Inhalt

LG Nürnberg-Fürth, Beschluss v. 10.08.2023 – 12 KLs 572 Js 178731/17
Titel:

Keine Hochrechnung des Schadens auf die gesamte Abrechnung wegen einzelner Luftpositionen von Hebammenabrechnungen 

Normenketten:
StGB § 263
VVH § 6, § 7, § 11
GZVJu § 55d
Leitsätze:
Die Heranziehung der streng formalen Betrachtungsweise des Sozialrechts führt im Strafrecht nicht dazu, dass auch die Beweislastregeln des Sozialrechts (hier: Folgen des Wegfalls der Garantiefunktion einer Abrechnung) ins Strafrecht übertragen werden könnten. (Rn. 4 – 13)
Besteht der Tatvorwurf darin, dass eine Hebamme einzelne Leistungen tatsächlich nicht erbracht hat, bemisst sich die Schadenshöhe nur anhand dieser Luftpositionen, und nicht anhand der Höhe sämtlicher gleichzeitig mit den Luftpositionen abgerechneter Leistungen (Abgrenzung zu BGH BeckRS 1989, 3787. (Rn. 4 – 12) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Betrug, ärztliche Abrechnung, Hebamme, Sozialrecht, Schadenshöhe, Garantiefunktion der Abrechnung
Fundstelle:
BeckRS 2023, 20308

Tenor

1. Die Anklage der Staatsanwaltschaft München I vom 3. November 2022 (Az.: 572 Js 178731/17) wird zur Hauptverhandlung zugelassen.
2. Auf Antrag der Staatsanwaltschaft München I wird gegen die Angeklagte das Hauptverfahren vor dem Landgericht Nürnberg-Fürth – 12. Strafkammer – eröffnet (§§ 203, 207 StPO).
3. Von der Verfolgung der 2.204 Fälle der jeweils mit dem Betrug tateinheitlich begangenen Urkundenfälschung wird gem. § 154a Abs. 2 StPO vorläufig abgesehen.
4. In der Hauptverhandlung ist die 12. Strafkammer mit zwei Richtern einschließlich des Vorsitzenden und zwei Schöffen besetzt.

