeiter der Kantine tragen zwar zu einem angenehmen Arbeitsalltag bei, sind aber nicht in der Anlage I aufgeführt und eben auch nicht in den Produktionsprozess eingebunden. Daher dürfen sie auch nicht an Weihnachten zur Arbeit herangezogen werden und brauchen keinen Ausgleich hierfür.
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Der Tarifvertrag ist daher sowohl vom Wortlaut, als auch vom Zusammenhang her zweifelsfrei dahingehend zu verstehen, dass der Erlaubnis für die Betriebsparteien, entgegen dem grundsätzlich postulierten Produktionsverbot an herausgehobenen Feiertagen eine Betriebsvereinbarung zu schließen, nach der Mitarbeiter, deren Tätigkeit für die Produktion erforderlich ist, zur Arbeit herangezogen werden dürfen, der Anspruch der betroffenen Arbeitnehmer gegenüber steht, hierfür den vorgesehenen zusätzlichen Freizeitanspruch zu erhalten. Aus diesem Grunde war einerseits die Anordnung von Feiertagsarbeit für den Kläger möglich. Andererseits war diese entsprechend der tarifvertraglichen Regelung und der hiernach geschlossenen Betriebsvereinbarung auszugleichen.
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2.4 Die Betriebsvereinbarung vom 16.12.1994 gibt dem Kläger ein Wahlrecht, die gem. § 3 Ziff. 6 Abs. 1 TVvA zu gewährende bezahlte Freizeit auf seinen Wunsch hin in Geld abgegolten zu bekommen. Hiervon hat der Kläger Gebrauch gemacht, so dass ihm die eingeklagte Vergütung zusteht.
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2.5 Der geltend gemachte Zinsanspruch in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz besteht für Vergütungsansprüche gem. § 288 Abs. 1 i.V.m. §§ 286 Abs. 1, 284 Abs. 2, 614 BGB i.V.m. den tarifvertraglichen Regelungen ab dem auf die unstreitige Fälligkeit zum 12. eines Monats folgenden Tag.
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Die Kostenentscheidung folgt aus § 64 Abs. 6 ArbGG, 97 Abs. 1 ZPO.
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Dem Rechtsstreit kommt über die Klärung der konkreten Rechtsbeziehungen der Parteien hinaus keine grundsätzliche Bedeutung zu, sodass für die Zulassung der Revision gemäß § 72 Abs. 2 ArbGG keine Veranlassung bestand. Gegen dieses Urteil ist deshalb die Revision nur gegeben, wenn sie das Bundesarbeitsgericht aufgrund einer Nichtzulassungsbeschwerde, auf deren Möglichkeit und Voraussetzungen gemäß § 72 a ArbGG die Beklagte hingewiesen wird, zulassen sollte.