Inhalt

VG München, Beschluss v. 31.07.2023 – M 19 S 23.50322
Titel:

Dublin-Verfahren (Italien)

Normenketten:
AsylG § 29 Abs. 1 Nr. 1 lit. a, § 34a
Dublin III-VO Art. 13 Abs. 1 S. 1, Art. 18 Abs. 1 lit. a, Art. 22 Abs. 7
AufenthG § 60 Abs. 5, Abs. 7 S. 1
Leitsatz:
Weder im Aufnahmeverfahren noch im Asylverfahren bestehen in Italien allgemeine oder bestimmte Personengruppen betreffende systemische Mängel; Dublin-Rückkehrer laufen tatsächlich keine Gefahr, bei einer Überstellung nach Italien einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung ausgesetzt zu sein. (Rn. 28) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Dublin-Verfahren, Zielstaat Italien, Systemische Mängel (verneint), Gefahr einer Reviktimisierung (verneint), Abschiebungsanordnung, Italien, systemische Mängel, Reviktimisierung
Fundstelle:
BeckRS 2023, 20288

Tenor

I. Der Antrag wird abgelehnt.
II. Die Antragstellerin trägt die Kosten des Verfahrens.

Gründe

I.
1
Die Antragstellerin begehrt vorläufigen Rechtsschutz gegen die Abschiebung nach Italien im Rahmen des sog. Dublin-Verfahrens.
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Die Antragstellerin, eine nigerianische Staatsangehörige christlicher Religionszugehörigkeit aus dem Volke der Edo, reiste am 6. August 2022 über Libyen und Italien in die Bundesrepublik Deutschland ein. Sie verließ Nigeria im Februar 2021. Diese Angaben beruhen auf den eigenen Aussagen der Antragstellerin, Dokumente wurden nicht vorgelegt. Von ihrem Asylgesuch erlangte das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt) am 11. August 2022 schriftlich Kenntnis. Am 8. November 2022 stellte die Antragstellerin einen förmlichen Asylantrag.
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Eine Eurodac-Recherche am 11. August 2022 ergab einen Treffer der Kategorie 2 für Italien (Abnahme von Fingerabdrücken am 17.6.2022, Bl. 32 der Asylakte).
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Das Bundesamt stellte am 6. Oktober 2022 ein Übernahmeersuchen an Italien, für das eine Zugangsbestätigung vorliegt, das aber bisher nicht beantwortet wurde.
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Bei ihren Anhörungen zur Identitätsklärung bei der Regierung von Oberbayern (Zentrale Ausländerbehörde) am 18. Oktober 2022 und zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats beim Bundesamt am 1. Dezember 2022 gab die Antragstellerin Folgendes an:
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Nach Italien könne sie nicht mehr zurück, da sie dort von Menschenhändlern gesucht werde. In Nigeria sei sie von einer Frau dazu überzeugt worden, zu deren Schwester nach Italien zu reisen, um für diese als Kindermädchen zu arbeiten. In Italien habe sich herausgestellt, dass die Schwester tatsächlich als Zuhälterin (sog. „Madame“) für ein Prostitutionsgewerbe tätig gewesen sei, d.h. den Menschenhandel mit Frauen organisiert und die Frauen überwacht habe. Den Angaben der Antragstellerin zufolge sei sie von der Zuhälterin von November 2021 bis August 2022 zur Prostitution gezwungen worden. Erst im August 2022, als sie von einem der Freier – einem in Deutschland lebenden Mann, dessen vollständiger Name der Antragstellerin unbekannt ist – schwanger gewesen sei, habe sie den Mut für eine Flucht gehabt, da die Zuhälterin sie zur Abtreibung habe zwingen wollen. Nach der gelungenen Flucht sei sie nach Deutschland weitergereist, um den Vater ihres Kindes zu suchen, was ihr jedoch nicht gelungen sei. Zwar habe sie seitdem keinen Kontakt mehr zur Zuhälterin. Sie fürchte aber, von dieser aufgrund ihres großen Einflusses im Falle einer Überstellung nach Italien wieder ausfindig gemacht und erneut zur Prostitution gezwungen zu werden. Darüber hinaus bringt die Antragstellerin vor, dass einer Überstellung nach Italien der Umstand entgegenstünde, dass sie sie krank sei. Sie habe Myome in der Gebärmutter und Bakterien auf der Haut.
