Titel:
Grenzüberschreitender Anspruch auf Familiengeld nach dem Bayerischen Familiengeldgesetz – unionsrechtswidrige Bestimmungen zur Indexierung
Normenketten:
BayFamGG Art. 3 Abs. 1 S. 4
ASVG § 102
RL 2004/28/EG Art. 24 Abs. 1
Soziale Sicherungssysteme-Koordinierungs-VO I Art. 3 Abs. 1 lit. j, Art. 67
Freizügigkeits-VO
AEUV Art. 45
Leitsätze:
1. Die in Art. 3 Abs. 1 S. 4 BayFamGG iVm § 102 AVSG getroffene Regelung ist unter Berücksichtigung der Rspr. des EuGH BeckRS 2022, 13502 mit Unionsrecht unvereinbar. Sie verstößt gegen die EU-Vorschriften über die Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit (VO (EG) Nr. 883/2004) und die Arbeitnehmerfreizügigkeit (Freizügigkeits-VO) sowie gegen Art. 45 AEUV. (Rn. 33) (redaktioneller Leitsatz)
2. Art. 67 Soziale Sicherungssysteme-Koordinierungs-VO I differenziert nicht zwischen der Zweckrichtung einer Familienleistung, sondern ist vielmehr auf alle Familienleistung iSv Art. 1 lit. z Soziale Sicherungssysteme-Koordinierungs-VO I anzuwenden. (Rn. 40) (redaktioneller Leitsatz)
3. Bei dem Bayerischen Familiengeld handelt es sich nicht um eine besondere Leistung, die an das wirtschaftliche und soziale Umfeld der betroffenen Person gebunden ist, denn die Verwendung der Mittel steht den Leistungsbeziehern letztlich völlig frei. (Rn. 46) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Familiengeld, Familienleistung, Kürzung, Polen, Indexierungsvorschrift, Leistungshöhe, Differenzierung, mittelbare Diskriminierung, VO (EG) 883/2004, VO (EU) 492/2011
Fundstelle:
BeckRS 2023, 20468
Tenor
I. Der Beklagte wird unter Abänderung des Bescheides vom 04.03.2019 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 15.04.2019 verurteilt, der Klägerin Familiengeld nach dem Bayerischen Familiengeldgesetz für den 13. bis 36. Lebensmonat von J. (01.02.2019 bis 31.01.2021) in Höhe von monatlich 300,00 € zu gewähren.
II. Der Beklagte hat der Klägerin die notwendigen außergerichtlichen Kosten zu erstatten.
Tatbestand
1
Zwischen den Beteiligten streitig ist die Höhe des Anspruchs der Klägerin auf Familiengeld nach dem Bayerischen Familiengeldgesetz (BayFamGG) für ihr Kind J. (geboren 2018) in der Zeit vom 01.02.2019 bis 31.01.2021 (13. bis 36. Lebensmonat).
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Die 1974 geborene Klägerin und ihr Ehemann, Herr K., sind die Eltern der vier Kinder C. (geboren 2001), W. (geboren 2003), L. (geboren 2007) und J. (geboren 2018). Die Klägerin lebt mit den Kindern in Polen. Ihr Ehemann steht seit dem 18.02.2022 in einem sozialversicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnis bei der S. AG in N..
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Die Klägerin bezog bis zum 31.01.2019 vom Beklagten Elterngeld für das Kind J.
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Mit Schreiben vom 30.01.2019 beantragte sie beim Beklagten Familiengeld nach dem BayFamGG für J.
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Mit Bescheid vom 04.03.2019 bewilligte der Beklagte der Klägerin Familiengeld nach dem BayFamGG in Anwendung der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 und Nr. 987/2009 (DVO) für die Zeit vom 01.02.2019 (13. Kalendermonat) bis zum 31.01.2021 (36. Kalendermonat) in Höhe von monatlich 150,00 €.
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Nachdem der Klägerin für J. Elterngeld in Bayern bewilligt worden sei, gelte sie gemäß Art. 6 Abs. 1 Satz 3 BayFamGG als familiengeldberechtigt. Der der Elterngeldbewilligung zugrundeliegende Antrag gelte gemäß Art. 6 Abs. 1 Satz 2 BAyFamGG auch als Antrag auf Familiengeld. Gemäß Art. 3 Abs. 1 Satz 1 BayFamGG betrage das Familiengeld für das erste oder zweite Kind grundsätzlich 250,00 € monatlich, ab dem dritten Kind 300,00 €. Wenn das Kind seinen gewöhnlichen Aufenthalt in einem anderen Mitgliedstaat der Europäischen Union habe, sehe Art. 3 Abs. 1 Satz 4 BayFamGG i.V.m. § 102 der Verordnung zur Ausführung der Sozialgesetze (ASVG) eine an die Kosten der Lebenshaltung am Ort des gewöhnlichen Aufenthaltes angepasste Leistungshöhe vor. Das Familiengeld betrage damit bei einem gewöhnlichen Aufenthalt des Kindes in Polen für das erste und zweite Kind 125,00 €, ab dem dritten Kind 150,00 € monatlich. Im Fall von J., der in Polen lebe, resultiere hieraus ein Familiengeldanspruch in Höhe von monatlich 150,00 €. Anspruch auf Familiengeld bestehe vom 13. bis zum 36. Lebensmonat des Kindes.