Gründe

I.
1
Gegenstand der Anklage sind mutmaßliche Abrechnungsbetrügereien der Angeklagten, einer Hebamme, gegenüber verschiedenen gesetzlichen Krankenkassen. So soll die Angeklagte zwischen Januar 2014 und April 2019 in 2.204 Fällen gegenüber verschiedenen Krankenkassen nicht erbrachte Leistungen abgerechnet und sie so im Umfang von 2.600.368,95 € geschädigt haben. In jedem einzelnen Fall des Betrugs soll sie jeweils zugleich zur Täuschung im Rechtsverkehr unechte Urkunden gebraucht haben.
2
Die Kammer ist nach § 55d Abs. 1 Satz 1 der Verordnung über gerichtliche Zuständigkeiten im Bereich des Staatsministeriums der Justiz (GZVJu) für die Entscheidung über die Verfahrenseröffnung zuständig, weil Gegenstand der Anklage Vermögensstraftaten der Angehörigen eines Heilberufs sind, der für die Berufsausübung oder die Führung der Berufsbezeichnung eine staatlich geregelte Ausbildung erfordert (vgl. § 2 Abs. 1 Nr. 1, §§ 5 ff. HebG a.F.), und diese Straftaten im unmittelbaren Zusammenhang mit der Erbringung oder Abrechnung heilberuflicher Leistungen stehen. Hier ist die Anklage am 29. Juni 2021 zunächst beim seinerzeit örtlich zuständigen Landgericht Landshut erhoben worden, jedoch kam es dort in der Folgezeit zu keiner Eröffnung des Hauptverfahrens. Gemäß § 61 Abs. 3 GZVJu ist die landesweite erstinstanzliche Zuständigkeit für Vermögens- und Korruptionsstrafsachen im Gesundheitswesen für noch nicht eröffnete Verfahren am 1. Oktober 2022 auf das Landgericht Nürnberg-Fürth übergegangen, sodass das Landgericht Landshut am 10. Oktober 2022 seine Unzuständigkeit erklärt und die Staatsanwaltschaft München I daraufhin die Anklage zur Kammer erhoben hat.
II.
3
Die Kammer sieht von der Verfolgung der 2.204 Fälle der gewerbsmäßigen Urkundenfälschung (§ 267 Abs. 1, 3 Nr. 1 StGB) mit Zustimmung der Staatsanwaltschaft gemäß § 154a Abs. 2 StPO ab (§ 207 Abs. 2 Nr. 4 StPO), weil eine Verurteilung insoweit unwahrscheinlich ist und im Verurteilungsfall auch nicht ins Gewicht fiele. Die Angeklagte soll bei jedem Betrug zugleich auch eine gefälschte Urkunde vorgelegt haben. Hierbei habe sie nämlich jeweils Versichertenbestätigungen eingereicht, die von den jeweiligen Versicherten vorab – vor Leistungserbringung – blanko unterschrieben worden sein sollen. Dazu wurden im Rahmen der Ermittlungen bei der Angeklagten zahlreiche unterschriebene, im Übrigen aber noch nicht ausgefüllte Versichertenbestätigungen aufgefunden. Das begründet einen starken Verdacht, dass die Angeklagte sich auch früher die Versichertenbestätigungen jedenfalls zum Teil vorab blanko unterschreiben ließ. Unklar ist aber, in welchen konkreten Fällen dies so passiert sein kann. Zutreffend weist der polizeiliche Schlussbericht darauf hin, dass der Fund der blanko ausgefüllten Formulare für die bei den Kassen bereits abgerechneten Fälle – und um die geht es hier – letztlich irrelevant ist. Denn bei diesen wurden stets vollständig ausgefüllte Bestätigungen eingereicht, bei denen aus der Urkunde selbst nicht ersichtlich ist, ob die Unterschrift vor oder nach der jeweiligen Leistung erfolgte. Eine Befragung der rund 1.200 Versicherten dazu fand nicht statt. Zudem ist auch unklar, ob die besonderen Voraussetzungen einer Blankettfälschung (dazu BGH, Urteil vom 4. Februar 1954 – 4 StR 445/53, NJW 1954, 608 f.; OLG Karlsruhe, Urteil vom 23. Januar 2017 – 2 (4) Ss 401/1, juris Rn. 12) in jedem einzelnen Fall vorlagen.
III.
4
Der Kammer hält es für angeraten, auf ihre von der Anklage abweichende Beurteilung der Schadenshöhe hinzuweisen. § 207 Abs. 2 Nr. 3 StPO ist entsprechend anwendbar, wenn das Gericht ohne Änderung der rechtlichen Würdigung eine wesentliche Veränderung des Schuldumfangs annimmt (Stuckenberg in Löwe/Rosenberg, StPO, 27. Aufl., § 207 Rn. 17). Das ist der Fall, weil die Kammer den strafrechtlich relevanten Schaden vorläufig nicht bei 2.600.368,95 €, sondern bei 332.467,20 € ansetzt.
5
1. Die Anklage unterscheidet hinsichtlich der durch die Angeklagte mutmaßlich herbeigeführten Tatfolgen zwischen einem „Schaden“ und einem „Formalschaden“. Den Formalschaden, den sie als strafrechtlich maßgeblich erachtet, beziffert sie auf insgesamt 2.600.368,95 €. Das entspricht dem, was von den Krankenkassen im Rahmen der 2.204 Abrechnungen insgesamt an die Angeklagte ausgezahlt wurde – für erbrachte und für nicht erbrachte Leistungen. Demgegenüber beschränkt sich der Schaden auf 332.467,20 €. Das ist die Summe der Vergütungen allein für die mutmaßlich nicht erbrachten Leistungen.