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Am 7. März 2023 nahm die Sonderbeauftragte für die Opfer von Menschenhandel zum Sachverhalt Stellung. Ihrem Vermerk zufolge deuteten die Schilderungen der Antragstellerin bei deren unterstellter Glaubhaftigkeit in Bezug auf die Antragstellerin in Italien nicht auf eine drohende Reviktimisierung in Italien, d.h. nicht auf einen erneuten Zwang, dort der Prostitution nachzugehen, hin. Denn jeglicher Kontakt zur Zuhälterin sei schon in Italien abgebrochen und es habe seitdem keine Versuche einer weiteren Kontaktaufnahme gegeben.
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Mit Bescheid vom 9. März 2023, zugestellt am 15. März 2023, lehnte das Bundesamt den Asylantrag als unzulässig ab (Nr. 1), stellte fest, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 Aufenthaltsgesetz (AufenthG) nicht vorliegen (Nr. 2), ordnete die Abschiebung nach Italien an (Nr. 3) und setzte ein Einreise- und Aufenthaltsverbot von 15 Monaten ab dem Tag der Abschiebung nach § 11 Abs. 1 AufenthG fest (Nr. 4). Zur Begründung führte es insbesondere aus, dass Italien aufgrund der abgegebenen Fingerabdrücke für die Behandlung des Asylantrags zuständig sei. Gründe zur Annahme systemischer Mängel im italienischen Asylverfahren und der dortigen Aufnahmebedingungen lägen angesichts der dargestellten Abläufe hinsichtlich Unterbringung, Verfahren und Gesundheitsversorgung nicht vor. Der Wunsch, das Asylverfahren in einem bestimmten EU-Staat zu betreiben, begründe keinen schutzwürdigen Belang. Die Gefahr einer Reviktimisierung der Antragstellerin in Italien bestehe nicht, da der Kontakt zur Zuhälterin abgebrochen sei.
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Am 16. März 2023 ließ die Antragstellerin durch ihre Bevollmächtigte Klage zum Verwaltungsgericht München erheben (M 19 K 23.50321). Gleichzeitig beantragte sie,
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die aufschiebende Wirkung der Klage gegen Nr. 3 des streitgegenständlichen Bescheids anzuordnen.
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Die Bevollmächtigte der Antragstellerin begründete die Klage und den Antrag auf Eilrechtsschutz mit Schriftsatz vom 30. März 2023. Sie trug vor, Italien sei mit der Unterbringung und Versorgung von Asylbewerbern derzeit überfordert und stützte sich hierbei insbesondere auf die Ankündigung des italienischen Innenministeriums im Dezember 2022, Überstellungen nach Italien auf unbestimmte Zeit auszusetzen. Zudem erfolgten Überstellungen regelmäßig in denselben Bezirk, in dem sich die betroffenen Asylsuchenden zuletzt aufgehalten hätten. Es sei daher wahrscheinlich, dass die Antragstellerin wieder von der Zuhälterin ausfindig gemacht werde. Zudem habe die Antragstellerin in Deutschland am 14. November 2022 mittlerweile ihren Sohn, Triumph Odion, geboren (s. hierzu den Auszug aus dem Geburtenregister auf S. 153 der Behördenakte). Mutter und Kind würden daher einem vulnerablen Personenkreis angehören, für deren Überstellung nach Italien es einer individuellen Versorgungszusicherung bedürfe.
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Das Bundesamt legte die Asylakte auf elektronischem Weg vor und beantragte,
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den Antrag abzulehnen.
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Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten wird auf die Gerichtsakten in beiden Verfahren und die vorgelegte Asylakte Bezug genommen.
II.
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A. Der Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung hinsichtlich der Abschiebungsanordnung in Nr. 3 des streitgegenständlichen Bescheids hat keinen Erfolg.
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I. Er ist zwar zulässig, insbesondere kommt der gleichzeitig erhobenen Klage insoweit nach § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 VwGO i.V.m. § 75 Abs. 1 AsylG keine aufschiebende Wirkung zu und er wurde innerhalb der Wochenfrist des § 34a Abs. 2 Satz 1 AsylG gestellt.
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II. Der Antrag ist jedoch nicht begründet.