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Mit Schreiben vom 25.03.2019 legte die Klägerin Widerspruch gegen den Bescheid vom 04.03.2019 ein, gerichtet auf die Auszahlung des ungekürzten Familiengeldes in Höhe von monatlich 300,00 €.
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Mit Widerspruchsbescheid vom 15.04.2019 wies der Beklagte den Widerspruch der Klägerin zurück. Die Höhe des Familiengeldes sei in Übereinstimmung mit den gesetzlichen Vorgaben des Art. 3 Abs. 1 Satz 4 BayFamGG i.V.m. § 102 ASVG mit monatlich 150,00 € richtig festgestellt worden. Soweit die Klägerin im Rahmen ihrer Widerspruchsbegründung auf eine Verletzung des Gleichheitsgebotes nach Art. 24 der RL 2004/28/EG vom 29.04.2004 hingewiesen habe, werde mitgeteilt, dass die Verwaltung an die geltende Rechtslage gebunden sei. Eine weitergehende Prüfung obliege dem Beklagten nicht.
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Mit Schreiben vom 20.05.2019, welches am 05.06.2019 beim Sozialgericht Bayreuth eingegangen ist, hat die Klägerin hiergegen Klage erhoben. Zur Begründung hat sie vorgetragen, die Regelung in Art. 3 Abs. 1 Satz 4 BayFamGG i.V.m. § 102 ASVG verstoße gegen Europarecht, insbesondere gegen den Gleichbehandlungsgrundsatz aus Art. 24 Abs. 1 der RL 2004/28/EG vom 29.04.2004. Zudem erfolge eine unzulässige Diskriminierung und eine nicht nachvollziehbare Ungleichbehandlung gegenüber anderen Personen, die – wie ihr Ehemann – ebenfalls in Bayern einer sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung nachgingen und Steuern zahlten. Bei dem Familiengeld nach dem BayFamGG handle es sich nicht um eine Leistung der sozialen und medizinischen Fürsorge im Sinne von Art. 3 Abs. 5 VO (EG) 883/2004, sondern um eine Familienleistung im Sinne von Art. 3 Abs. 1 lit. j) VO (EG) 883/2004. Das Familiengeld sei nach seiner ausdrücklichen Zweckbestimmung in Art. 1 BayFamGG keine Leistung zur Existenzsicherung, sondern – wie auch das Kindergeld – eine Geldleistung zum Ausgleich von Familienlasten, die nicht von einer Hilfebedürftigkeit abhängig sei. Eine an den Auslandsaufenthalt des Kindes geknüpfte Leistungskürzung existiere weder beim Kindergeld und beim Elterngeld, noch habe es eine solche früher beim Betreuungsgeld oder dem Landeserziehungsgeld gegeben. Die Kürzung des Familiengeldes schränke zudem das Freizügigkeitsrecht der Klägerin ein. Es könne von der Klägerin nicht erwartet werden, dass sie zu ihrem Ehemann nach Deutschland ziehe, um die ungekürzten Leistungen zu erhalten. Überdies sei die in § 102 ASVG vorgenommene betragliche Differenzierung nicht nachvollziehbar. Der Lebensstandard in Polen könne nicht mit dem in Rumänien oder Bulgarien gleichgesetzt werden. Vielmehr seien die Lebenshaltungskosten in Polen durchaus mit Deutschland vergleichbar. Die Europäische Kommission habe in Bezug auf eine vergleichbare Regelung in Bezug auf das österreichische Kindergeld bereits darauf hingewiesen, dass diese mit EU-Recht nicht vereinbar sei. Vor diesem Hintergrund werde die Auszahlung des ungekürzten Familiengeldes in Höhe von monatlich 300,00 € geltend gemacht.
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Im Hinblick auf das unter dem Aktenzeichen C 328/20 anhängige Vertragsverletzungsverfahren beim Europäischen Gerichtshof (EuGH) hat das Gericht mit Einverständnis der Beteiligten das Ruhen des Verfahrens angeordnet.
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Nach Abschluss des Verfahrens hat das Gericht am 08.12.2022 einen richterlichen Hinweis gegeben und dargelegt, dass nach Auffassung des Gerichts im Lichte des EuGH-Urteils vom 16.06.2022 (Az.: C-328/20) zur Indexierung der österreichischen Familienbeihilfe auch die in Art. 3 Abs. 1 Satz 4 BayFamGG i.V.m. § 102 AVSG geregelte betragliche Anpassung des bayerischen Familiengeldes mit Unionsrecht unvereinbar sei.
12
Die Klägerin hat darauf hingewiesen, der EuGH habe ihre Rechtsauffassung bestätigt, wonach eine Anpassung von Familienleistungen an das Preisniveau des jeweiligen Mitgliedstaates, in dem die Kinder lebten, unzulässig und rechtswidrig sei. Dies gelte ebenso für den Anpassungsmechanismus bzw. die Kürzung beim bayerischen Familiengeld. Der Ehemann der Klägerin werde als Wanderarbeitnehmer unzulässig diskriminiert. Es liege ein Verstoß gegen die Verordnung über die Freizügigkeit der Arbeitnehmer innerhalb der Union vor.