6
a) Ausgangspunkt für die Behauptung des Formalschadens in genannter Höhe ist die These, die Angeklagte habe sich die Versichertenbestätigungen in allen Fällen durch die Versicherten vorab blanko unterschreiben lassen. Die These trifft prinzipiell den rechtlich maßgeblichen Punkt, weil die Hebamme, die am Abrechnungssystem der Krankenkassen teilnimmt, bei den Abrechnungen stillschweigend erklärt, dass sie bestehende sozial-rechtliche Erstattungsansprüche unter Einhaltung der abrechnungsrechtlichen Maßgaben geltend macht (vgl. BGH, Urteil vom 19. August 2020 – 5 StR 558/19, juris Rn. 60 m.w.N.) und die Abrechnung unter Vorlage von vorab blanko unterschriebenen Bestätigungsformularen, die materiell gerade nichts bestätigen, den abrechnungsrechtlichen Maßgaben widerspricht. Gemäß § 7 Abs. 1 Satz 1 Hebammen-Vergütungsvereinbarung (Anlage 1.1 zum Vertrag über die Versorgung mit Hebammenhilfe nach § 134a SGB V [VVH]) sind die auf der Grundlage der Vergütungsvereinbarung erbrachten Leistungen unverzüglich von der Versicherten durch Unterschrift zu bestätigen. Diese Versichertenbestätigung ist nach § 11 Abs. 4 VVH Voraussetzung für die Vergütung der erbrachten Leistungen der Hebamme. Fehlt sie aus besonderen Gründen, und sind nicht die in § 7 Abs. 4 Hebammen-Vergütungsvereinbarung genannten Positionen betroffen, muss die Hebamme dieses Fehlen gesondert begründen (§ 7 Abs. 3). Das wird durch § 3 Abrechnung von Hebammenleistungen (Anlage 2 zum VVH) ergänzt, in dem die Versichertenbestätigung zu den rechnungsbegründenden Unterlagen gemäß der Richtlinie nach § 301a SGB V gezählt wird. Nicht ordnungsgemäße Angaben auf diesen Unterlagen führen zur Beanstandung der Rechnung durch die Krankenkasse und damit zur Nichtzahlung (vgl. § 3 Satz 4, § 5 Abs. 1 Abrechnung von Hebammenleistungen).
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b) Nach dem oben zu II Ausgeführten sieht die Kammer aber keinen belastbaren Beleg dafür, dass und bejahendenfalls bei welchen Abrechnungen die Unterschriften erst nach der Leistungserbringung auf dem Bestätigungsformular angebracht wurden – sie mithin eine Leistung quittierten – und in welchen Fällen dies vorab blanko erfolgte. Dieser Bewertung scheint auch die Staatsanwaltschaft aufgeschlossen gegenüberzustehen, wie ihre Zustimmung zu der Teileinstellung nach § 154a Abs. 2 StPO andeuten könnte. Damit kann der Schaden im vollen Umfang der jeweiligen Abrechnung (derzeit und absehbar) nicht angenommen werden.
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2. Der Hinweis auf die streng formale Betrachtungsweise des Sozialrechts führt zu keinem anderen Ergebnis.
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a) Nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts ist bei einer vertragsärztlichen Abrechnung die quartalsweise Abrechnungs-Sammelerklärung als Ganzes bereits dann unrichtig, wenn nur ein mit ihr erfasster Behandlungsausweis eine unrichtige Angabe über erbrachte Leistungen enthält. Damit genügt es für die Kassenärztliche Vereinigung (KV), dem Arzt als Voraussetzung der Rechtswidrigkeit des Honorarbescheides nur eine unrichtige Abrechnung pro Quartal nachzuweisen. Sie muss nicht in allen Behandlungsfällen, in denen sie unrichtige Abrechnungen vermutet, den Nachweis der Unrichtigkeit führen. Im Ergebnis liegt somit das Honorar-Risiko auf der Seite des Arztes, der in seiner Honorarabrechnung unrichtige Angaben gemacht hat (BSG, Urteil vom 17. September 1997 – 6 RKa 86/95, juris Rn. 21).
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Der Wegfall der Garantiefunktion der Abrechnungs-Sammelerklärung bei Vorliegen schon einer einzelnen grob fahrlässig falschen Angabe auf einem Behandlungsausweis führt aber nicht dazu, dass dem Arzt überhaupt kein Anspruch auf Vergütung für die in dem Quartal erbrachten Leistungen zusteht. Soweit davon auszugehen ist, dass Leistungen tatsächlich und ordnungsgemäß erbracht wurden, hat die KV nach Aufhebung des unrichtigen Honorarbescheides das dem Vertragsarzt für diese Leistungen zustehende Honorar neu festzusetzen. Bei der Neufestsetzung hat sie allerdings ein weites Schätzermessen (BSG, aaO, juris Rn. 23).