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Nach § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO kann das Gericht der Hauptsache auf Antrag die aufschiebende Wirkung der Klage anordnen. Das Gericht trifft dabei eine eigene Ermessensentscheidung, bei der es abzuwägen hat zwischen dem sich aus § 75 AsylG ergebenden öffentlichen Interesse an der sofortigen Vollziehung und dem Interesse des Antragstellers an der aufschiebenden Wirkung seines Rechtsbehelfes. Ein gewichtiges Indiz ist dabei die Erfolgsaussicht des Hauptsacheverfahrens. Ergibt die im Rahmen des Verfahrens nach § 80 Abs. 5 VwGO gebotene, aber auch ausreichende summarische Prüfung, dass die Klage voraussichtlich erfolglos bleiben wird, hat das Interesse des Antragstellers regelmäßig zurückzutreten. Erweist sich dagegen der Bescheid schon bei summarischer Prüfung als rechtswidrig, so besteht kein Interesse an dessen sofortiger Vollziehung. Ist der Ausgang des Hauptsacheverfahrens als offen zu beurteilen, verbleibt es bei einer allgemeinen Interessenabwägung.
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Unter Zugrundelegung dieser Maßstäbe geht die Interessenabwägung hier im Ergebnis zu Lasten der Antragstellerin aus. Bei summarischer Prüfung der Sach- und Rechtslage zum gegenwärtigen Zeitpunkt (§ 77 Abs. 1 Satz 1 Hs. 2 AsylG) sind die Erfolgsaussichten ihrer Klage gegen die Abschiebungsanordnung im Bescheid des Bundesamts vom 9. März 2023 als gering anzusehen. Die streitgegenständliche Abschiebungsanordnung erweist sich mit hoher Wahrscheinlichkeit als rechtmäßig.
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Nach § 34a Abs. 1 Satz 1 AsylG ordnet das Bundesamt die Abschiebung unter anderem in einen für die Durchführung des Asylverfahrens zuständigen Staat (§ 29 Abs. 1 Nr. 1 AsylG) an, sobald feststeht, dass diese durchgeführt werden kann. Diese Voraussetzungen liegen hier vor.
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1. Italien ist für das Asylverfahren zuständig.
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Nach § 29 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. a AsylG ist ein Asylantrag unzulässig, wenn ein anderer Staat nach der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen in einem Mitgliedstaat gestellten Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist (ABl. L 180 v. 29.6.2013, S. 31) – im Folgenden: Dublin III-VO – für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig ist.
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Ausgehend von den Eurodac-Daten und dem Vortrag der Antragstellerin ist vorliegend Italien für die Prüfung des Asylantrags im Sinne von § 29 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. a AsylG zuständig. Die Zuständigkeit Italiens für den Asylantrag der Antragstellerin ergibt sich aus Art. 13 Abs. 1 Satz 1 i.V.m. Art. 22 Abs. 7 i.V.m. Art. 18 Abs. 1 Buchst. a Dublin III-VO.
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Diese Zuständigkeit ist aufgrund der Antragstellung binnen Jahresfrist nach dem illegalen Grenzübertritt nicht nach Art. 13 Abs. 1 Satz 2 Dublin III-VO entfallen. Auch trat kein Zuständigkeitsübergang auf die Antragsgegnerin nach Maßgabe von Art. 21 Abs. 1 Unterabs. 3 Dublin III-VO ein, weil das Aufnahmegesuch für die Antragstellerin fristgerecht innerhalb von zwei Monaten nach der Eurodac-Treffermeldung erfolgte. Die italienischen Behörden haben hierauf nicht geantwortet, sodass davon auszugehen ist, dass dem Übernahmegesuch stattgegeben wurde (Art. 22 Abs. 7 Dublin III-VO). Italien ist daher nach Art. 22 Abs. 7 i.V.m. Art. 18 Abs. 1 Buchst. a Dublin III-VO innerhalb der offenen sechsmonatigen Überstellungsfrist des Art. 29 Abs. 1 Dublin III-VO verpflichtet, die Antragstellerin aufzunehmen.
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2. Die Überstellung nach Italien ist auch nicht nach Art. 3 Abs. 2 Unterabs. 2 Dublin III-VO unmöglich, d.h. es steht nach summarischer Prüfung nicht im Sinne von § 34a Abs. 1 Satz 1 AsylG fest, dass die Überstellung der Antragstellerin nach Italien nicht durchgeführt werden kann. Dies würde voraussetzen, dass es wesentliche Gründe für die Annahme gäbe, dass das Asylverfahren und die Aufnahmebedingungen in Italien allgemeine oder aber bestimmte Personengruppen betreffende systemische Schwachstellen aufweist, die eine Gefahr einer unmenschlichen oder entwürdigenden Behandlung im Sinne des Art. 4 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (GR-Charta) mit sich bringen. Dies ist nicht der Fall.