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Die Klägerin beantragt sinngemäß,
den Beklagten unter Abänderung des Bescheides vom 04.03.2019 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 15.04.2019 zu verurteilen, ihr Familiengeld nach dem Bayerischen Familiengeldgesetz für den 13. bis 36. Lebensmonat von J. (01.02.2019 bis 31.01.2021) in Höhe von monatlich 300,00 € zu gewähren.
14
Der Beklagte beantragt,
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Der Beklagte vertritt die Auffassung, Art. 3 Abs. 1 Satz 4 BayFamGG i.V.m. § 102 AVSG sei mit den einschlägigen europarechtlichen Grundlagen, namentlich Art. 67 VO (EG) Nr. 883/2004 vereinbar. Hieran ändere auch die vom Gericht zitierte EuGH-Rechtsprechung nichts.
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Die vor dem EuGH in Streit stehende Leistung und das bayerische Familiengeld seien der Zweckrichtung nach nicht vergleichbar, was sich am Inhalt der Begründung des zitierten EuGH-Urteils zeige. Im Urteil des EuGH vom 16.06.2022 werde maßgeblich darauf abgestellt, dass es innerhalb der Republik Österreich Preisniveauunterschiede gebe die mit denen vergleichbar seien, die zwischen der Republik Österreich und anderen Mitgliedstaaten bestünden. Aus der Gleichbehandlung potentiell ungleicher inländischer Sachverhalte schließe der EuGH in seiner Argumentation dann auf eine nicht zu rechtfertigende mittelbare Diskriminierung. Da die Kosten der Existenzsicherung auch innerhalb Österreichs variierten, dort eine Indexierung aber nicht erfolge, gehe der EuGH davon aus, dass mit der Beschränkung der Indexierung auf Auslandssachverhalte eine mittelbar-diskriminierende Wirkung im Sinne des AEUV verbunden sei und Kaufkraft-Erwägungen keine Rechtfertigung tragen würden.
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Insoweit liege ein entscheidender Unterschied zwischen der vor dem EuGH in Streit stehenden Leistung nach dem österreichischen Familienlastenausgleichsgesetz (insb. der Familienbeihilfe) und dem bayerischen Familiengeld vor. Bei der österreichischen Familienbeihilfe – vergleichbar dem Kindergeld – handle es sich nach Dafürhalten des Beklagten um eine Leistung, die der Existenzsicherung diene. Dies sei beim Familiengeld aber nicht der Fall. Dieses diene vielmehr der Förderung der frühkindlichen Erziehung und Bildung.
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Die Argumentation des EuGH wäre in Bezug auf das Familiengeld damit nur dann stichhaltig, wenn auch insoweit im Inland Preisunterschiede bestünden, die eine Indexierung rechtfertigen würden, eine Indexierung aber unterlassen werde. Dass die Kosten der frühkindlichen Erziehung und Bildung (Elternkurse zur Stärkung der Bindungs- und Erziehungsfähigkeit, Kinderkurse, besondere Gesundheitsfürsorge (zusätzliche Untersuchungen, gesunde, aufwändige Ernährung)) in Bayern ähnlich auseinanderfielen, wie Lebenshaltungskosten, sei fernliegend. Mithin könne aus einer unterbliebenen Differenzierung der Leistungshöhe für Inlandssachverhalte nicht – wie vom EuGH im entschiedenen Fall – auf eine mittelbare Diskriminierung geschlossen werden.
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Zudem scheide im Falle einer Entstehung von Kosten unterschiedlicher Höhe im In- und Ausland eine Differenzierung der Leistungshöhe nicht von vornherein aus – jedenfalls dann nicht, wenn sie nicht alleine oder im Wesentlichen von bloßen Kaufkrafterwägungen getragen werde. So habe der EuGH in der Rechtssache „Lenoir“ (Urteil vom 27.09.1988, 313/8 „Lenoir“) für den in Streit stehenden Anspruch (dort: Beihilfe zum Schuljahresbeginn) bei der Bemessung der Leistung die Anknüpfung an das soziale Umfeld und den Wohnort zugelassen. Im Erwägungsgrund 16 der VO (EG) Nr. 883/2004 finde sich die Formulierung, wonach es zwar innerhalb der Gemeinschaft grundsätzlich nicht gerechtfertigt sei, Ansprüche der sozialen Sicherheit vom Wohnort der betreffenden Person abhängig zu machen, in besonderen Fällen jedoch – vor allem bei besonderen Leistungen, die an das wirtschaftliche und soziale Umfeld der betroffenen Person gebunden seien – könne der Wohnort berücksichtigt werden.
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Dies verdeutliche, dass nicht jegliche unterschiedliche Behandlung europarechtswidrig sei. Vielmehr sei entscheidend auf die Zwecksetzung und den Anspruchsinhalt abzustellen. Kosten frühkindlicher Förderung und Betreuung seien dabei typischerweise untrennbar mit dem wirtschaftlichen (z.B. ärztliche Infrastruktur) und sozialen Umfeld (insb. Gruppenangebote, Betreuungsangebote) verbunden. Bei entsprechend konkretisierter gesetzlicher Zwecksetzung und gesicherter Bedarfsdeckung durch den indexierten Betrag sei damit bereits das Vorliegen einer Ungleichbehandlung fraglich, jedenfalls sei diese dann aber zu rechtfertigen (vgl. EuGH, Urteil vom 23.,05.1996 – C 237/94 „O`Flynn“).
