Titel:
Außenbereich, Erweiterung eines Wohngebäudes, Angemessenheit
Normenketten:
BauGB § 35 Abs. 4 S. 1 Nr. 5
WoBauG § 39
BayWoFG Art. 12
Schlagworte:
Außenbereich, Erweiterung eines Wohngebäudes, Angemessenheit
Fundstelle:
BeckRS 2023, 20293
Tenor
I.Der Bescheid vom 20. Februar 2019 wird aufgehoben.
II.Der Beklagte wird verpflichtet, der Klägerin die beantragte Tekturgenehmigung zu BG-********* („Wegfall der mittleren Südgaube und Ersatz dafür Loggia“) zu erteilen.
III.Der Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens. Die Beigeladene trägt ihre außergerichtlichen Kosten selbst.
IV.Die Kostenentscheidung ist gegen Sicherheitsleistung in Höhe des zu vollstreckenden Betrags vorläufig vollstreck-bar.
Tatbestand
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Die Klägerin begehrt die Erteilung einer Tekturgenehmigung für eine bereits im Wesentlichen errichtete Loggia anstatt einer Dachgaube sowie die Aufhebung der mit Bescheid des Landratsamts Rosenheim vom 20.02.2019 verfügten Rückbauanordnung bezüglich der Loggia.
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Die Klägerin ist Eigentümerin des Grundstücks Fl.Nr. 2315/3, Gemarkung … (Vorhabengrundstück), welches im Außenbereich gelegen und im Flächennutzungsplan als landwirtschaftliche Fläche dargestellt ist. Auf diesem Grundstück sowie den angrenzenden Grundstücken FlNrn. 2315, 2315/1 und 2351/2 Gem. … befindet sich eine aufgegebene landwirtschaftliche Hofstelle. Auf dem Vorhabengrundstück und den östlich angrenzenden Grundstücken FlNrn. 2315 und 2315/1 steht das einstige Hauptgebäude der Hofstelle mit ehemaligem Rinderstall und Betriebsleiterwohnung. Mit Bescheid vom 1. Oktober 1975 erteilte der Beklagte die Baugenehmigung für den „Ausbau einer Wohnung im ehemals landwirtschaftlich genutzten Gebäudeteil des Anwesens“ im 1. Obergeschoss, das seither von den Eltern der Klägerin bewohnt wird. Die ehemalige Betriebsleiterwohnung im östlichen Teil des Erdgeschosses und 1. Obergeschosses war nach Auskunft der Klägerin bis ca. 2012 von deren Großmutter bewohnt. Am 3. September 2012 genehmigte der Beklagte die „Umwidmung des alten Gebäudeteils in Garagen und Holz- und Obstlagerraum“.
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Unter dem 21. Oktober 2015 beantragte die Klägerin die Erteilung einer Baugenehmigung für die „Erweiterung des bestehenden Wohnraumes durch Ausbau des bestehenden Dachgeschosses“ zu ihrer eigenen Nutzung. Zunächst war vorgesehen, auf der Südseite einen Quergiebel mit Gaube und Balkon zu errichten. Da der Beklagte dies nicht als genehmigungsfähig ansah, wurde die Planung dahingehend geändert, dass auf der Südseite lediglich drei kleinere Dachgauben errichtet werden. Mit Bescheid vom 31. Mai 2016 wurde dieses Bauvorhaben bauaufsichtlich genehmigt.
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Am 22. Februar 2018 stellte das Bauamt des Landratsamts Rosenheim bei einer Baukontrolle fest, dass an der Südseite des Gebäudes die mittlere Dachgaube nicht errichtet worden war. Vielmehr wurde ein Dacheinschnitt von ca. 4,20 m Breite und einer Länge, gemessen in der Dachneigung, von ca. 3,80 m vorgenommen. Der Bau wurde bestandskräftig eingestellt.
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Dies veranlasste die Klägerin dazu, unter dem 1. Oktober 2018 den streitgegenständlichen Antrag auf Erteilung einer Tekturgenehmigung für die Errichtung einer Loggia als Ersatz für die mittlere Dachgaube auf der Südseite zu stellen. Hierzu verweigerte die Beigeladene mit Beschluss vom 23. Oktober 2018 ihr Einvernehmen, weil der Dacheinschnitt die äußere Gestalt des Gebäudes deutlich verändere und auch vom Landratsamt eine nachträgliche Genehmigung dafür nicht in Aussicht gestellt werde.