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2.1 Nach dem Prinzip der normativen Vergewisserung (vgl. BVerfG, U.v. 14.5.1996 – 2 BvR 1938/93 und 2 BvR 2315/93 – juris) bzw. dem Prinzip des gegenseitigen Vertrauens (vgl. EuGH, U.v. 21.12.2011 – C-411/10 und C-493/10 – juris) gilt die Vermutung, dass die Behandlung der Asylbewerber in jedem einzelnen Mitgliedstaat der Europäischen Union den Vorschriften der Genfer Flüchtlingskonvention, der EMRK und der GR-Charta entspricht. Zwar ist diese Vermutung nicht unwiderleglich. Die nationalen Behörden und Gerichte sind aber nur bei Vorliegen von Anhaltspunkten, die auf ein ernsthaftes Risiko von Verstößen gegen Art. 4 GR-Charta hindeuten, verpflichtet, auf der Grundlage objektiver, zuverlässiger, genauer und gebührend aktualisierter Angaben und im Hinblick auf den durch das Unionsrecht gewährleisteten Schutzstandard der Grundrechte zu würdigen, ob entweder systemische oder allgemeine oder aber bestimmte Personengruppen betreffende Schwachstellen vorliegen. Diese müssen zudem eine besonders hohe Schwelle der Erheblichkeit erreichen, die nur vorliegt, wenn die Gleichgültigkeit der Behörden des Mitgliedstaats zur Folge hätte, dass einem Asylbewerber gerade aufgrund seiner besonderen Schutzbedürftigkeit und unabhängig von seinem Willen und seinen persönlichen Entscheidungen eine Situation extremer materieller Not drohen würde, die es ihm nicht erlauben würde, seine elementarsten Bedürfnisse zu befriedigen, wie insbesondere sich zu ernähren, sich zu waschen und eine Unterkunft zu finden, und die ihre physische oder psychische Gesundheit beeinträchtigen oder sie in einen Zustand der Verelendung versetzen würde (EuGH, U.v. 19.3.2019 – C-163/17 – juris Rn. 92, 95).
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2.2 Ausgehend von diesen Maßstäben und im Einklang mit der aktuellen (auch) obergerichtlichen Rechtsprechung ist im gegenwärtigen Zeitpunkt nicht davon auszugehen, dass die Antragstellerin in Italien tatsächlich Gefahr läuft, bei einer Überstellung nach Italien einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung ausgesetzt zu sein.
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2.2.1 Das italienische Asylverfahren weist keine allgemeinen oder bestimmte Personengruppen betreffenden systemischen Mängel auf. Asylbewerber haben in Italien entsprechend dem Grundrecht auf Asyl Zugang zu einem rechtsstaatlichen Asylverfahren mit gerichtlichen Beschwerdemöglichkeiten. Bei Überstellung nach Italien besteht auch nicht die beachtliche Wahrscheinlichkeit, dass Dublin-Rückkehrenden Obdachlosigkeit droht. Das Existenzminimum und die medizinische Versorgung für Dublin-Rückkehrende sind gesichert. Das Gericht schließt sich insoweit der Bewertung in der verwaltungsgerichtlichen, auch obergerichtlichen Rechtsprechung an, die systemische Mängel des Asylverfahrens in Italien überwiegend verneint (vgl. ausführlich BayVGH, U.v. 15.12.2022 – 24 B 22.50020 – juris Rn. 29 ff.; SächsOVG, U.v. 14.4.2022 – 4 A 341/20.A – juris Rn. 29 ff.; OVG MV, U.v. 19.1.2022 – 4 LB 68/17 – juris Rn. 22 ff.; OVG RhPf, B.v. 9.4.2021 – 7 A 11654/20.OVG – juris S. 6)
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2.2.2 Etwas anderes ergibt sich nicht aus den Rundschreiben des italienischen Innenministeriums vom 5. Dezember 2022 und vom 7. Dezember 2022 („Circular Letters“ des „Ministero dell’Interno“) an die Mitgliedstaaten der Europäischen Union. Diesen Schreiben zufolge setzt Italien wegen „plötzlich aufgetretener technischer Gründe“ und der „Nichtverfügbarkeit von Aufnahmeeinrichtungen“ die Aufnahme von Asylbewerbern im Rahmen des Dublin-Verfahrens „vorübergehend“ aus.
