Titel:
Anspruch auf Entscheidung über einen Hilfeplan im einstweiligen Rechtsschutz
Normenketten:
SGB VIII § 27, § 30, § 36
SGB I § 60
VwGO § 123 Abs. 1
Leitsätze:
1. Grundsätzlich unterliegt die Entscheidung über die Erforderlichkeit und Eignung einer bestimmten Hilfemaßnahme nach ständiger verwaltungsgerichtlicher Rechtsprechung einem kooperativen, sozialpädagogischen Entscheidungsprozess unter Mitwirkung des betroffenen Hilfeempfängers und der Fachkräfte des Jugendamtes, welche nicht den Anspruch objektiver Richtigkeit erhebt, sondern nur eine geeignete Lösung zur Bewältigung der festgestellten Belastungssituation enthalten muss, die fachlich vertretbar und nachvollziehbar sein muss (sog. sozialpädagogische Fachlichkeit). Die verwaltungsgerichtliche Überprüfung hat sich in diesem Fall darauf beschränkt, ob allgemeingültige fachliche Maßstäbe beachtet wurden, keine sachfremden Überlegungen eingeflossen und die Leistungsadressaten in umfassender Weise einbezogen wurden. Die Entscheidung über die Eignung und Notwendigkeit einer bestimmten Hilfemaßnahme ist damit gerichtlich nur auf ihre Vertretbarkeit hin überprüfbar. (Rn.49) (redaktioneller Leitsatz)
2. Will ein Betroffener die Verpflichtung des Jugendhilfeträgers zur Durchführung einer bestimmten Hilfemaßnahme im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes erwirken, muss er im Hinblick auf den im Rahmen der sozialpädagogischen Fachlichkeit bestehenden Beurteilungsspielraum des Jugendamts darlegen und glaubhaft machen, dass allein die bisherige Hilfemaßnahme zur Deckung des Hilfebedarfs erforderlich und geeignet ist. (Rn.49) (redaktioneller Leitsatz)
3. Eine Hilfeplanung ist auch ohne Durchführung eines Familienrats möglich und der Jugendhilfeträger hierzu ggf. gesetzlich verpflichtet. (Rn.57) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Einstweiliger Rechtsschutz, Erziehungsbeistand, Hilfeplanverfahren, Mitwirkungspflicht, Familienrat, Hilfeplan, Suizidalität
Fundstelle:
BeckRS 2023, 20292
Tenor
I. Der Antragsgegner wird im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, unverzüglich den tatsächlichen aktuellen Hilfebedarf der Antragsteller im Rahmen eines Hilfeplanverfahrens (§ 36 SGB VIII) unter Berücksichtigung der Rechtsauffassung des Gerichts zu ermitteln und zeitnah über den Hilfeantrag zu entscheiden.
II. Die Kosten des gerichtskostenfreien Verfahrens trägt der Antragsgegner.
Gründe
1
Die Antragsteller begehren im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes die Verpflichtung des Antragsgegners, über ihren Antrag auf Gewährung von Hilfe zur Erziehung in Form von Erziehungsbeistandschaft gemäß §§ 27, 30 SGB VIII zu entscheiden.
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Die Antragsteller sind die gemeinsam sorgeberechtigten Eltern des am … geborenen Kindes L.
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Die Antragstellerin zu 1) wandte sich am 15. November 2022 telefonisch an das Jugendamt des Antragsgegners und teilte laut Aktenvermerk des Antragsgegners mit, sie lebe mit ihrer Familie seit Oktober 2021 im örtlichen Zuständigkeitsbereich des Antragsgegners. Vor dem Umzug der Familie sei das Jugendamt in M. schon befasst gewesen. L. sei seit ca. fünf Wochen in psychiatrischer Behandlung, davon seit vier Wochen teilstationär und seit … vollstationär in der … in M. Auf Anraten der Klinik wende sich die Antragstellerin zu 1) nun an das Jugendamt des Antragsgegners. Der aktuelle Aufenthalt in der Krisenstation sei für zumindest vier Wochen.
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Am … trat die zuständige sozialpädagogische Mitarbeiterin des Antragsgegners mit dem Jugendamt in M. in Kontakt und bat unter Vorlage einer Schweigepflichtentbindung um eine kurze Fallverlaufs- bzw. Bedarfsdarstellung.
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Am selben Tag machte die Mitarbeiterin des Antragsgegners den Antragsstellern Terminvorschläge für ein Erstgespräch.
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Mit E-Mail vom … bedankte sich die Antragstellerin zu 1) für eine wohl zwischenzeitlich erfolgte, in den Akten aber nicht dokumentierte Beratung und bat um Übersendung eines „Antrags auf Familienrat“, um diesen „so schnell wie möglich stellen zu können“. Wohl aufgrund eines IT-Problems konnte kein Antragsformular übersandt werden. Die Mitarbeiterin des Antragsgegners schlug mit E-Mail vom … vor, einen selbstverfassten Antrag auf Familienrat einzureichen oder die Lösung des IT-Problems abzuwarten. Es bestehe keine Eile für die Antragstellung, da noch ein Gespräch mit L. sowie ein Termin in der … stattfinden solle.
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Mit Schreiben vom … beantragten die Antragsteller ambulante Familienhilfe in Form eines Familienrats. Sie führten aus, in den letzten Monaten sei es wiederholt zu massiven Konflikten mit L. gekommen, worunter alle Familienmitglieder leiden würden. Diese Situation bestehe seit ca. zwei Jahren und habe sich massiv verschlechtert, sodass L. sich nun in stationärer Behandlung in der … befinde.
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Am … wurde L. aus der … entlassen. L. und seine Eltern wünschten keine Weiterbehandlung in der Tageklinik. Eine für den … in der … geplante Helferrunde fand aufgrund dessen nicht statt. Von Seiten des Antragsgegners wurde den Antragstellern am 8. Dezember 2022 ein Gespräch ohne Beteiligung der … angeboten mit der Bitte um Vorlage der schriftlichen Empfehlungen der … Die Antragstellerin zu 1) teilte daraufhin mit, sie habe von der Klinik nur einen vorläufigen Brief bekommen und verwies darauf, die Mitarbeiterin des Antragsgegners könne sich an den sozialpädagogischen Fachdienst der … wenden. Ein Gesprächstermin der Beteiligten fand wohl zunächst nicht statt.
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Am … fanden Telefongespräche der pädagogischen Mitarbeiterin des Antragsgegners mit einer Mitarbeiterin des sozialpädagogischen Fachdienstes der … statt. Der Aktenvermerk der Antragsgegnerseite zu den Aussagen der … am … besagt, L. sei hoch gefährdet, auf die schiefe Bahn zu geraten. Er „kompensiere suizidal“, weil er überfordert sei. L. sei freundlich und charmant, gehe vordergründig auf die Angebote des Helfersystems ein. Derzeit befinde er sich in der Phase der sexuellen Identitätsfindung, sei depressiv, mache sich die Regeln selbst und sei respektlos. Die Peer Group sei schwierig (wechselnde Freunde/Mädchen). Antidepressiva würden als hilfreich empfunden. L. brauche viel Struktur. Die Eltern wollten es erstmal zu Hause versuchen, wenn auch zumindest der Vater einer Wohngruppe offen gegenüberstehe. Der Kindsvater habe wenig Bindung (Erziehungsleistung) zu L. Die Eltern pflegten ein eher liberales Erziehungskonzept. L. gehe immer wieder wenig in die Schule – könne die Lehrer gut um den Finger wickeln – schaffe es immer, sich durchzumogeln. Als Empfehlung wurde eine Wohngruppe angegeben, wo L. von festen Strukturen profitieren könne, Regeln und mehr Halt habe. Am … teilte die … laut Aktenvermerk des Antragsgegners weiterhin mit, L. sei eine „Dramaqueen“. Er schaffe sich seine Regeln selbst, so habe er z.B. das Personal angelogen und Besuche vorgetäuscht, um die Klinik verlassen zu können. Er zeige geringe Anstrengungsbereitschaft. Auch die Regeln und Grenzen der Lehrer und Eltern könne er nicht immer akzeptieren und sei lieber „selbstbestimmt“. Die Klinik habe wenig Interesse der Eltern an L.s Bedürfnissen erkennen können. Das Problem sei in der Familie. Noch sei das Bewusstsein, dass auch die Erziehungsleistung der Eltern eine große Rolle spiele, nicht erreicht. Die Klinik denke, dass L. von seinen Eltern mehr wahrgenommen werden wolle und sich derzeit negativ in den Fokus stelle. Die Eltern sollten L. besser im Blick haben.