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Nach Anhörung der Klägerin lehnte der Beklagte mit streitgegenständlichem Bescheid vom 20. Februar 2019 den Antrag auf Erteilung einer Tekturgenehmigung ab (Nr. 1) und verpflichtete die Klägerin, den bereits erfolgten Dacheinschnitt binnen 3 Monaten nach Unanfechtbarkeit des Bescheids vollständig zurückzubauen und die genehmigte Dachgaube gem. Baugenehmigung vom 31. Mai 2016 auszuführen oder die Traufe zu schließen (Nr. 2). Das Vorhaben sei als sogenanntes sonstiges Vorhaben nach § 35 Abs. 2 BauGB zu beurteilen und beeinträchtige öffentliche Belange. Zum einen werde das Landschaftsbild durch den Dacheinschnitt mit Balkon stark beeinträchtigt und sei nicht außenbereichsverträglich. Der Dacheinschnitt mit Balkon verändere die äußere Gestalt des Gebäudes zu massiv und wirke wesensfremd. Zum anderen würde ein rechtserheblicher Bezugsfall entstehen. Nr. 2 des Bescheids stütze sich auf Art. 76 S. 1 BayBO. Das Vorhaben sei nicht genehmigungsfähig. Auch sei die Rückbauanordnung das einzige Mittel, um rechtmäßige Zustände wiederherzustellen und insbesondere auch verhältnismäßig.
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Mit Schriftsatz vom … März 2019, eingegangen beim Verwaltungsgericht München am 20. März 2019, ließ die Klägerin durch ihre Bevollmächtigte Klage erheben und beantragen,
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1. Der Bescheid des Landratsamts Rosenheim vom 20. Februar 2019, BG- …, wird aufgehoben.
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2. Der Beklagte wird verpflichtet, die am 1. Oktober 2018 beantragte Tektur zur Erteilung eines Bescheides für die Loggia als Ersatz für die mittlere Südgaube sowie auf Erweiterung des bestehenden Wohnraums durch Ausbau des bestehenden Dachgeschosses auf dem Grundstück Flur-Nr. 2315/3 der Gemarkung … zu erteilen.
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Es handle sich um die Erweiterung eines Wohngebäudes nach § 35 Abs. 4 Satz 1 Nr. 5 BauGB. Die landwirtschaftliche Nutzung sei bereits in den 1970er Jahren aufgegeben worden, in der Folge habe der Beklagte mit Bescheid vom 1. Oktober 1975 den Ausbau einer Wohnung im ehemals landwirtschaftlich genutzten Gebäudeteil des Anwesens im 1. Obergeschoss, seither Wohnung der Eltern der Klägerin, genehmigt. Die Erweiterung sei unter Berücksichtigung der Wohnbedürfnisse und im Verhältnis zum vorhandenen Bestandsgebäude angemessen, zumal die Klägerin dringend Wohnraum benötige. Die Gaubenlösung führe dazu, dass das Gebäude im Winter verdunkelt sei. Die Dachneigung sei so extrem, dass der Boden auf Knien geputzt werden müsse. Die Loggia, die nicht überdacht werden solle, sei der einzige Raum, bei dem eine KfW-Standarddämmung eingebaut werden könne. Im Übrigen gebe es keine Fensterbretter, die Tochter der Klägerin könne ohne Loggia und den Dacheinschnitt nicht vom Wohnungsinneren nach außen schauen. Hilfsweise sei das Vorhaben nach § 35 Abs. 2 BauGB zulässig. Zumindest sei die Beseitigungsanordnung im Hinblick auf zahlreiche Bezugsfälle unverhältnismäßig. Die Klägerin als alleinerziehende Mutter bewohne das Dachgeschoss mit ihrem Kind, nachdem sie nach Eigenbedarfskündigung ihrer vorherigen Wohnung keinen bezahlbaren Wohnraum anderweitig habe finden können. Die Klägerin erinnere auch an die Sonderregelung in § 4 Abs. 1 BauGB-MaßnahmenG. Mit § 20 BauNVO habe der Gesetzgeber das gewichtige öffentliche Interesse an Dachgeschossausbauten zu Wohnzwecken zu erkennen gegeben. Der Rückbau bedeute für die Klägerin eine unzumutbare Härte.