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Das Gericht geht nicht davon aus, dass vor diesem Hintergrund im Sinne von § 34a Abs. 1 Satz 1 AsylG feststehen würde, dass die Überstellung der Antragstellerin nach Italien nicht durchgeführt werden könnte.
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Mit einem „Feststehen“ gemäß § 34a Abs. 1 Satz 1 AsylG ist kein Feststehen im Sinne einer absoluten Sicherheit gemeint. Vielmehr reicht es aus, dass nach dem derzeitigen Verfahrensstand und der Erkenntnislage des Bundesamts die Überstellung mit großer Wahrscheinlichkeit durchgeführt werden kann, wobei für den Prognosezeitraum der Aufnahmebereitschaft auf die sechsmonatige Überstellungsfrist des Art. 29 Abs. 2 Dublin III-VO abzustellen ist (vgl. Bergmann in: Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 14. Aufl. 2022, § 29 AsylG, Rn. 53; Hailbronner, Ausländerrecht, Stand: Januar 2023, § 34a AsylG, Rn. 38).
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Aus der Tatsache, dass es sich hier um eine Prognose der zuständigen Behörde handelt, folgt, dass die gerichtliche Kontrolle, ob die Überstellung in diesem Sinne durchgeführt werden kann, naturgemäß eingeschränkt ist (vgl. Hailbronner, Ausländerrecht, Stand: Januar 2023, § 34a AsylG, Rn. 38). Das Gericht kann und muss – zumal im vorliegenden Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes – nicht positiv feststellen, dass die Überstellung innerhalb der Überstellungsfrist mit Sicherheit durchgeführt werden kann. Unzutreffend und damit rechtswidrig wäre die Prognose des Bundesamts nur dann, wenn es weiterhin von einer Durchführbarkeit der Überstellung ausginge, obwohl der ersuchte Mitgliedsstaat ausdrücklich seine fehlende Übernahmebereitschaft erklärt hat oder er zwar nur vorübergehende Gründe für die fehlende Übernahmebereitschaft geltend macht, aber keinerlei Anstrengungen unternimmt, die eine Aufnahme erschwerenden Probleme zu lösen, obwohl derartiges sowohl möglich als auch zumutbar wäre (zum Vorstehenden VG Ansbach, B.v. 4.7.2023 – AN 14 S 23.50252 – juris Rn. 74 ff.).
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Dies zugrunde gelegt ist die Prognoseeinschätzung des Bundesamts, dass eine Überstellung der Antragstellerin nach Italien innerhalb der konkreten, derzeit durch den vorliegenden Antrag auf vorläufigen Rechtsschutz gehemmten Überstellungsfrist möglich ist, hier nicht zu beanstanden. Aus den Rundschreiben des italienischen Innenministeriums kann eine fehlende dauerhafte Übernahmebereitschaft nicht gefolgert werden. Da das Schreiben selbst den „vorübergehenden“ Umstand („temporary suspension“) betont und auf die Notwendigkeit der erneuten Terminierung von Überstellungen („need for rescheduling of reception activities“) hinweist, bestehen keine Anhaltspunkte dafür, dass eine Überstellung der Antragstellerin nach Italien aufgrund der Weigerung der italienischen Behörden nicht möglich sein wird; zudem sind für diesen im Falle einer Verzögerung der Überstellung aufgrund des Zuständigkeitsübergangs bei Fristablauf nach Art. 29 Abs. 2 Dublin III-VO keine Rechtsnachteile zu befürchten (ebenso VG München, B.v. 27.1.2023 – M 10 S 22.50577 – n.v. Rn. 25 ff.; VG Aachen, B.v. 24.1.2023 – 9 L 34/23.A – juris S. 2 f.; B.v. 18.1.2023 – 9 L 22/23.A – juris Rn. 22; VG Regensburg, B.v. 23.1.2023 – RO 13 S 23.50009 – juris S. 8; VG Göttingen, B.v. 6.1.2023 – 1 B 170/22 – juris S. 2; VG Köln, B.v. 5.1.2023 – 11 L 23/23.A – juris S. 2; a.A. VG Arnsberg, U.v. 24.1.2023 – 2 K 2991/22.A – juris Rn. 25; VG Düsseldorf, U.v. 23.2.2023 – 8 K 3701/22.A – juris Rn. 30 ff.).