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Aus einem schulischen Kurzbericht der H.-Schule, die L. während seines Klinikaufenthalts besuchte, vom … geht hervor, L. habe täglich am Unterricht teilgenommen, eine wache Auffassungsgabe gezeigt und sei motiviert gewesen. Seine positive Grundstimmung habe durch emotionale Schwankungen regelmäßige Rückschläge erlitten, die zur stationären Aufnahme geführt hätten. Häufig seien durch seine Gedanken und seine Gefühle sein Lern- und Sozialverhalten eingeschränkt gewesen. Im Kontakt zu seinen Mitschülern sei L. aufmerksam und mitfühlend gewesen. Bisweilen habe es den Anschein gehabt, dass er Aufmerksamkeit habe erzielen wollen. L. wirke insgesamt älter als er sei und wolle auch älter wirken, obwohl seine emotionalen Bedürfnisse in seinem aktuellen Entwicklungsfenster lägen. L. benötige pädagogische und therapeutische Hilfen zur Unterstützung seiner aktuellen Krise. Er benötige im schulischen Bereich einen individuellen Ansprechpartner, der in Kenntnis seiner Situation mit ihm Vereinbarungen treffe, Verhaltensziele benenne und Schonräume beschreibe. L. benötige außerdem kleinschrittige und einfach verbalisierte Arbeitsanweisungen sowie individuelle Lernunterstützung, um weiter Vertrauen in seine Leistungsfähigkeit zu gewinnen und sein intellektuelles Potential zu entwickeln. In Zusammenarbeit mit der Familie, dem Jugendamt und den behandelnden Therapeuten müsse ein tragfähiges Netz für L. entwickelt werden, das ihm helfe, emotionale Stabilität zu entwickeln und seine Sorgen und Ängste zu verringern.
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Am … fand ein persönliches Gespräch zwischen Antragstellern, Antragsgegner und L. statt. Aus dem Aktenvermerk des Antragsgegners hierzu geht hervor, L. wolle sein Verhalten gerne ändern, wisse aber nicht, wie. Die Familie finde, dass L. grundsätzlich ein sehr kommunikativer und hilfsbereiter Mensch sei und viel Liebe zeigen könne. Nach dem Umzug nach O. seien die familiären Probleme zunächst weniger geworden, da jeder einen eigenen Rückzugsort habe. L.s Bewegungsradius sei jedoch größer geworden, da er seine Freunde in M. und die Schule dort besuchen wolle. L. würde gerne insbesondere das nächtliche Verlassen des Hauses, welches ein Symptom seiner psychischen Erkrankung sei, abstellen, da er viel Verständnis für die Sorgen seiner Eltern diesbezüglich habe. L. sei körperlich sehr entwickelt, dennoch sei er 13 Jahre alt und nächtliche Ausflüge seien gefährlich. Der Vater habe erklärt, dass die Familie grundsätzlich Verständnis für die nächtlichen Ausflüge habe. Diese passierten häufig, wenn es L. schlecht gehe, er fliehe dann quasi vor seiner eigenen Psyche. Die Eltern hätten aber natürlich große Ängste, da L. dann allein unterwegs sei. Die Mutter habe angeboten, dass L. sich an sie wenden könne. Dies habe L. abgelehnt, da die Mutter häufig Grund und Auslöser für seine „Flucht“ sei. L. wolle zunächst das Rauchen im Haus und später ganz aufhören. Das Rauchen habe er sich angewöhnt, weil ihm eine Reihe von deutlich älteren Freunden Zigaretten angeboten hätten, als es ihm schlecht gegangen sei. Der Tabakkonsum habe ihn entspannt. Es falle ihm schwer, dies allein zu bewältigen. Die Eltern wünschten sich ebenfalls eine Entwöhnung vom Rauchen, seien aber von der Umsetzung überfordert. Ein weiteres großes Problem, das L. bearbeiten wolle, sei das selbstverletzende Verhalten. Die Eltern wünschten sich hier eine therapeutische Unterstützung. Die Eltern seien auch mit der Ordnung in L.s Zimmer nicht einverstanden. Würde er diese selbständig aufrechterhalten, müsse die Mutter nicht mehr in L.s Zimmer aufräumen. So könne L.s Privatsphäre besser eingehalten werden und es gäbe weniger Konflikte. Schulisch laufe es laut L. aktuell gut. Er komme jedoch häufig zu spät oder breche den Unterricht irgendwann ab. Die Eltern machten sich Sorgen, dass die Schule sich wegen der Fehlzeiten nicht rechtzeitig melden könnte. Die Familienmitglieder seien sich einig, dass die Familie zu wenig positive gemeinsame Erlebnisse im Alltag habe. L. habe im Umkreis der Familienwohnung sehr viel ältere Freunde, es gebe nur eine Freundin gleichen Alters. L. habe alle seine Hobbys vernachlässigt. Die Familie wünsche sich einen Familienrat, um zu besprechen, wie die vielfältigen Wünsche und Problematiken bearbeitet und gelöst werden könnten.
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Eine kollegiale Beratung mehrerer Fachkräfte des Antragsgegners auf der Grundlage der Inhalte des Gesprächs vom … ergab am … als Lösungsvorschlag: „Familienrat zur ambulanten Unterstützung, Anbindung an Therapeuten“.
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Ab einem aus den Akten nicht erkennbaren Datum lagen dem Antragsgegner Teile eines Berichts der … an das Jugendamt M. über einen Berichtszeitraum ab … vor, aus dem sich schließen lässt, dass ein sozialpädagogisches Clearing durch das Kriseninterventionsteam (KIT) stattgefunden habe. Es werden weitere Ausführungen zu den familiären Problemen gemacht und zum Betreuungsverlauf angegeben, dass nach und nach habe aufgearbeitet werden können, welche Faktoren jeweils zu den heftigen Familienkonflikten führten. L.s seelische und emotionale Entwicklung sei nicht im selben Tempo vorangeschritten wie seine körperliche, so dass er von den eigenen starken Emotionen überfordert wirke. Nach außen gebe er sich „cool“, sei aber auch deutlich ambivalent, könne nicht alle Konsequenzen seines Verhaltens voraussehen und suche klare Orientierung. Den Eltern sei eine liberale Erziehung ebenso wichtig wie ein behütetes Zuhause für ihre Kinder. Dieses Konzept habe nun plötzlich bei L. nicht mehr gegriffen, was die Eltern zwischenzeitlich überfordert habe. Aus Sicht der Eltern fehle L. das Rüstzeug, sich von den älteren Peers abzugrenzen. Dies habe auch zu Erlebnissen in dieser Clique von älteren Jugendlichen geführt, die für L. schwer zu verarbeiten seien. Inzwischen gelinge es der Mutter wieder adäquat, L. bei wichtigen Erziehungsthemen klare Grenzen zu setzen. Gleichzeitig seien die Eltern sehr bemüht, die enge Bindung zu ihrem Sohn aufrecht zu erhalten und es falle ihnen noch teils schwer, seine Unabhängigkeitsbedürfnisse zu akzeptieren. Sie könnten aber ihre Erziehungshaltung inzwischen an die veränderte Situation anpassen. Eine Kindeswohlgefährdung werde ausgeschlossen. Empfohlen wurde die Fortführung der Verhaltenstherapie, eine Langzeittherapie sei bereits beantragt worden.