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Wenn eine Sozialleistung an einen bestimmten Bedarf angebunden sei, sei das Wohnumfeld/soziale Umfeld demnach berücksichtigungsfähig. Insoweit sei das bayerische Familiengeld mit einer existenzsichernden Leistung nicht vergleichbar. Hieran ändere sich auch nichts durch den Umstand, dass der für die frühkindlichen Fördermaßnahmen (konkret) entstehende Bedarf pauschaliert abgegolten und nicht mittels Belegung konkreter Verwendungsnachweise berechnet werde. Dass die Eltern im Rahmen der Zahlung des bayerischen Familiengeldes keine konkreten Verwendungsnachweise für die Verwendung der Leistung erbringen müssten, sei dem Umstand geschuldet, dass die Eltern selbst über die konkrete Ausgestaltung der frühkindlichen Förderung entscheiden sollen. Zur Erhebung konkreter Verwendungsnachweise könne der Beklagte nicht angehalten werden.
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Die pauschalierte Feststellung eines für konkrete Zwecke vorgesehenen Bedarfs unterscheide das Familiengeld von einer „ausschließlich nur nach Anzahl der Kinder und Alter definierten Leistung“, wie sie der Rechtsprechung des EuGH zugrunde gelegen habe (EuGH, Urteil vom 16.06.2022 – C 328/20).
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Entsprechend hätten Antragsteller bei Antragstellung inzwischen immer zu bestätigen, dass eine förderliche frühkindliche Betreuung erfolgt bzw. erfolgen wird. Werde dies nicht erklärt, sei der Antrag auf Familiengeld abzulehnen. Diese dezidierte Zwecksetzung verdeutliche sich nicht zuletzt an dem z.B. gegenüber einem Kindergeldanspruch deutlich reduzierten Bezugszeitraum, in dem Familiengeld bezogen werden könne. Im Hinblick auf die konkretisierte Zwecksetzung erfolge – anders als beim Kindergeld – auch keine Berücksichtigung des bayerischen Familiengeldes bei der Berechnung der Höhe existenzsichernder Leistungen (§ 11a Abs. 3 Satz 1 Zweites Buch Sozialgesetzbuch (SGB II)).
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Werde der im Ausland durch diese Zwecksetzung entstehende Bedarf gedeckt, bestehe auch keine rechtswidrige Ungleichbehandlung. Da auch im Ausland eine Wahlfreiheit der Eltern in Bezug auf die Maßnahmen frühkindlicher Förderung und Betreuung bestehe und damit kein „Warenkorb zulässiger Fördermaßnahmen“ gebildet werden dürfe, an dem sich die Höhe der Anpassung des lebensmonatlichen Zahlbetrages orientiere – dies würde nämlich wieder eine Ungleichbehandlung bedingen – sei eine prozentuale Differenzierung statthaft.
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Der im Rahmen des konkretisierten Verwendungszwecks entstehende Aufwand ergebe sich maßgeblich durch die Kostenstruktur entsprechender Leistungen im sozialen Umfeld vor Ort. Daher werde durch die vorgenommene Indexierung nicht willkürlich diskriminiert, sondern vielmehr in zulässiger typisierender Betrachtung der jeweiligen Kostenstruktur des Wohnsitzlandes für spezifischen Aufwand Rechnung getragen. Es handle sich daher auch nicht um eine unzulässige Berücksichtigung der Kaufkraft für Leistungen der Existenzsicherung, sondern vielmehr um eine pauschalierende Ermittlung der Leistungshöhe im jeweiligen sozialen Umfeld. Aus Sicht des Beklagten bestünden kaum Zweifel, dass die Kostenstruktur – würden konkrete Verwendungsnachweise angefordert – sich im Ausland dann auch in unterschiedlichen Zahlbeträgen für die jeweilige Fördermaßnahme manifestieren würden.
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Zur Ergänzung des Tatbestandes wird auf die Akten des Beklagten und die Gerichtsakten Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
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Die zulässige Klage ist begründet.
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Die Klägerin hat Anspruch auf Familiengeld nach dem BayFamGG in ungekürzter Höhe von monatlich 300,00 €.
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1.) Die Klage ist zulässig, insbesondere form- und fristgerecht erhoben. Die Klägerin wendet sich mit ihrer mit Schreiben vom 20.05.2019 erhobenen Anfechtungs- und Leistungsklage nach § 54 Abs. 4 Sozialgerichtsgesetz (SGG) gegen den Bescheid vom 04.03.2019 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 15.04.2019, mit dem der Beklagte der Klägerin für die Zeit vom 01.02.2019 bis 31.01.2021 Familiengeld in Höhe von monatlich lediglich 150,00 € bewilligt hat.
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2.) Die Klage ist vollumfänglich begründet. Zur Überzeugung der Kammer hat die Klägerin im streitgegenständlichen Zeitraum (01.02.2019 bis 31.01.2021) einen Anspruch auf Familiengeld nach dem BayFamGG in Höhe von monatlich 300,00 €.
31
a) Die Klägerin erfüllt – was zwischen den Beteiligten unstreitig ist – im streitgegenständlichen Zeitraum die Anspruchsvoraussetzungen für einen Anspruch auf Familiengeld nach dem BayFamGG in Anwendung der VO (EG) Nr. 883/2004 und Nr. 987/2009 (DVO).