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Der Beklagte beantragt,
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Die Anwendung von § 35 Abs. 4 Satz 1 Nr. 5 BauGB sei schon zweifelhaft, weil der alte Wohnteil trotz der Umnutzungsgenehmigung von 2012 noch Aufenthaltsraumqualität aufweise. Der Ausbau der Wohnraumerweiterung sei zudem unangemessen, weil die Steigerung 25% überschreite.
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Die Beigeladene stellte keinen Antrag, nahm jedoch kurz in der Sache Stellung.
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Wegen weiterer Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Gerichtsakte sowie die vorgelegten Behördenakten verwiesen.
Entscheidungsgründe
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1. Die in zulässiger Klagenhäufung gemäß § 44 VwGO erhobenen Klagen sind zulässig und begründet. Durch die Ablehnung ihres Tekturantrags und die ihr gegenüber erlassene Beseitigungsanordnung, jeweils mit Bescheid des Beklagten vom 20. Februar 2019, ist die Klägerin in ihren subjektiv-öffentlichen Rechten verletzt, es steht ihr ein Anspruch auf Erteilung der Tekturgenehmigung zu, § 113 Abs. 1 Satz 1, Abs. 5 Satz 1 VwGO.
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Gemäß Art. 68 Abs. 1 Satz 1 BayBO ist die Baugenehmigung zu erteilen, wenn dem Bauvorhaben keine öffentlich-rechtlichen Vorschriften entgegenstehen, die im bauaufsichtlichen Verfahren, vorliegend dem vereinfachten Verfahren gemäß Art. 59 BayBO, zu prüfen sind. Danach hat die Klägerin einen Anspruch auf Erteilung der Tekturgenehmigung, weil das Vorhaben zu prüfenden Vorschriften, namentlich bauplanungsrechtlichen Vorschriften, nicht entgegensteht.
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1.1 Zwar ist das Bauvorhaben nicht, wie ursprünglich zwischen den Beteiligten diskutiert, als Nutzungsänderung im Sinne von § 35 Abs. 4 Satz 1 Nr. 1 BauGB teilprivilegiert. Dies scheidet schon deswegen aus, weil, wie sich aus der von der Klägerin in der mündlichen Verhandlung vorgelegten Baugenehmigung vom 1. Oktober 1975 ergibt, dass spätestens mit der Baugenehmigung vom 1. Oktober 1975 die landwirtschaftliche Nutzung aufgegeben worden ist. Die Aufgabe der bisherigen Nutzung liegt also entgegen § 35 Abs. 4 Satz 1 Nr. 1 Buchst. c) BauGB mehr als sieben Jahre zurück.
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1.2 Die Teilprivilegierung ergibt sich indes aus § 35 Abs. 4 Satz 1 Nr. 5 BauGB, der die Erweiterung eines Wohngebäudes auf bis zu höchstens zwei Wohnungen unter folgenden, kumulativen Voraussetzungen betrifft: das Gebäude ist zulässigerweise errichtet worden (§ 35 Abs. 4 Satz 1 Nr. 5 Buchst. a) BauGB), die Erweiterung ist im Verhältnis zum vorhandenen Gebäude und unter Berücksichtigung der Wohnbedürfnisse angemessen (§ 35 Abs. 4 Satz 1 Nr. 5 Buchst. b) BauGB) und bei der Errichtung einer weiteren Wohnung rechtfertigen Tatsachen die Annahme, dass das Gebäude vom bisherigen Eigentümer oder seiner Familie selbst genutzt wird (§ 35 Abs. 4 Satz 1 Nr. 5 Buchst. c) BauGB).
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§ 35 Abs. 4 Satz 1 Nr. 5 BauGB, der unter den o.g. Voraussetzungen die Erweiterung eines Wohngebäudes auf bis zu zwei Wohnungen teilprivilegiert, ist vorliegend anwendbar. Bei dem Vorhaben handelt es sich um die zweite Wohnung in dem vorhandenen Wohngebäude. Zwar wurde im Jahr 1975 neben der ehemaligen Betriebsleiterwohnung eine zweite Wohnung baurechtlich genehmigt. In der Folge wurde jedoch die ehemalige Betriebsleiterwohnung auf Grundlage der vom Beklagten im Jahr 2012 erteilten Baugenehmigung umgenutzt. Es handelt sich dabei daher nicht mehr um eine Wohnung. Dass die Räumlichkeiten möglicherweise Aufenthaltsraumqualität aufweisen, ändert hieran nichts. Die bestehende Wohnung im 1. Obergeschoss wird von den Eltern der Klägerin, also von deren Familie (zum Begriff „Haushaltsangehörige“ siehe § 18 Wohnraumförderungsgesetz) bewohnt.