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Am … wurde L. geschützt-stationär in der … untergebracht. In der Meldung der geschlossenen Unterbringung an das zuständige Familiengericht führte die behandelnde Fachärztin aus, die notfallmäßige Vorstellung sei nach Vorankündigung durch die behandelnde kinder- und jugendpsychiatrische Praxis zur Abklärung einer akuten Eigengefährdung bei depressiv-suizidalem Syndrom erfolgt. Seit der Entlassung vor ca. drei Monaten habe sich L.s Situation verschlechtert. Er ziehe sich zurück, ecke in der Schule an und es käme zu Hause häufig zu Streit. L. berichte von regelmäßigem Substanzkonsum (Alkohol, Cannabinoide, Nikotin). Hierüber seien die Eltern im Bilde. Er habe kaum Appetit, habe in letzter Zeit an Gewicht verloren. Die vermutete Eigengefährdung resultiere daraus, dass L. erzählt habe, dass er vor ca. einem Monat zusammen mit einer Freundin Bahngleise überquert habe. Als er wahrgenommen habe, dass sich ein Zug nähere, habe er eine Ambivalenz wahrgenommen. Die Freundin habe ihn rechtzeitig von den Gleisen gezogen. Er habe Angst, sich bei Suizidgedanken nicht rechtzeitig melden zu können. L. habe sehr in die Klinik gedrängt und teils aggravierend und dementsprechend schwer einschätzbar bei nicht eindeutiger Distanzierung von akuter Suizidalität imponiert. Die Mutter habe die Angaben bestätigt. Die geschützt-stationäre Aufnahme erfolge daher zur Abwendung einer akuten Eigengefährdung, zur Krisenintervention, emotionalen Stabilisierung und Perspektivenklärung. Als Diagnosen werden genannt: Störung des Sozialverhaltens mit depressiver Störung (F92.0), V.a. psychische und Verhaltensstörung durch Alkohol: Schädlicher Gebrauch (F10.1); V.a. psychische und Verhaltensstörungen durch Tabak: Schädlicher Gebrauch (F17.1).
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Am … leitete die pädagogische Fachkraft beim Antragsgegner den Antrag der Antragsteller vom … und weitere Unterlagen für den Familienrat, insbesondere eine „Sorgebeschreibung“, eine „Ressourcenkarte“ und eine „Handlungsfelderkarte“, an das für die wirtschaftliche Jugendhilfe zuständige Sachgebiet des Antragsgegners weiter.
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Am … wandte sich die Antragstellerin zu 1) an den Jugendamtsleiter beim Antragsgegner und teilte mit, sie habe am … einen Antrag auf Familienrat gestellt. Nachdem sie mehr als acht Wochen keine Informationen bekommen habe, habe sie versucht, die zuständige Sachbearbeiterin zu erreichen, was nicht möglich gewesen sei. Erst am … habe sich diese gemeldet und mitgeteilt, dass der Antrag weitergeleitet werde. Eine Entscheidung über den Antrag sei bis heute nicht erfolgt. Es werde um umgehende Entscheidung gebeten. Mit E-Mail vom … wies die Antragstellerin zu 1) außerdem darauf hin, dass es durch den Familienrat grundsätzlich zur Verzögerung der notwendigen Hilfen komme.
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Der Jugendamtsleiter erläuterte mit E-Mail an die Antragstellerin zu 1) vom …, dass man sich der zeitlichen Komponente beim Familienrat bewusst sei, aber mit dem Familienrat eine sehr hohe Zufriedenheit bei allen Beteiligten erreichbar sei. Vor der Eilbedürftigkeit stehe daher die Passgenauigkeit und Akzeptanz der Maßnahmen.
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Hierauf erwiderte die Antragstellerin zu 1) am selben Tag per E-Mail, die Klärung der geeigneten Hilfen sollte bereits im Erstgespräch durch die Beratung erfolgen, um die Verzögerung der Inanspruchnahme der dringend notwendigen Unterstützungen zu vermeiden. Vor allem Kinder, die noch in der Entwicklung seien, bräuchten sofortige Hilfe. Aufgrund der bisherigen Versäumnisse werde Antrag auf Erziehungsbeistand (mit Erlebnis-Pädagogik) gestellt. Sie erwarte eine schriftliche Entscheidung bis 13. April 2023.
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Nach Zuteilung einer neuen Sachbearbeiterin teilte diese der Antragstellerin zu 1) am … mit, in der folgenden Woche könne bereits das Einleitungsgespräch zum Familienrat stattfinden. Die Antragstellerin zu 1) zeigte sich für eine Terminvereinbarung offen, wies darauf hin, dass L. sich noch immer stationär in der … befinde und daher keine Zeitverzögerung eintreten solle, und übersandte mit E-Mail vom … die erforderliche Schweigepflichtentbindung sowie ein ausgefülltes und unterschriebenes Antragsformular vom selben Tag auf ambulante Hilfe zur Erziehung in Form eines Erziehungsbeistands.
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Am … teilte die Sachbearbeiterin beim Antragsgegner der Antragstellerin zu 1) einen Terminvorschlag für ein Erstgespräch Familienrat mit. Die Antragstellerin zu 1) bestätigte den Termin mit E-Mail vom selben Tag.
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Ebenfalls am … beantwortete der für die wirtschaftliche Jugendhilfe zuständige Mitarbeiter beim Antragsgegner die E-Mail der Antragstellerin zu 1) vom … an den Jugendamtsleiter und stellte dar, der Familienrat sei ein elementarer Bestandteil der Hilfeplanung, die vor der Installierung einer Jugendhilfeleistung durchzuführen sei. Im Rahmen der Hilfeplanung werde dann, unter Einbeziehung der Fachkräfte des Jugendamtes über die notwendige und geeignete Hilfe entschieden. Dabei würden auch Stellungnahmen externer Fachkräfte in die Hilfeplanung einbezogen; diese determinierten jedoch nicht die Entscheidung. Außerdem wurde darauf hingewiesen, dass die Begleitung bzw. Ermöglichung erlebnispädagogischer Angebote nicht zu den Aufgaben eines Erziehungsbestandes zähle.
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Mit E-Mail vom … erläuterte die Sachbearbeiterin des Antragsgegners der Antragstellerin zu 1) auf deren Frage hin, wie viele Familienrat-Termine vorgesehen seien bzw. wann „mit dem Erziehungsbeistand gerechnet“ werden könne, dass es ein Erstgespräch der Sorgeberechtigten mit dem Koordinator und dem Jugendamt gebe, zu dem L. erscheinen könne oder per Zoom oder telefonisch zugeschaltet werden könne. Anschließend würden ein oder mehrere Termine je nach Klärungsbedarf und Wunsch der Familie vereinbart. Wenn im schriftlichen Ergebnis des Familienrats eine Jugendhilfemaßnahme gewünscht sei, könne diese durch die Sachbearbeiterin im Fachgremium beantragt werden. Weitere Fragen könnten telefonisch oder im Erstgespräch geklärt werden.