32
b) Allerdings bemisst sich die Höhe des Anspruchs – entgegen der Auffassung des Beklagten – nicht nach Art. 3 Abs. 1 Satz 4 BayFamGG i.V.m. § 102 der Verordnung zur Ausführung der Sozialgesetze (AVSG).
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Denn die in Art. 3 Abs. 1 Satz 4 BayFamGG i.V.m. § 102 AVSG getroffene Regelung ist zur Überzeugung der Kammer unter Berücksichtigung der Rechtsprechung des EuGH (Urteil vom 16.06.2022 Az.: C-328/20) mit Unionsrecht unvereinbar. Sie verstößt gegen die EU-Vorschriften über die Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit (VO (EG) Nr. 883/2004) und die Arbeitnehmerfreizügigkeit (VO (EU) Nr. 492/2011 und gegen Artikel 45 des Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV).
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In Anbetracht dessen hat die Klägerin einen ungekürzten Anspruch auf Familiengeld nach dem BayFamGG in Höhe von monatlich 300,00 €, den das Gericht aufgrund des Anwendungsvorranges des EU-Rechts der Klägerin unmittelbar zuzusprechen hat (vgl. c).
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aa) Zur Überzeugung der Kammer ist die in Art. 3 Abs. 1 Satz 4 BayFamGG i.V.m. § 102 AVSG getroffene Regelung mit Art. 7 und Art. 67 der VO (EG) 883/2004 unvereinbar.
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Zunächst ist festzustellen, dass das Bayerische Familiengeld unstreitig eine Familienleistung im Sinne von Art. 1 Buchst. z der VO (EG) 883/2004 ist. Diese Verordnung ist damit auf den in Art. 3 Abs. 1 Satz 4 BayFamGG i.V.m. § 102 AVSG getroffene Anpassungsmechanismus anzuwenden, denn sie gilt für alle Rechtsvorschriften, die Zweige der sozialen Sicherheit in Bezug auf Familienleistungen betreffen (vgl. EuGH, Urteil vom 16. Juni 2022 – C-328/20 –, Rn. 42, juris).
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Der EuGH führt in dem genannten Urteil zur österreichischen Familienbeihilfe aus:
„Daher müssen die Familienbeihilfe (…) insbesondere Art. 7 der Verordnung Nr. 883/2004 entsprechen, wonach solche Leistungen, sofern in dieser Verordnung nichts anderes bestimmt ist, „nicht aufgrund der Tatsache gekürzt, geändert, zum Ruhen gebracht, entzogen oder beschlagnahmt werden [dürfen], dass der Berechtigte oder seine Familienangehörigen in einem anderen als dem Mitgliedstaat wohnt bzw. wohnen, in dem der zur Zahlung verpflichtete Träger seinen Sitz hat“.
Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass Art. 67 der Verordnung Nr. 883/2004 den Grundsatz festlegt, dass eine Person Anspruch auf Familienleistungen für Familienangehörige, die in einem anderen als dem für die Gewährung dieser Leistungen zuständigen Mitgliedstaat wohnen, so erheben kann, als würden sie in dem zuständigen Mitgliedstaat wohnen (Urteil vom 22. Oktober 2015, Trapkowski, C-378/14, ECLI:EU:C:2015:720, Rn. 35).
Da Art. 67 der Verordnung Nr. 883/2004 speziell in Bezug auf Familienleistungen die Vorgaben von Art. 7 dieser Verordnung übernimmt, führt ein Verstoß gegen Art. 67 auch zu einem Verstoß gegen Art. 7 dieser Verordnung.
Des Weiteren hat der Gerichtshof wiederholt entschieden, dass mit den Art. 7 und 67 der Verordnung Nr. 883/2004 verhindert werden soll, dass ein Mitgliedstaat die Gewährung oder die Höhe von Familienleistungen davon abhängig machen kann, dass die Familienangehörigen des Erwerbstätigen in dem die Leistungen erbringenden Mitgliedstaat wohnen (vgl. u. a. Urteil vom 25. November 2021, Finanzamt Österreich [Familienleistungen für Entwicklungshelfer], C-372/20, ECLI:EU:C:2021:962, Rn. 76 und die dort angeführte Rechtsprechung).
Art. 67 der Verordnung Nr. 883/2004 ist daher dahin auszulegen, dass die Familienleistungen, die ein Mitgliedstaat Erwerbstätigen gewährt, deren Familienangehörige in diesem Mitgliedstaat wohnen, exakt jenen entsprechen müssen, die er Erwerbstätigen gewährt, deren Familienangehörige in einem anderen Mitgliedstaat wohnen. Entgegen dem Vorbringen der Republik Österreich rechtfertigen es die Kaufkraftunterschiede zwischen den Mitgliedstaaten im Hinblick auf diese Bestimmung nicht, dass ein Mitgliedstaat dieser zweiten Personengruppe Leistungen in anderer Höhe gewährt als der ersten Personengruppe.
Sicherlich ist der in Art. 67 der Verordnung Nr. 883/2004 normierte Grundsatz der Gleichstellung insofern kein absoluter, als die Antikumulierungsvorschriften des Art. 68 dieser Verordnung Anwendung finden, wenn mehrere Ansprüche aufgrund unterschiedlicher Rechtsordnungen geschuldet werden (Urteil vom 18. September 2019, Moser, C-32/18, ECLI:EU:C:2019:752, Rn. 40 und die dort angeführte Rechtsprechung).