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Dem steht nicht entgegen, dass Überstellungen von Dublin-Rückkehrern nach Italien seit den Rundschreiben des italienischen Innenministeriums noch nicht wieder stattgefunden haben. Dass Italien in der Lage ist, auf eine kurzfristige Steigerung der Flüchtlingszahlen zu reagieren und die Aufnahmekapazitäten auszuweiten, hat das Land in der Vergangenheit mehrfach gezeigt (insbesondere bei der Aufnahme von ukrainischen Flüchtlingen, vgl. zu den weitgehenden Maßnahmen VG München, U.v. 24.4.2023 – M 5 K 18.52837 – juris Rn. 42). Es liegen auch zum jetzigen Zeitpunkt keine Anhaltspunkte – etwa in Form offizieller amtlicher Erklärungen – vor, dass Italien generell nicht mehr bereit wäre, seinen Pflichten aus der Dublin III-VO nachzukommen (vgl. VG Ansbach, B.v. 4.7.2023 – AN 14 S 23.50252 – juris Rn. 78 f.; a.A. OVG NRW, B.v. 7.6.2023 – 11 A 2343/19.A – juris Rn. 47 ff., jedoch ohne sich mit der Definition zum Begriff des „Feststehens“ in § 34a Abs. 1 Satz 1 AsylG auseinanderzusetzen).
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2.2.3 Außergewöhnliche Umstände, die für ein Selbsteintrittsrecht gemäß Art. 3 Abs. 2 Unterabsatz 2 Dublin III-VO bzw. für eine entsprechende Pflicht der Antragsgegnerin nach Art. 17 Abs. 1 Dublin III-VO sprechen könnten, sind vorliegend nicht gegeben. Denn eine Überstellung der Antragstellerin nach Italien ist auch nicht mit Blick auf die Rechtsprechung des EuGH unmöglich, wonach die beachtliche Wahrscheinlichkeit einer Verletzung von Art. 4 GRCh bzw. Art. 3 EMRK des Asylsuchenden einer Überstellung auch dann entgegenstehen kann, wenn diese Rechtsverletzung nicht die Konsequenz aus der Existenz systemischer Schwachstellen im Zielstaat ist (EuGH, U.v. 16.02.2017 – C-578/16 PPU – juris Rn. 91).
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2.2.3.1 Der EuGH unterscheidet hinsichtlich des Maßstabs für die Prüfung systemischer Mängel in Übereinstimmung mit der Tarakhel-Rechtsprechung des EGMR (EGMR, U.v. 4.11.2014 – 29217/12 – NVwZ 2015, 127) zwischen gesunden und arbeitsfähigen Flüchtlingen, für die eine „harte Linie“ gilt, und andererseits besonders verletzlichen, vulnerablen Antragstellern, bei denen die Wahrscheinlichkeit, dass sie unabhängig vom eigenen Willen und persönlichen Entscheidungen in eine Situation extremer materieller Not geraten, wesentlich größer ist. Insoweit ist für Kleinkinder, minderjährige unbegleitete Flüchtlinge, Kranke oder sonstige vulnerable Personen im Dublin-Raum von einem anderen, höheren Schutzstandard auszugehen, der vor einer Überstellung ggf. eine individuelle Versorgungszusicherung des Zielstaats erfordert (EuGH, U.v. 19.3.2019 – C-163/17 – juris Rn. 87 ff. und U.v. 19.3.2019 – C-297/17 u.a. Rn. 86 f.).
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Dementsprechend hat auch das BVerfG entschieden, dass nach den Umständen des konkreten Einzelfalls im Zielstaat auch dann, wenn systemische Mängel nicht vorliegen, für vulnerable Personen die Einholung einer individuellen Versorgungszusicherung erforderlich sein kann. Für Kleinkinder, d.h. Kinder bis zu drei Jahren, hat das BVerfG diesen Grundsatz dahingehend konkretisiert, dass eine individuelle Zusicherung dann vorausgesetzt wird, wenn auf der Grundlage der aktuellen Erkenntnismittel tatsächliche Anhaltspunkte dafür bestehen, dass dem Betroffenen aufgrund seines Alters ohne eine Zusicherung im Falle einer Überstellung vorübergehende Obdachlosigkeit oder eine nicht kind- und familiengerechte Unterbringung drohen würden (zum Vorstehenden BVerfG, B.v- 10.10.2019 – 2 BvR 1380/19 – juris Rn. 16 ff. m.w.N).
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2.2.3.2 Gemessen hieran ist eine solche Zusicherung im streitgegenständlichen Fall – entgegen der Auffassung ihrer Bevollmächtigten der Antragstellerin – nicht erforderlich.