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Die streitgegenständliche Wohnung wird von der Klägerin selbst mit ihrem Kind bewohnt. Die Erweiterung ist zudem im Verhältnis zum vorhandenen Gebäude und unter Berücksichtigung der Wohnbedürfnisse angemessen. Das große Bestandsgebäude wird durch die bereits genehmigten Dachgauben nur minimal erweitert, es findet kein unangemessener „Anbau“ statt. Bei der Beurteilung dessen, was angemessen ist, verbietet sich eine streng formalistisch an Zahlenverhältnissen orientierte Beurteilung (BayVGH, B.v.7.2.2013 – 15 ZB 11.1843 – juris Rn. 9), denn die Angemessenheit knüpft an die individuellen Bedürfnisse des Eigentümers und seiner Familie an (BVerwG, U.v. 23.1.1981 – 4 C 82/77 – juris Rn. 19) . Die Angemessenheit richtet sich dennoch nicht nach der subjektiven Einschätzung des Eigentümers, sondern die Wohnraumförderungsregelungen geben objektive Anhaltspunkte dafür, was als angemessenes Wohnbedürfnis gelten kann (BVerwG, U.v. 23.1.1981 – 4 C 82/77 – juris Rn. 19). Hierbei kann vorliegend dahinstehen, ob zur Orientierung noch auf § 39 des Zweiten Wohnbaugesetzes (II. WoBauG) abzustellen ist, das am 1. Januar 2002 außer Kraft getreten ist, oder auf die derzeit geltende Bestimmung in Art. 12 des Gesetzes über die Wohnraumförderung (BayWoFG). Denn nach beiden Vorschriften ist das Vorhaben angemessen: nach § 39 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 WoBauG sind Familienheime mit zwei Wohnungen mit bis zu 200 qm förderfähig. Vorliegend ergibt sich für die Wohnung im 1. Obergeschoss ausweislich des Eingabeplans zur Tekturgenehmigung eine Wohnfläche von 108,7 qm, für die streitgegenständliche Wohnung eine Wohnfläche von 96,02 qm, also eine Gesamtwohnfläche von 204,72 qm. Dabei liegt die – im Verhältnis zur Gesamtwohnfläche nur geringe – Überschreitung darin begründet, dass das vorhandene Dachgeschoss, begrenzt durch die westlich und östlich anliegenden Brandwände, ausgenutzt wird. In der mit Bescheid vom 31. Mai 2016 genehmigten Ausführung mit drei Dachgauben ergab sich eine geringere Wohnfläche von 90,68 qm. Die Überschreitung des Orientierungswerts von 200 qm Gesamtwohnfläche ist folglich auf die Schaffung der Loggia zurückzuführen, welche dem anzuerkennenden Bedürfnis nach besserer Belichtung geschuldet ist. Auch die Voraussetzungen nach Art. 12 BayWoFG sind eingehalten. Danach muss die Größe des Wohnraums entsprechend seiner Zweckbestimmung angemessen sein, wobei den Besonderheiten bei baulichen Maßnahmen in bestehendem Wohnraum sowie besonderen persönlichen Bedürfnissen des Haushalts, insbesondere von älteren Menschen oder Menschen mit Behinderung, Rechnung zu tragen ist. Diese Anforderungen sind für die geplante Maßnahme – den Ausbau des bestehenden Dachgeschosses – erfüllt. Es ist insbesondere nicht erkennbar, dass die Wohnung mit ihrer konkreten Aufteilung, die stark durch die vorhandenen Dachschrägen bestimmt ist, für die Bewohnung einer kleinen Familie überdimensioniert, also entsprechend ihrer Zweckbestimmung unangemessen ist.
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2. Die Kostenentscheidung folgt § 154 Abs. 1 VwGO, wobei die Beigeladene ihre außergerichtlichen Kosten billigerweise selbst trägt, § 162 Abs. 3 VwGO, weil sie sich mangels eigener Antragstellung auch keinem Kostenrisiko ausgesetzt hat, vgl. § 154 Abs. 3 VwGO.
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3. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit erfolgt gemäß § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. ZPO.