Der Gerichtshof hat konkret zu Art. 68 Abs. 2 der Verordnung Nr. 883/2004 entschieden, dass solche Antikumulierungsvorschriften dem Empfänger der von mehreren Mitgliedstaaten gezahlten Leistungen einen Gesamtbetrag an Leistungen garantieren sollen, der gleich dem Betrag der günstigsten Leistung ist, die ihm nach dem Recht nur eines dieser Staaten zusteht (Urteil vom 18. September 2019, Moser, C-32/18, ECLI:EU:C:2019:752, Rn. 42 und die dort angeführte Rechtsprechung).
Bei der Prüfung der Behandlung der von der Verordnung Nr. 883/2004 erfassten Arbeitnehmer kommt es daher auf den wirtschaftlichen Wert dieser Leistungen nicht im Hinblick auf die Kaufkraft und das Preisniveau am Wohnort der betreffenden Personen, sondern im Hinblick auf die Höhe der geschuldeten Leistungen an.
In Anbetracht der in Art. 67 der Verordnung Nr. 883/2004 normierten Fiktion, wonach eine Person für Familienangehörige, die in einem anderen als dem für die Gewährung von Familienleistungen zuständigen Mitgliedstaat wohnen, Anspruch auf diese Leistungen hat, als ob die Familienangehörigen in diesem Mitgliedstaat wohnen würden, und unter Berücksichtigung des Umstandes, dass Wanderarbeitnehmern die sozialpolitischen Maßnahmen des Aufnahmemitgliedstaats unter den gleichen Bedingungen zugutekommen müssen wie inländischen Arbeitnehmern, da sie mit den Steuern und Sozialabgaben, die sie in diesem Staat aufgrund der dort von ihnen ausgeübten unselbständigen Erwerbstätigkeit entrichten, zur Finanzierung dieser Maßnahmen beitragen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 10. Juli 2019, Aubriet, C-410/18, ECLI:EU:C:2019:582, Rn. 33 und die dort angeführte Rechtsprechung), dürfen die Mitgliedstaaten gemäß dieser Verordnung die Familienleistungen nicht nach Maßgabe des Wohnstaats der Kinder des Begünstigten anpassen.“
(EuGH, Urteil vom 16. Juni 2022 – C-328/20 –, Rn. 43 – 51, juris)
38
Unter Berücksichtigung dieser Ausführungen steht zur Überzeugung der Kammer auch die in Art. 3 Abs. 1 Satz 4 BayFamGG i.V.m. § 102 AVSG getroffene Regelung in Widerspruch zu dem in Art. 67 der VO (EG) normierten Grundsatz der Gleichstellung, denn nur die Familiengeldempfänger, deren Kinder in bestimmten ausländischen Staaten leben, unterliegen dem Mechanismus der Anpassung des Familiengeldes.
39
(1) Soweit der Beklagte die Auffassung vertritt, die zitierte Rechtsprechung des EuGH sei auf das bayerische Familiengeld nicht anwendbar, da es sich beim Bayerischen Familiengeld – anders als bei der österreichischen Familienbeihilfe – nicht um eine Leistung zur Existenzsicherung handle und daher die beiden Leistungen von der Zweckrichtung her nicht vergleichbar seien, überzeugt dies die Kammer nicht.
40
Denn Art. 67 der VO (EG) 883/2004 differenziert nicht zwischen der Zweckrichtung einer Familienleistung, sondern ist vielmehr auf alle Familienleistung im Sinne von Art. 1 Buchst. z der VO (EG) 883/2004 anzuwenden.
41
Abgesehen davon steht den Beziehern des Familiengeldes unabhängig von der in Art. 1 des BayFamGG genannten Zweckbestimmung – als Zweck wird im Übrigen ganz allgemein eine „gesonderte Anerkennung“ der „Erziehungsleistung“ der Eltern angegeben – die Verwendung der Leistung völlig frei. Insbesondere ist die Verwendung des Familiengeldes nicht an bestimmte Maßnahmen oder Leistungen im Zusammenhang mit der Erziehung bzw. frühkindlichen Förderung gebunden. In Anbetracht dessen kann davon ausgegangen werden, dass das Familiengeld regelmäßig – zumindest anteilig – auch für Ausgaben zur Existenzsicherung verwendet wird.
42
(2) Auch soweit der Beklagte die Auffassung vertritt, aus einer unterbliebenen Differenzierung der Leistungshöhe für Inlandssachverhalte könne nicht auf eine mittelbare Diskriminierung geschlossen werden, denn es sei fernliegend, dass die Kosten der frühkindlichen Erziehung und Bildung in Bayern ähnlich auseinanderfielen, wie Lebenshaltungskosten, überzeugt dies im Ergebnis nicht. Nach Auffassung der Kammer besteht z.B. in Bezug auf Kinderbetreuungskosten – vergleicht man nur etwa die Kita-Gebühren – ein begründeter Anhaltspunkt, auch innerhalb Bayerns zu differenzieren. Denn die Höhe der von den Eltern zu zahlenden Kita-Beiträge schwanken innerhalb Bayerns teils erheblich und sind u.a. maßgeblich abhängig von der Höhe der freiwilligen Leistungen der Kommunen. Diese fallen aber bayernweit zum Teil sehr unterschiedlich aus.