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Hinsichtlich der Zugehörigkeit zu einer vulnerablen Personengruppe bringt die Antragstellerin vor, dass sie mittlerweile Mutter eines erst am 14. November geborenen Kleinkindes ist. Zudem sei sie in Italien Opfer sexuellen Missbrauchs in Form von Menschenhandel geworden und bestünde bei einer Überstellung die Gefahr einer Reviktimisierung.
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(1) Im Hinblick auf ersteren Vortrag ist festzustellen, dass das Kleinkind der Antragstellerin – das von der Mutter aufgrund des Rechts auf Familieneinheit nach Art. 6 Abs. 1 GG, Art. 7 GRCh und Art. 8 Abs. 1 EMRK nicht getrennt werden darf (vgl. hierzu Art. 20 Abs. 3 Dublin III-VO; grundsätzlich hierzu auch BayVGH, U.v. 3.12.2015 – 13a B 15.50124 – juris) – zwar einer vulnerablen Gruppe im Sinne des Art. 21 der RL 2013/33/EU zur Festlegung von Normen für die Aufnahme von Personen, die internationalen Schutz beantragen, vom 26. Juni 2013 (ABl. L 180/96, sog. Aufnahmerichtlinie) und im Sinne der o.g. Rechtsprechung des BVerfG angehört.
41
Jedoch ist nicht ersichtlich, dass diesem bei einer Überstellung nach Italien im gegenwärtigen Zeitpunkt vorübergehende Obdachlosigkeit oder eine nicht kind- und familiengerechte Unterbringung im Sinne der Rechtsprechung des BVerfG drohen würden.
42
Anders als noch im Jahr 2020 (vgl. VG München, U.v. 28.20.2020 – M 19 K 19.51141 – juris Rn. 46 ff.) ist davon auszugehen, dass die gegenwärtigen Asylbedingungen in Italien bezüglich Ankunft und Einrichtungen dem geforderten besonderen Schutz Asylsuchender mit spezifischen Bedürfnissen und extremer Verletzlichkeit gerecht werden (vgl. EGMR, U.v. 23.3.2021 – 46595/19 – BeckRS 2021, 7508 Rn. 48 ff., v.a. Rn. 57 in Bezug auf eine alleinstehende Mutter mit zwei minderjährigen Töchtern; ausführlich auch VG München, U.v. 24.4.2023 – M 5 K 18.52837 – juris Rn. 29 ff.; VG Gießen, B.v. 15.3.2022 – 3 L 91/22.Gl.A, 8455852 – juris Rn. 7 ff.; VG Würzburg, U.v. 1.3.2021 – W 10 K 20.50220 – juris S. 21 f.). Insbesondere wird eine menschenwürdige Überstellung durch verfahrensmäßige Vorkehrungen gewährleistet. Überstellungen nach Italien nach der Dublin III-VO werden engmaschig durch die deutsche Ausländerbehörde betreut. Zeitnah vor einer tatsächlichen Durchführung der Überstellung findet ein entsprechender Austausch statt, um die besonderen Bedürfnisse der Betroffenen abzuklären. Die Überstellung vulnerabler Personen wird den italienischen Behörden mehr als eine Woche vorher angekündigt. Ihre Zustimmung zu einer tatsächlichen Überstellung erfolgt nur, wenn eine angemessene Unterkunft und Versorgung sichergestellt ist. Durch die Organisation des Überstellungsverfahrens ist gewährleistet, dass Familien mit ihren Kindern unmittelbar im Anschluss an die Rückführung nach Italien eine gemeinsame Unterkunft erhalten (VG München, U.v. 24.4.2023 – M 5 K 18.52837 – juris Rn. 43 mit Verweis u.a. auf SächsOVG, U.v. 22.3.2022 – 4 A 389/20.A – juris Rn. 39 ff., 44; U.v. 14.3.2022 – 4 A 341/20.A – juris Rn. 35, 38, 40 m.w.N.).