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Aus dem vorläufigen Entlassbericht der … vom … ergibt sich für L. die Diagnose kombinierte Störung des Sozialverhaltens und der Emotionen (ICD-10 F92.8). L. habe sich unter Medikation und den Halt und Struktur gebenden Bedingungen der offen-stationären Behandlung schrittweise stabilisiert. Eine Rückkehr in den häuslichen Alltag erscheine aufgrund der weiterhin bestehenden emotionalen Labilität erschwert. Um L. in seiner weiteren sozio-emotionalen Entwicklung positiv beeinflussen zu können, werde in Anbetracht der Anamnese, der familiären Situation, der psychosozialen Belastungsfaktoren und des stationären Verlaufes eine stationäre Unterstützung im Sinn einer heilpädagogischen oder therapeutischen Wohngruppe für dringend notwendig gehalten, was von L. und seinen Eltern abgelehnt worden sei. Als Alternative würden ambulante Jugendhilfemaßnahmen im Sinne eines ambulanten Clearings und anschließend eine ambulante, aufsuchende Erziehungshilfe sowie das Aufsuchen einer Suchtberatungsstelle und die Fortführung einer ambulanten Psychotherapie empfohlen. Die Voraussetzungen des § 35a SGB VIII seien aus ärztlicher Sicht erfüllt.
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Am 3. April 2023 fragte die Antragstellerin zu 1) beim Antragsgegner an, ob es sich beim Familienrat um ein gesetzliches Hilfeplanverfahren handle bzw. im welcher Vorschrift dieses Verfahren beschrieben sei.
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Mit E-Mail vom 4. April 2023 wurde der Antragstellerin zu 1) mitgeteilt, es sei ein Hilfeplanverfahren durchzuführen. Die Ausgestaltung des Verfahrens, insbesondere die eingesetzten Instrumente zur Bedarfsprüfung, obliege dem Jugendamt.
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Die Terminfindung für ein Gespräch zwischen Antragstellerseite und dem für die wirtschaftliche Jugendhilfe zuständigen Mitarbeiter des Antragsgegners scheiterte.
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Ein Termin zum Erstgespräch Familienrat am … wurde von der Antragstellerin zu 1) abgesagt.
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Mit E-Mail vom … teilte die Antragstellerin zu 1) dem Antragsgegner mit, da der Familienrat nur ein Angebot für Familien darstelle und aufgrund der Klarheit über den Hilfebedarf ungeeignet sei, habe sich die Familie entschieden, das Angebot nicht anzunehmen. Die Schweigepflichtsentbindung wurde widerrufen. Gemäß § 35a werde gebeten, den Antrag auf Erziehungsbeistand zu genehmigen.
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Mit E-Mail vom … erläuterte der Antragsgegner, der Familienrat sei integraler Bestandteil der Hilfeplanung nach § 36 SGB VIII. Er stelle keine eigene Leistung der Jugendhilfe dar. Die Mitwirkung am Hilfeplanverfahren sei Voraussetzung für die potentielle Einleitung von Jugendhilfeleistungen. Grundsätzlich setze die Bewilligung von Jugendhilfeleistungen eine vom öffentlichen Jugendhilfeträger angeleitete umfangreiche fachliche Prüfung des jugendhilferechtlichen Bedarfs eines jungen Menschen voraus. Der Familienrat ermögliche hier den jungen Menschen und ihren Familien, ihre Vorstellungen im Planungsprozess entscheidend einzubringen.
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Hierauf erwiderte die Antragstellerin zu 1), der Familienrat sei nach ihren Recherchen nicht gesetzlich verbindlich.
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Dem entgegnete der Antragsgegner mit E-Mail vom …, die Teilnahme an der Hilfeplanung sei Voraussetzung für die potentielle Einleitung von Jugendhilfeleistungen. Es obliege dem Jugendamt, die Art und Weise der Hilfeplanung zu gestalten. Es werde nun davon ausgegangen, dass die Antragsteller an der Hilfeplanung nicht mitwirken wollten. Eine Prüfung des Hilfebedarfs sei daher nicht möglich.
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Mit E-Mail vom … teilte die Antragstellerin zu 1) mit, die Familie sei gerne und sofort bereit, wie auch bisher, an allen gesetzlichen Maßnahmen der Hilfeplanung mit dem Fachpersonal des Jugendamtes mitzuwirken.
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Auf Bitten der Sachbearbeiterin des Antragsgegners um Vereinbarung eines neuen Termins zum Erstgespräch Familienrat stellte die Antragstellerin zu 1) per E-Mail vom … klar, dass die Antragsteller bereit seien, mit dem Jugendamt und ohne Familienrat, der im Gesetz nicht verbindlich vorgesehen sei, an allen gesetzlich verbindlichen Maßnahmen zur Erstellung der Hilfeplanung mitzuwirken.
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Am … teilte die Sachbearbeiterin mit, die Teilnahme an der Hilfeplanung sei Voraussetzung für die potentielle Einleitung von Jugendhilfeleistungen und der Familienrat sei ein Teil der Hilfeplanung. Falls an der Durchführung des Familienrates weiterhin nicht mitgewirkt werde, könne keine Hilfeplanung und insofern auch keine Jugendhilfemaßnahme eingeleitet werden. Das Verfahren müsse dann aufgrund mangelnder Mitwirkung eingestellt werden.
35
Am … erhoben die Antragsteller Klage zum Verwaltungsgericht München (M 18 K …*) zu Protokoll und beantragten, den Bescheid vom 18. April 2023 aufzuheben und die Beklagte zu verpflichten, über den Antrag auf Jugendhilfeleistungen zu entscheiden und den Hilfebedarf zu prüfen. Zur Begründung wurde ausgeführt, es werde um gerichtliche Überprüfung gebeten, ob der Antrag mit der Begründung fehlender Mitwirkung aufgrund der Verweigerung des Familienrats abgelehnt werden könne.
36
Mit Schriftsatz vom … im Verfahren M 18 K … führte der Antragsgegner aus, mit Schreiben vom … liege kein ablehnender Verwaltungsakt vor. Stattdessen sei den Antragstellern erneut die Notwendigkeit der Teilnahme an der Hilfeplanung dargelegt worden. Es obliege dem öffentlichen Jugendhilfeträger, geeignete Verfahren bzw. Methodiken zur Erlangung der Ziele des Hilfeplanverfahrens zu entwickeln und anzuwenden. Der Familienrat stelle keine Alternative zur klassischen Hilfeplanung dar, sondern eine Weiterentwicklung und sei als Bestandteil der Hilfeplanung zu verstehen.
37
Auf Frage des Gerichts, welche Art von Jugendhilfeleistung begehrt werde und ob ein Eilverfahren eigeleitet werden solle, stellten die Antragsteller mit Schreiben vom …, eingegangen bei Gericht am …, klar, es werde Hilfe zur Erziehung gemäß §§ 27 ff. SGB VIII in Form von Erziehungsbeistandschaft begehrt. Außerdem werde um Einleitung eines Eilverfahrens gebeten.
38
Auf die Bitte des Gerichts an den Antragsgegner, den Antragstellern ein Hilfeplanverfahren ohne Familienrat anzubieten, trug der Antragsgegner mit Schriftsatz vom … vor, es sei Rücksprache mit den Antragstellern gehalten worden. In einem Telefonat mit der Antragstellerin zu 1) sei wiederholt die Haltung zum Ausdruck gekommen, dass der Familienrat abgelehnt werde. Für sie sei die einzig mögliche Lösung die unmittelbare Installation einer Erziehungsbeistandschaft. Die beiden Kinder der Antragsteller seien aktuell therapeutisch und psychiatrisch gut angebunden und versorgt. Die Antragstellerin zu 1) wolle die Entscheidung des Verwaltungsgerichts abwarten, eine erneute Beratung seitens des Jugendamtes sei vor einer gerichtlichen Klärung nicht nötig.