43
Insofern ist zur Überzeugung der Kammer auch beim Familiengeld mit der Beschränkung der Indexierung auf Auslandssachverhalte eine mittelbar diskriminierende Wirkung im Sinne des AEUV verbunden, die nicht gerechtfertigt werden kann.
44
(3) Ebenso wenig kann sich der Beklagte darauf berufen, dass es sich beim Familiengeld um eine besondere Leistung handelt, die an das wirtschaftliche und soziale Umfeld der betroffenen Person gebunden ist, weil die Kosten frühkindlicher Förderung und Betreuung typischerweise mit dem wirtschaftlichen und sozialen Umfeld verbunden seien.
45
Zwar hat der EuGH in seinem Urteil vom 27. September 1988, „Lenoir“ (313/86, ECLI:EU:C:1988:452), anerkannt, dass Leistungen, die zur Deckung gewisser durch den Beginn des Schuljahres der Kinder veranlasster Kosten bestimmt sind, eng an das soziale Umfeld und damit auch an den Wohnort der Betroffenen gebunden sind, so dass dieser Wohnort berücksichtigt werden kann. Der EuGH hat jedoch im gleichen Urteil ebenfalls entschieden, dass regelmäßige Geldleistungen, wenn sie „ausschließlich nach Maßgabe der Zahl und gegebenenfalls des Alters der Familienangehörigen“ gewährt werden, „unabhängig vom Wohnort des Empfängers und seiner Familie zahlbar“ bleiben.
46
Zur Überzeugung der Kammer handelt es sich beim Familiengeld gerade nicht um eine besondere Leistung, die an das wirtschaftliche und soziale Umfeld der betroffenen Person gebunden ist. Denn die Verwendung der Mittel steht den Leistungsbeziehern letztlich völlig frei. Das Gesetz beinhaltet gerade keine konkrete Zweckbindung für die Verwendung der Leistungen (z.B. Kita-Gebühren, Leistungen für Elternkurse zur Stärkung der Bindungs- und Erziehungsfähigkeit, Kinderkurse, besondere Gesundheitsfürsorge (zusätzliche Untersuchungen, gesunde, aufwändige Ernährung), sondern stellt lediglich – nicht anders als beim Kindergeld auch – einen Pauschbetrag zur letztlich freien Verwendung zur Verfügung.
47
Soweit der Beklagte vorträgt, Antragsteller müssten versichern, „dass eine förderliche frühkindliche Betreuung erfolgt/erfolgen wird“ folgt daraus nicht, dass tatsächlich eine konkret zweckgebundene Mittelverwendung für bestimmte, etwa die o.g. Maßnahmen erfolgt bzw. erfolgen muss. Nach der in Art. 1 BayFamGG enthaltenen Zweckbestimmung handelt es sich beim Familiengeld ganz allgemein um eine Leistung zur „Anerkennung der Erziehungsleistung“.
48
Vor diesem Hintergrund ist das Familiengeld zur Überzeugung der Kammer als Leistung zu sehen, die im Sinne der o.g. EuGH-Rechtsprechung „ausschließlich nach Maßgabe der Zahl und gegebenenfalls des Alters der Familienangehörigen“ geleistet wird.
49
(4) Zuletzt ist in keiner Weise belegt, dass – wie vom Beklagten vorgetragen – der im Ausland durch die Zwecksetzung des Familiengeldes entstehende Bedarf durch die vorgenommene Indexierung auch tatsächlich gedeckt werden kann. Soweit der Beklagte vorträgt, es werde „durch die Indexierung (…) (in zulässiger typisierender) Betrachtung die (richtig wohl: der) jew. Kostenstruktur des Wohnsitzlandes für spezifischen Aufwand Rechnung getragen“, vermag das Gericht schon nicht erkennen, auf welcher Grundlage der für das jeweilige Wohnsitzland spezifische Aufwand und die Kostenstruktur ermittelt werden, ohne dass dabei – in unzulässiger Weise – die jeweilige Kaufkraft bzw. das jeweilige Preisniveau berücksichtigt wird.
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bb) Zur Überzeugung der Kammer ist die in Art. 3 Abs. 1 Satz 4 BayFamGG i.V.m. § 102 AVSG getroffene Regelung auch mit Art.4 der VO (EG) 883/2004 und Art. 7 Abs. 2 Der VO (EU) 492/2011 sowie Art. 45 Abs. 2 AEUV unvereinbar.
51
Nach Auffassung der Kammer handelt es sich beim Bayerischen Familiengeld sowohl um eine Familienleistung, die dem Gleichbehandlungsgrundsatz nach Art. 4 der VO (EG) Nr. 883/2004 unterliegt, als auch um eine soziale Vergünstigung, die in den Anwendungsbereich von Art. 7 Abs. 2 der VO (EU) Nr. 492/2011 fällt.
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Sowohl Art. 4 der VO (EG) Nr. 883/2004 als auch Art. 7 Abs. 2 der VO (EU) Nr. 492/2011 konkretisieren den in Art. 45 AEUV verankerten Grundsatz der Gleichbehandlung im Bereich der sozialen Sicherheit. Daher sind diese beiden Bestimmungen grundsätzlich in gleicher Weise und im Einklang mit Art. 45 AEUV auszulegen (EuGH, Urteil vom 16. Juni 2022 – C-328/20 –, Rn. 98, juris).