11
Diese Beweislastverteilung bei der vertragsärztlichen Abrechnung dürfte sozialrechtlich auf die von der Angeklagten vorgelegten Abrechnungen übertragbar sein. Der Annahme der Garantiefunktion der Abrechnungserklärung des Vertragsarztes liegt dessen Bestätigung zugrunde, wonach die Leistungen persönlich erbracht worden sind und die Abrechnung sachlich richtig ist (vgl. § 45 Abs. 1 BMV-Ä; dazu Wodarz/Teubner, medstra 2021, 74, 79 f.). Eine entsprechende Erklärung findet sich zwar in der Abrechnung einer Hebamme nicht. Dort wird das Äquivalent der Garantie aber durch die Vorlage der Versichertenbestätigungen begründet, in denen die jeweiligen Versicherten die bei ihnen durch die Hebamme persönlich (vgl. § 6 Abs. 1 Satz 1 VVH) erbrachten Leistungen quittieren (sollen). Hiervon ausgehend könnte man – in einem ersten Schritt – wegen der von der Angeklagten teils im Ermittlungsverfahren eingeräumten Unrichtigkeiten ihrer Abrechnungen und wegen der Belege für eine umfängliche Praxis der Blankounterschriften die komplette Rechnungssumme, also die rund 2,6 Mio. €, in Zweifel ziehen. Das ist, soweit die Kammer das sieht, wohl auch der Standpunkt der AOK Bayern, die federführend für sich und die anderen beteiligten Kassen die Angeklagte sozialrechtlich auf volle Rückzahlung in Anspruch nimmt und sämtlichen Leistungen die Abrechenbarkeit abspricht.
12
b) Bei der strafrechtlichen Beurteilung ist dieser Weg indes nicht gangbar. Die Behauptung, eine Abrechnung sei komplett als betrügerisch zu werten, lässt sich beim Abrechnungsbetrug – von Fällen umfassender Abrechnung von Luftleistungen abgesehen – in der Regel dann aufstellen, wenn ein alle Abrechnungsposten umfassender (Formal) Mangel vorliegt: Das kann etwa der Fall sein, wenn Leistungen eines Arztes ohne Kassenzulassung über einen Strohmann abgerechnet wurden (BGH, Urteil vom 5. Dezember 2002 – 3 StR 161/02, juris Rn. 28 f.); wenn Pflegeleistungen vollständig durch Mitarbeiter erbracht wurden, die nicht über die mit der Kranken- und Pflegekasse vertraglich vereinbarte Qualifikation verfügten (BGH, Beschluss vom 16. Juni 2014 – 4 StR 21/14, juris Rn. 18 ff.; Beschluss vom 20. Oktober 2021 – 1 StR 375/21, juris Rn. 8 ff.); wenn in einem MVZ, an dem sich unzulässigerweise ein Apotheker beteiligt hat, ärztliche Leistungen erbracht wurden (BGH, Urteil vom 19. August 2020 – 5 StR 558/19, juris Rn. 21 ff.), oder bei Abrechnung von Leistungen nur scheinbar freiberuflicher Ärzte mit erschlichener Kassenzulassung, die tatsächlich angestellt waren (OLG Koblenz, Beschluss vom 2. März 2000 – 2 Ws 92-94/00, juris).
13
Derlei ist hier aber nicht der Fall. Die Anklage behauptet vielmehr lediglich die Vielzahl einzelner, zu Unrecht abgerechneter Positionen in vielen Rechnungen. Daraus folgt nicht, nicht nur diese einzelnen Posten, sondern die vollen Rechnungsbeträge seien als Betrugsschaden zu werten. Die Abrechenbarkeit der ordnungsgemäß erbrachten Positionen wird – strafrechtlich betrachtet – durch das mutmaßliche Vorhandensein abgrenzbarer Luftpositionen nicht infrage gestellt. Dafür gibt die strafrechtliche Judikatur auch nichts her, im Gegenteil: Die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs zur Möglichkeit einer Schadenshochrechnung (BGH, Urteil vom 14. Dezember 1989 – 4 StR 419/89, juris Rn. 8 ff.; dazu auch Schmidt, medstra 2017, 79) ist nur verständlich, weil man nach dem Auffinden abgrenzbarer Abrechnungsfehler die gesamte Abrechnung eben (noch) nicht mit dem Betrugsschaden gleichsetzen kann.
IV.
14
Im Einklang mit dem Antrag der Staatsanwaltschaft war die Sache nicht vor der erkennenden Kammer als Wirtschaftsstrafkammer, sondern vor ihr als allgemeiner Strafkammer zu eröffnen. Im Kern geht es in der Anklage lediglich darum, ob die Angeklagte in den ihr vorgeworfenen Fällen die abgerechneten Leistungen erbracht hat oder nicht. Besonderer Kenntnisse des Wirtschaftslebens (§ 74c Abs. 1 Satz 1 Nr. 6 Buchstabe a GVG) bedarf es insoweit nicht. Die 12. Strafkammer ist unabhängig davon, ob sie als Wirtschaftsstrafkammer oder als allgemeine Strafkammer verhandelt, geschäftsplanmäßig für Anklagen zuständig, die auf der Grundlage des § 55d GZVJu erhoben wurden.