39
Der Familienrat sei Bestandteil der Hilfeplanung. Die Einleitung einer Hilfe zur Erziehung ohne Durchführung eines Familienrats ermögliche keine sachgerechte Jugendhilfe. Der Nutzen des Familienrats sei unumstritten. Die Teilnahme der Familie am Familienrat falle unter die Mitwirkungspflichten gemäß § 60 SGB I. Von der Durchführung des Familienrats könne auch im Rahmen einer Einzelfallentscheidung nicht abgesehen werden, da die Ziele der Jugendhilfemaßnahme nicht ausgewogen ausgehandelt werden könnten. Die Antragstellerin zu 1) habe keine konkreten Gründe benennen können, die die Durchführung des Familienrats rational oder faktisch unmöglich machen würden. Ohne Familienrat und damit ohne vollständige Hilfeplanung sei es dem Antragsgegner nicht möglich, eine sachgerechte, auf den Einzelfall abgestimmte Jugendhilfeleistung für L. zu bewilligen.
40
Mit Beschluss vom 29. Juni 2023 wurde der Rechtsstreit gemäß § 6 Abs. 1 VwGO zur Entscheidung auf den Einzelrichter übertragen.
41
Mit Schreiben vom … teilten die Antragsteller mit, die Sachverhaltsdarstellung des Antragsgegners sei unvollständig. Außerdem könne der Antragsgegner keine Aussage über eine „gute“ therapeutische Anbindung der Kinder treffen. Der eventuelle Nutzen und zeitliche Ablauf des Familienrats sei ihnen bekannt, da sie diesbezüglich drei Beratungsgespräche mit dem Jugendamt und dem Träger gehabt hätten. Es werde weiterhin um Überprüfung gebeten, ob die Mitwirkung am Familienrat gesetzlich vorgeschriebene Voraussetzung für die Gewährleistung der Jugendhilfe sei bzw. zu entscheiden, ob die benötigte Jugendhilfe auch ohne Teilnahme am Familienrat genehmigt werden könne.
42
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts wird auf den Inhalt der Gerichtsakte dieses Verfahrens sowie des Hauptsacheverfahrens (M 18 K …*) und der vorgelegten Behördenakten Bezug genommen.
43
Der zulässige Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung ist begründet. Die Antragsteller haben einen Anordnungsanspruch und einen Anordnungsgrund glaubhaft gemacht; die mit der beantragten einstweiligen Anordnung eintretende Vorwegnahme der Hauptsache ist zur Gewährung effektiven Rechtsschutzes geboten.
44
Der in der Klageschrift vom … und mit Schreiben vom … konkretisierte Antrag war sachgerecht gemäß §§ 122 Abs. 1, 88 VwGO dahingehend auszulegen, dass eine Verpflichtung des Antragsgegners begehrt wird, über den Antrag auf Gewährung von Hilfe zur Erziehung in Form von Erziehungsbeistandschaft zu entscheiden. Zwar wird im Schreiben vom … ausdrücklich Hilfe zur Erziehung gemäß § 27 ff. SGB VIII in Form von Erziehungsbeistandschaft begehrt. Dieses Schreiben ist aber im Zusammenhang mit der zu Protokoll erhobenen Klage und der Nachfrage des Gerichts zu verstehen. Die Klage ist ausdrücklich auf Verpflichtung zur Entscheidung über den Antrag auf Jugendhilfeleistungen und zur Prüfung des Hilfebedarfs gerichtet. Die Klarstellung auf Nachfrage des Gerichts bezieht sich nur darauf, dass über den Antrag auf Hilfe zur Erziehung in Form von Erziehungsbeistandschaft entschieden werden soll und insoweit um gerichtlichen Eilrechtsschutz nachgesucht werde.
45
Einstweilige Anordnungen sind nach § 123 Abs. 1 Satz 2 VwGO zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn diese Regelung, vor allem bei dauernden Rechtsverhältnissen, nötig erscheint, um wesentliche Nachteile abzuwenden oder drohende Gewalt zu verhindern. Voraussetzung ist, dass der Antragsteller das von ihm behauptete streitige Recht (den Anordnungsanspruch) und die drohende Gefahr seiner Beeinträchtigung (den Anordnungsgrund) glaubhaft macht, § 123 Abs. 3 VwGO i.V.m. § 920 Abs. 2 ZPO. Maßgebend sind dabei die tatsächlichen und rechtlichen Verhältnisse im Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung (vgl. BayVGH, B.v. 10.10.2011 – 12 CE 11.2215 – juris Rn. 6).
46
Grundsätzlich dient die einstweilige Anordnung nach § 123 Abs. 1 Satz 2 VwGO der vorläufigen Regelung eines Rechtsverhältnisses. Soll die Entscheidung der Hauptsache teilweise oder ganz vorweggenommen werden, sind an die Prüfung von Anordnungsgrund und Anordnungsanspruch qualifizierte Anforderungen zu stellen, d.h. der Erlass einer einstweiligen Anordnung kommt nur in Betracht, wenn ein hoher Grad an Wahrscheinlichkeit für einen Erfolg in der Hauptsache jedenfalls dem Grunde nachspricht und der Antragsteller ohne die einstweilige Anordnung unzumutbaren Nachteilen ausgesetzt wäre (vgl. BayVGH, B.v. 18.3.2016 – 12 CE 16.66 – juris Rn. 4). Insbesondere bei zeitlich gebundenen Begehren bleibt nur die Vorwegnahme der Hauptsache (vgl. zu allem: Happ in Eyermann, VwGO, Kommentar, 15. Aufl. 2019, § 123 Rn. 66a bis 66c m.w.N.).
47
Die Antragsteller haben einen Anspruch auf die Durchführung eines Hilfeplanverfahrens gemäß § 36 SGB VIII ohne die zwingende Durchführung eines Familienrats glaubhaft gemacht.
48
Nach § 27 Abs. 1 SGB VIII hat ein Personensorgeberechtigter bei der Erziehung eines Kindes Anspruch auf Hilfe zur Erziehung, wenn eine dem Wohl des Kindes entsprechende Erziehung nicht gewährleistet ist und die Hilfe für seine Entwicklung geeignet und notwendig ist. Hilfe zur Erziehung wird gemäß § 27 Abs. 2 SGB VIII insbesondere nach Maßgabe der §§ 28 bis 35 SGB VIII gewährt. Art und Umfang der Hilfe richtet sich nach dem erzieherischen Bedarf im Einzelfall; dabei soll das engere soziale Umfeld des Kindes oder des Jugendlichen einbezogen werden. § 30 SGB VIII bestimmt, dass der Erziehungsbeistand das Kind oder den Jugendlichen bei der Bewältigung von Entwicklungsproblemen möglichst unter Einbeziehung des sozialen Umfelds unterstützen und unter Erhaltung des Lebensbezugs zur Familie seine Verselbständigung fördern soll.