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Eine auf dem Wohnsitz beruhende Unterscheidung, die sich stärker zum Nachteil der Angehörigen anderer Mitgliedstaaten auswirken kann, da Gebietsfremde meist Ausländer sind, stellt nach der Rechtsprechung des EuGH eine mittelbare Ungleichbehandlung aufgrund der Staatsangehörigkeit dar, die nur dann zulässig wäre, wenn sie objektiv gerechtfertigt ist (EuGH, Urteil vom 16. Juni 2022 – C-328/20 –, Rn. 99, juris).
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Im vorliegenden Fall bewirkt die in Art. 3 Abs. 1 Satz 4 BayFamGG i.V.m. § 102 AVSG getroffene Regelung, dass sich die Anspruchshöhe der Familienleistungen nach dem Preisniveau am Wohnort der Kinder ändert. Anpassungen werden daher nur vorgenommen, wenn das Kind nicht in Bayern, sondern im europäischen Ausland wohnt.
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Der EuGH hat insoweit zur österreichischen Familienbeihilfe ausgeführt, dass sich bei einem derartigen Anpassungsmechanismus die unmittelbare Verbindung zum Wohnstaat der Kinder nicht bestreiten lasse (EuGH, Urteil vom 16. Juni 2022 – C-328/20 –, Rn. 100, juris). Dies wirke sich vor allem auf Wanderarbeitnehmer aus, da insbesondere deren Kinder häufiger in einem anderen Mitgliedstaat wohnen könnten (EuGH, Urteil vom 16. Juni 2022 – C-328/20 –, Rn. 101, juris).
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Folglich betreffe der Anpassungsmechanismus, nach dem das für die Höhe der Familienleistungen sowie der sozialen und steuerlichen Vergünstigungen maßgebliche Kriterium der Auslandswohnsitz der Kinder ist, Wanderarbeitnehmer stärker. Er stelle daher eine mittelbare Diskriminierung aufgrund der Staatsangehörigkeit dar, die nur zulässig sei, wenn sie objektiv gerechtfertigt sei (EuGH, Urteil vom 16. Juni 2022 – C-328/20 –, Rn. 103, juris).
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Nichts Anderes gilt zur Überzeugung der Kammer in Bezug auf die in Art. 3 Abs. 1 Satz 4 BayFamGG i.V.m. § 102 AVSG enthaltene Regelung.
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Der EuGH hat zwar wiederholt entschieden, dass eine solche mittelbare Diskriminierung dann gerechtfertigt ist, wenn sie geeignet ist, die Verwirklichung eines legitimen Ziels zu gewährleisten, und nicht über das hinausgeht, was zur Erreichung dieses Ziels erforderlich ist (Urteil vom 2. April 2020, Caisse pour l´avenir des enfants [Kind des Ehegatten eines Grenzgängers], C-802/18, ECLI:EU:C:2020:269, Rn. 58 und die dort angeführte Rechtsprechung).
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Eine Rechtfertigung ist für die Kammer vorliegend jedoch nicht erkennbar.
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Soweit der Beklagte vorgetragen hat, solange der im Ausland entsprechend der Zwecksetzung des Familiengeldes entstehende Bedarf gedeckt werde, bestehe auch keine rechtswidrige Ungleichbehandlung, verfängt dies nicht. Denn das Familiengeld wird pauschal gewährt und richtet sich in der Höhe nach der Zahl der Kinder, nicht aber nach konkreten Bedürfnissen oder Aufwendungen. Zudem unterliegen in Bayern lebende Kinder keinem Anpassungsmechanismus, obwohl auch innerhalb Bayerns, z.B. in Bezug auf die Kosten für Kinderbetreuung, zum Teil erhebliche Preisschwankungen existieren (s.o. Buchst. aa) (2)).
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c) Die Unvereinbarkeit der in Art. 3 Abs. 1 Satz 4 BayFamGG i.V.m. § 102 AVSG getroffenen Regelung mit Unionsrecht wirkt sich wie folgt aus:
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Unmittelbar wirkendes Gemeinschaftsrecht gilt gegenüber kollidierendem mitgliedstaatlichem Recht zwar nicht vorrangig (Geltungsvorrang). Das nationale Recht bleibt in solchen Fällen aber unanwendbar. Gerichte und Verwaltungsbehörden haben zu prüfen, ob nationales mit Unionsrecht vereinbar ist, und dürfen entgegenstehendes nationales Recht ggf. nicht anwenden (Kruis, Der Anwendungsvorrang des EU-Rechts in Theorie und Praxis, 2013, S. 167).
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Das Gericht hat demnach eigenständig die Vereinbarkeit von Art. 3 Abs. 1 Satz 4 BayFamGG, § 102 AVSG mit der nach Art. 288 Abs. 2 AEUV unmittelbar wirkenden Bestimmung des Art. 67 VO Nr. 883/2004 zu prüfen, eine Kollisionsentscheidung zu treffen und, da die Indexierungsvorschriften sich nicht gemeinschaftsrechtskonform auslegen lassen, entgegen bayerischem Recht volles Familiengeld zu bewilligen (vgl. Dau, jurisPR-SozR 14/2022 Anm. 4).
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Nach alledem war der Klage stattzugeben.
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Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.