49
Grundsätzlich unterliegt die Entscheidung über die Erforderlichkeit und Geeignetheit einer bestimmten Hilfemaßnahme nach ständiger verwaltungsgerichtlicher Rechtsprechung einem kooperativen, sozialpädagogischen Entscheidungsprozess unter Mitwirkung des betroffenen Hilfeempfängers und der Fachkräfte des Jugendamtes, welche nicht den Anspruch objektiver Richtigkeit erhebt, sondern nur eine angemessene Lösung zur Bewältigung der festgestellten Belastungssituation enthalten muss, die fachlich vertretbar und nachvollziehbar sein muss (sog. sozialpädagogische Fachlichkeit). Die verwaltungsgerichtliche Überprüfung hat sich in diesem Fall darauf zu beschränken, ob allgemeingültige fachliche Maßstäbe beachtet wurden, keine sachfremden Erwägungen eingeflossen und die Leistungsadressaten in umfassender Weise beteiligt worden sind. Die Entscheidung über die Geeignetheit und Notwendigkeit einer bestimmten Hilfemaßnahme ist damit gerichtlich nur auf ihre Vertretbarkeit hin überprüfbar (BayVGH, B.v. 6.2.2017 – 12 C 16.2159 – juris Rn. 11 m.w.N.). Will ein Betroffener die Verpflichtung des Jugendhilfeträgers zur Durchführung einer bestimmten Hilfemaßnahme im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes erwirken, muss er im Hinblick auf den im Rahmen der sozialpädagogischen Fachlichkeit bestehenden Beurteilungsspielraum des Jugendamts darlegen und glaubhaft machen, dass allein die beanspruchte Hilfemaßnahme zur Deckung des Hilfebedarfs erforderlich und geeignet ist (vgl. BayVGH, B.v. 30.1.2017 – 12 C 16.1693 – juris Rn. 8; B.v. 17.8.2015 – 12 AE 15.1691 – juris Rn. 31; B.v. 21.2.2013 – 12 CE 12.2136 – juris Rn. 30).
50
Ob die Antragsteller hier glaubhaft machen konnten, dass allein die Erziehungsbeistandschaft zur Deckung des Hilfebedarfs erforderlich und geeignet ist, ist angesichts der Empfehlung der … im vorläufigen Entlassbericht vom …, der eine stationäre Unterstützung auf der Grundlage von § 35a SGB VIII dringend empfiehlt, zwar zweifelhaft, bedarf hier jedoch keiner Prüfung, da sich der Antrag nicht auf die konkrete Hilfegewährung, sondern auf die Entscheidung über den Antrag und die zugehörige Durchführung eines Hilfeplanverfahrens richtet.
51
Hat ein Jugendhilfeträger die Prüfung des konkreten Hilfebedarfs bisher (rechtsfehlerhaft) nicht aufgenommen, beschränkt sich der Anspruch des Antragstellers regelmäßig auf ein behördliches Tätigwerden (VG Karlsruhe, B.v. 28.2.2023 – 8 K 292/23 – juris Rn. 20 m.w.N.).
52
Die Antragsteller konnten glaubhaft machen, dass das Verfahren über den insbesondere unter dem Vorbehalt der sozialpädagogischen Fachlichkeit möglicherweise bestehenden Anspruch auf Gewährung von Hilfe zur Erziehung nicht ordnungsgemäß weiterbetrieben wird und sie einen Anspruch auf Durchführung eines Hilfeplanverfahrens gemäß § 36 SGB VIII haben, den sie auch im Wege der einstweiligen Anordnung sichern können.
53
Der Antragsgegner stützt die Nichtgewährung von Hilfe zur Erziehung bzw. das Nichtbetreiben eines Hilfeplanverfahrens auf fehlende Mitwirkungsbereitschaft der Antragsteller am sog. Familienrat. Dies vermag nicht zu überzeugen.
54
Der Antragsgegner geht fehlerhaft davon aus, dass der Familienrat notwendiger Bestandteil der Hilfeplanung ist, dass die Einleitung einer Hilfe zur Erziehung ohne Durchführung eines Familienrats keine sachgerechte Jugendhilfe ermöglicht und von der Durchführung des Familienrats auch im Rahmen einer Einzelfallentscheidung nicht abgesehen werden kann. Vielmehr ist derzeit schon nicht ersichtlich, inwieweit der Antragsgegner seiner Beratungspflicht gemäß § 36 SGB VIII ausreichend nachgekommen ist. Daneben fehlt es an der Durchführung eines Hilfeplanverfahrens, das den Gegebenheiten des Einzelfalles entspricht, indem auf die Durchführung des sog. Familienrats verzichtet wird.
55
Gemäß § 36 Abs. 1 SGB VIII sind der Personensorgeberechtigte und das Kind oder der Jugendliche vor der Entscheidung über die Inanspruchnahme einer Hilfe zu beraten und auf die möglichen Folgen für die Entwicklung des Kindes oder des Jugendlichen hinzuweisen (Satz 1). Es ist sicherzustellen, dass Beratung und Aufklärung nach Satz 1 in einer für den Personensorgeberechtigten und das Kind oder den Jugendlichen verständlichen nachvollziehbaren und wahrnehmbaren Form erfolgen (Satz 2). Nach § 36 Abs. 2 SGB VIII soll die Entscheidung über die im Einzelfall angezeigte Hilfeart, wenn Hilfe voraussichtlich für längere Zeit zu leisten ist, im Zusammenwirken mehrerer Fachkräfte getroffen werden. Als Grundlage für die Ausgestaltung der Hilfe sollen sie zusammen mit dem Personensorgeberechtigten und dem Kind oder dem Jugendlichen einen Hilfeplan aufstellen, der Feststellungen über den Bedarf, die zu gewährende Art der Hilfe sowie die notwendigen Leistungen enthält; sie sollen regelmäßig prüfen, ob die gewählte Hilfeart weiterhin geeignet und notwendig ist. Hat das Kind oder der Jugendliche ein oder mehrere Geschwister, so soll der Geschwisterbeziehung bei der Aufstellung und Überprüfung des Hilfeplans sowie bei der Durchführung der Hilfe Rechnung getragen werden. Hieraus wird deutlich, dass die Entscheidung über Hilfen zur Erziehung nicht einseitig durch das Jugendamt getroffen und vollzogen werden soll, sondern ein gemeinsam gestalteter Hilfeprozess stattfinden soll, der mit einer umfassenden Beratung der Leistungsadressaten eingeleitet, bei längerfristigen Hilfen durch kollegiale Beratung fachlich beeinflusst, zeit- und zielgerichtet ausgestaltet und in einem Hilfeplan dokumentiert wird (zum Ganzen: Gallep, in Wiesner/Wapler, SGB VIII, 6. Aufl. 2022, § 36 Rn. 1). Hierauf haben die Leistungsberechtigten einen Anspruch (ebd., Rn. 9; vgl. auch Rn. 14; VG Braunschweig, U.v. 9.8.2010 – 3 A 147/09 – juris Rn. 17; Kunkel/Kepert in Kunkel/Kepert/Pattar, SGB VIII, 8. Aufl. 2022, § 36 Rn. 8). Die § 36 SGB VIII unterfallende Beratungs- und Hinweispflicht bezieht sich sowohl auf die Darstellung der Hilfe- und Leistungsarten als auch auf den Ablauf des Hilfeplanverfahrens selbst (Kunkel/Kepert in Kunkel/Kepert/Pattar, SGB VIII, 8. Aufl. 2022, § 36 Rn. 24).
56
Aus den vorgelegten Akten ist schwer nachvollziehbar, inwiefern dies hier stattgefunden hat. Die Antragstellerin zu 1) bedankt sich in ihrer E-Mail vom … für eine „Beratung“. Was genau damit gemeint ist, lässt sich den Akten nicht entnehmen. Am … fand jedenfalls ein Gespräch des Jugendamtes mit L. und den Antragstellern statt, dies drehte sich um die konkreten Probleme im Alltag der Familie, es wurden Wünsche formuliert und festgehalten, die Familie wolle in einem Familienrat besprechen, wie die vielfältigen Wünsche und Problematiken bearbeitet und gelöst werden könnten. Es findet sich keine Dokumentation über ein Beratungsgespräch zu Ablauf des Hilfeplanverfahrens und Arten der in Betracht kommenden Hilfen. Auch wenn die in Betracht kommenden Hilfen womöglich erst im Familienrat hätten erörtert werden sollen, erscheint dies insbesondere vor dem Hintergrund, dass L. sich seit Längerem durchgehend – teilweise stationär – in psychiatrischer Behandlung befand und vom zuvor zuständigen Jugendamt eine Krisenintervention für erforderlich gehalten und durchgeführt wurde, bemerkenswert. In diesem Zusammenhang irritiert auch die Tatsache, dass der Bericht über diese Krisenintervention nur in unvollständiger Form vorliegt und vom Antragsgegner nie eine vollständige Fassung beschafft wurde, was wohl im Rahmen des Untersuchungsgrundsatzes gemäß § 20 SGB X zu erwarten sein dürfte.
57
Darüber hinaus hat der Antragsgegner im vorliegenden Fall von der Forderung der Durchführung des sog. Familienrats abzusehen. Eine Hilfeplanung ist auch ohne Durchführung eines Familienrats möglich und der Antragsgegner hierzu ggf. gesetzlich verpflichtet.
58
Die durch den oben erörterten Hilfeplanungsprozess ermöglichte gemeinsame Entscheidungsfindung stellt einen interaktiven Prozess dar, in dem die verschiedenen Sichtweisen und Überlegungen der Leistungsadressaten und der Fachkraft zur Lebens- und Erziehungssituation des Kindes oder Jugendlichen, zur Situationsveränderung, zur Familiensituation und zu den anzustrebenden Zielen und weiteren Schritten eingebracht werden (Gallep in Wiesner/Wapler, SGB VIII, 6. Aufl., 2022, § 36a Rn. 10 m.w.N.). Dieser komplexe Entscheidungsprozess stößt in vielfacher Hinsicht an Grenzen. Insbesondere stehen die pädagogischen Fachkräfte vor der Herausforderung, sich transparent zwischen Hilfe und Kontrolle zu bewegen, die Leistungsberechtigten befinden sich zumeist in einer sensiblen Problemsituation (vgl. ebd. Rn. 21 ff.). Auf der Suche nach Methoden zur Bewältigung dieser Hindernisse wird der sog. Familienrat diskutiert und mancher Orts auch praktiziert. Hierbei handelt es sich um ein ursprünglich in Neuseeland entwickeltes Verfahren zur aktiven Beteiligung von Familien in der Hilfeplanung und Entscheidungsfindung. Der Ablauf gliedert sich in eine Vorbereitungsphase, eine Informations- oder Beratungsphase, Diskussions- oder Familienphase, Entscheidungs- und Konkretisierungsphase und eine Überprüfungsphase oder Folgerat. Ziel ist die Mobilisierung der innerhalb der Familie und deren Umfeld vorhandenen Ressourcen für die Erarbeitung von Lösungen ohne Einfluss von Fachkräften und somit die Stärkung der Eigenverantwortung und Mitwirkung der Familie. Gleichzeitig können so Netzwerke aktiviert und die Arbeit sozialräumlich und lebensweltorientiert betrieben werden. Der Familienrat ist gesetzlich nicht verbindlich vorgeschrieben und ist auch nicht als Alternative, sondern als Weiterentwicklung oder Bestandteil der Hilfeplanung zu sehen. Zur konkreten Organisation des Familienrats wird durch das Jugendamt ein Koordinator beauftragt. Steuerungsverantwortung und staatlicher Schutzauftrag bleiben beim Jugendamt, das in der Entscheidungsphase dem Plan der Familie ausdrücklich zustimmen oder ihn ggf. ablehnen muss (vgl. zum Ganzen Gallep in Wiesner/Wapler, SGB VIII, 6. Aufl. 2022 Rn. 24a; allgemein zum Verfahren des Familienrats mit Fallbeispiel: Früchtel/Roth, JAmt 1014, 119 ff. m.w.N.).
59
Der Antragsgegner stellt wohl zurecht den Nutzen des Familienrats, insbesondere durch die intensive Einbindung und Partizipation des jungen Menschen, dar. Auch wenn der Antragsgegner deshalb für sich entschieden hat, den Familienrat grundsätzlich als Bestandteil seiner Hilfeplanung anzusehen und standardmäßig vorschlägt, muss er aufgrund der fehlenden gesetzlichen Verpflichtung der Leistungsberechtigten zur Teilnahme am Familienrat und seiner gesetzlich verankerten Pflicht zur Aufklärung und Beratung auch Ausnahmen zulassen, wenn der Familienrat nicht gewünscht ist. Die oben dargestellten Bestimmungen des § 36 SGB VIII sehen nicht zwingend die Durchführung eines Familienrats vor und auch andernorts findet sich keine gesetzliche Verpflichtung zur Durchführung eines Familienrats – weder für den Antragsgegner noch für die Antragsteller. Die vom Antragsgegner zitierte Kommentarstelle (Gallep in Wiesner/Wapler, SGB VIII, 6. Aufl. 2022 Rn. 24a), die im Übrigen auch die – soweit ersichtlich – einzige Kommentarstelle ist, in der der Familienrat Erwähnung findet, kann auch nicht in diesem Sinn verstanden werden. Sie weist lediglich darauf hin, dass der Familienrat keine Alternative zur klassischen Hilfeplanung bzw. gar Hilfegewährung darstellt, sondern eine Weiterentwicklung, und als Bestandteil der Hilfeplanung zu verstehen ist. Dass der Familienrat in jedem Hilfeplanverfahren notwendig durchzuführen ist, wird dort nicht vertreten. Vielmehr wird auch darauf hingewiesen, dass der Familienrat im Gesetz nicht verbindlich vorgesehen ist.
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Es mag sein, dass der Antragsgegner die besondere Methodik des Familienrats im vorliegenden fälligen Hilfeplanverfahren als geeignet ansieht und fachlich mag der Nutzen des Familienrats unumstritten sein. Dem Vortrag, dass ohne die Durchführung eines Familienrats eine sachgerechte Jugendhilfe nicht möglich sein soll, vermag das Gericht jedoch schon angesichts seines Überblicks über die Vorgehensweisen anderer Jugendämter, die den Familienrat nicht zwingend praktizieren, nicht pauschal zu folgen. Richtig ist, dass dem Jugendamt grundsätzlich die Ausgestaltung des Hilfeplanverfahrens obliegt. Die Ausgestaltung muss sich aber dem Einzelfall anpassen, im Rahmen gesetzlichen Vorschriften halten und darf einem Antragsteller nichts abverlangen, wozu dieser nicht gesetzlich verpflichtet ist. Wie auch eine vom Leistungsempfänger nicht akzeptierte Hilfe eine ungeeignete Hilfe sein kann (vgl. VG München, U.v. 7.7.2021 – M 18 K 18.2218 – juris Rn. 106; U.v. 14.10.2020 – M 18 K 19.4963 – juris Rn. 124 m.w.N.), kann auch ein Hilfeplanverfahren mit ungewollten Bestandteilen ein ungeeignetes Hilfeplanverfahren sein. Außerdem dürfen grundsätzlich geeignete Hilfen nicht unter Hinweis auf eine mutmaßlich fachlich besser geeignete Maßnahme verweigert werden (BayVGH, B.v. 24.10.2022 – 12 CE 22.1977 – juris Rn. 19 mit Hinweis auf BVerwG, U.v. 18.10.2012 – 5 C 21.11 – juris Rn. 23). Diese Wertung dürfte auf die Ausgestaltungsmöglichkeiten des Hilfeplanverfahrens übertragbar sein. Somit muss ein Jugendamt, das sich ein bestimmtes Konzept für Hilfeplanverfahren gegeben hat, ggf. von nicht gesetzlich verpflichtenden Bestandteilen dieses Verfahrens absehen, um seiner Verpflichtung aus § 36 SGB VIII nachzukommen.
61
Dem Vortrag der Antragstellerin zu 1) lässt sich entnehmen, dass sie den Familienrat auch nicht grundlos ablehnt. Sie hat sich ersichtlich über das Thema informiert und festgestellt, dass die Durchführung des Familienrats wohl mehrere Sitzungen benötigt. Sie begehrt nachvollziehbar die zügige Installierung einer Hilfe. Der Hinweis des Antragsgegners darauf, dass seitens des Jugendamtes größeres Gewicht auf die Passgenauigkeit und Akzeptanz der Maßnahmen als auf die Eilbedürftigkeit gelegt werde, dürfte den o.g. Anforderungen an die Beratungspflicht nicht genügen.
62
Demzufolge kann eine Verweigerung des Familienrats auch nicht als Verletzung der Mitwirkungspflichten nach § 60 Abs. 1 SGB I angesehen werden und der Antrag auf Gewährung von Hilfe zur Erziehung kann – zumindest auf der Grundlage des Sachverhalts, wie er sich dem Gericht derzeit darstellt – auch sonst nicht mit der Begründung fehlender Mitwirkung abgelehnt werden.
63
Hilfeberechtigte haben grundsätzlich entsprechend den Mitwirkungspflichten nach §§ 60 ff. SGB I im erforderlichen Umfang mitzuwirken, wobei zu beachten ist, dass die §§ 60 ff. SGB I nicht die Besonderheiten der Jugendhilfe im Auge haben, wo es um den oben dargestellten partizipatorischen Gestaltungsprozess geht und da von der Versagung der Leistung nicht nur die Personensorgeberechtigten, sondern v.a. die Kinder betroffen sind (Gallep in Wiesner/Wapler, SGB VIII, 6. Aufl. 2022 § 36 Rn. 4a; von Koppenfels/Spies in Schlegel/Voelzke, jurisPK SGB VIII, 3. Aufl. 2022 § 36 Rn. 19). Das Jugendamt kann zunächst auch verpflichtet sein, mit Blick auf das Kindeswohl intensive Bemühungen zur Motivation der Personensorgeberechtigten zur Mitwirkung zu unternehmen (vgl. DIJuF, JAmt 2023, 124 m.w.N.). Soll die Hilfe tatsächlich aufgrund von fehlender Mitwirkung versagt werden, sind die Adressaten der Hilfe gemäß § 66 Abs. 3 SGB I zuvor schriftlich auf die drohende Versagung der Hilfe hinzuweisen und eine angemessene Frist zur Mitwirkung zu setzen. Außerdem muss entschieden werden, ob die Hilfe zur Abwendung einer Kindeswohlgefährdung erforderlich ist, sodass ggf. das Familiengericht anzurufen wäre (a.a.O.).
64
Die Antragsteller haben mit E-Mail vom 18. April 2023 ihre Mitwirkung an allen gesetzlichen Maßnahmen zugesagt. Dem Schriftsatz des Antragsgegners vom 27. Juni 2023 lässt sich zwar entnehmen, dass der Antragsgegner auf Bitte des Gerichts mit dem Ziel einer Hilfeplanung ohne die Einleitung eines Familienrats an die Antragsteller herangetreten sei, die Antragsteller aber eine erneute Beratung durch das Jugendamt vor einer gerichtlichen Entscheidung abgelehnt hätten. Die Antragsteller stellten dies im Schreiben vom … jedoch so dar, dass sie durch das Jugendamt erneut zur Mitwirkung am Familienrat eingeladen worden seien. Jedenfalls bestehen derzeit keine Anhaltspunkte, an der Bereitschaft der Antragsteller zur Mitwirkung im gesetzlich vorgesehenen Umfang zu zweifeln.
65
All diese Feststellungen rechtfertigen die Annahme eines nach wie vor bestehenden Bedarfs für eine sachgerechte Hilfeplanung. In seiner Entscheidung über den Antrag der Antragsteller auf Gewährung von Hilfe zur Erziehung wird der Antragsgegner die genannten Aspekte zu berücksichtigen haben, um eine bedarfsgerechte Maßnahme für L. zu prüfen und ggf. zu installieren.
66
Der in der Hauptsache hiernach voraussichtlich bestehende Anspruch der Antragsteller kann auch im Rahmen des einstweiligen Rechtsschutzverfahrens durch Verpflichtung des Antragsgegners zur Durchführung eines Hilfeplanverfahrens gemäß § 36 SGB VIII ohne die zwingende Durchführung eines Familienrats gesichert werden, was insbesondere dann in Betracht kommt, wenn – wie hier – ein berechtigtes Interesse daran besteht, dass die Behörde möglichst frühzeitig eine Entscheidung trifft. Grundsätzlich steht es im Ermessen des Gerichts, die notwendigen und zweckmäßigen Anordnungen zu treffen, § 123 Abs. 3 VwGO i.V.m. § 938 Abs. 1 ZPO (vgl. VG Cottbus, B.v. 9.2.2023 – 8 L 329/22 – juris Rn. 31 m.w.N.; VG Karlsruhe, B.v. 28.2.2023 – 8 K 292/23 Rn. 21). Die dem Antragsgegner mit der Vorwegnahme der Hauptsache auferlegten Nachteile sind weder schwer noch unzumutbar, auch wenn die Durchführung des Hilfeplanverfahrens als solches nicht rückgängig oder ungeschehen zu machen ist. Der dem Jugendamt zustehende Beurteilungsspielraum wird beachtet und es werden keine Vorgaben gemacht, welche Entscheidung im Rahmen des Hilfeplanverfahrens zu treffen ist (vgl. VGH BW, B.v. 23.5.2023 – 12 S 457/23 – juris Rn. 16).
67
Die Antragsteller haben auch einen Anordnungsgrund glaubhaft gemacht. Die tenorierte Anordnung erscheint erforderlich, um wesentliche Nachteile für die Antragsteller abzuwenden, nachdem der mögliche Hilfebedarf seit mehreren Monaten nicht aufgeklärt wird und keine Anhaltspunkte vorliegen, dass er sich in irgendeiner Weise verändert oder erledigt hat. L. befand sich zuletzt im März 2023 in stationärer psychiatrischer Behandlung. Der vorläufige Entlassbericht vom … empfiehlt dringend eine stationäre Unterstützung im Sinn einer heilpädagogischen oder therapeutischen Wohngruppe, was von L. und seinen Eltern abgelehnt worden sei. Als Alternative werden ambulante Jugendhilfemaßnahmen im Sinne eines ambulanten Clearings und anschließend eine ambulante, aufsuchende Erziehungshilfe sowie das Aufsuchen einer Suchtberatungsstelle und die Fortführung einer ambulanten Psychotherapie empfohlen. Die Voraussetzungen des § 35a SGB VIII seien aus ärztlicher Sicht erfüllt. Derzeit erhält L. wohl nur ambulante therapeutische Hilfe. Die Frage, ob und ggf. in welcher Form zusätzlich Hilfe zur Erziehung oder Eingliederungshilfe zu gewähren ist, bedarf daher der dringenden Klärung.
68
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO.
69
Das Verfahren ist nach § 188 Satz 2 VwGO gerichtskostenfrei.