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Nach den aktuellen Erkenntnismitteln ist das italienische Aufnahmesystem in den vergangenen Jahren mehrfach geändert worden (vgl. aida, Country Report Italy 2021, S. 110 ff., 130 ff.; Schweizerische Flüchtlingshilfe (SFH), Aufnahmebedingungen in Italien – Aktuelle Entwicklungen, Stand: 10.6.2021, S. 4). Restriktionen aus der Ära Salvini wurden rückgängig gemacht; mittlerweile ist die finanzielle Grundlage für Aufnahmezentren aufgrund geänderter Ausschreibungen nicht mehr so prekär wie zuvor (SFH, Aufnahmebedingungen in Italien 2021, S. 5). Zudem wurde das SIPROIMI-System im Jahr 2020 in SAI (Sistema di Accoglienza e Integrazione – Aufnahme- und Integrationssystem) umbenannt und umorganisiert. In der Aufnahmephase erfolgt die Unterbringung in kleinen Einrichtungen des SAI. Sofern wegen hoher Zahlen ankommender Asylsuchender nicht genügend Plätze zur Verfügung stehen, kann die Erstaufnahme in temporären Strukturen, sogenannten CAS, erfolgen (aida, Country Report Italy 2021, S. 117 ff., 130 ff.). Auch wenn sich die Qualität der Unterbringungsbedingungen zwischen einzelnen Unterkünften unterscheidet, fehlen gewichtige Anhaltspunkte für die Annahme, dass die elementarsten Bedürfnisse in den Aufnahmeeinrichtungen nicht erfüllt würden. Zur Überbrückung ist zudem auch eine vorübergehende Unterbringung in einer Notunterkunft zuzumuten und nicht menschrechtswidrig (VG Bremen, B.v. 21.8.2021 – 6 V 721/21 – juris Rn. 39 und 42; vgl. auch VGH BW, B.v. 8.11.2021 – A 4 S 2850/21 – juris Rn. 10 m.w.N.; zum Vorstehenden im Ganzen VG München, U.v. 24.4.2023 – M 5 K 18.52837 – juris Rn. 30, 37).
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Im Ergebnis sind keine Anhaltspunkte ersichtlich, die im aktuellen Zeitpunkt die sich aus dem Grundsatz gegenseitigen Vertrauens ergebende Vermutung der Versorgungssicherheit der Antragstellerin als alleinerziehende Mutter eines Kleinkindes in Italien widerlegen. Hierzu hat die Antragstellerin auch nichts Substantiiertes dargelegt.
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(2) Auch aus dem Vortrag der Antragstellerin, sie sei in Italien Opfer sexueller Gewalt in Form des Menschenhandels worden, ergibt sich – bei Unterstellung seiner Wahrheit – allenfalls, dass die Antragstellerin unter die Gruppe vulnerabler Personen fällt (VG Köln, U.v. 23.9.2019 – 12 K 1779/19.A – juris Rn. 29; VG Würzburg, U.v. 26.11.2019 – W 10 K 19.50275 – juris Rn. 45). Allerdings schließt sich das Gericht der Einschätzung der Sonderbeauftragten für die Opfer von Menschenhandel an, nach der keine Gefahr einer Reviktimisierung der Antragstellerin in Italien besteht und daher auch nicht von einer beachtlichen Wahrscheinlichkeit auszugehen ist, dass diese unabhängig vom eigenen Willen in eine Situation extremer Not geraten wird.
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Dies ergibt sich daraus, dass die Antragstellerin den Kontakt zu der Zuhälterin nach eigenen Angaben bereits in Italien abgebrochen hat und seitdem keinen Kontakt mehr zu ihr hat. Auch sind seitens der Zuhälterin oder anderer Personen keine Versuche einer erneuten Kontaktaufnahme erfolgt. Der letzte Kontakt habe stattgefunden, bevor sie das Haus der Zuhälterin verlassen habe. Soweit die Antragstellerin also nicht aus eigenem Antrieb wieder Kontakt zu diesem Personenkreis aufnimmt, droht ihr keine Reviktimisierung. Soweit sie vorgetragen hat, dass ihre Mutter von der Schwester der Zuhälterin in Nigeria bedroht worden sei, weil die Antragstellerin der Zuhälterin noch Geld schulde, ist festzustellen, dass es sich dabei nach den eigenen Angaben der Antragstellerin um einen einmaligen Vorfall gehandelt hat und dass diese Gefahr auch durch einen (dauerhaften) Aufenthalt der Antragstellerin im Bundesgebiet nicht beseitigt werden könnte. Insofern müssten sich ihre Angehörigen im Herkunftsland im Falle weiterer Drohungen an die dortigen Sicherheitskräfte wenden. Im Übrigen weist die Sonderbeauftragte für die Opfer von Menschenhandel zurecht darauf hin, dass die Antragstellerin in Italien polizeilichen Schutz in Anspruch nehmen kann, sollte sie wiederum von den Menschenhändlern oder anderen Personen belästigt werden. Es ist mangels anderweitiger Anhaltspunkte nicht davon auszugehen, dass diese die Antragstellerin im Falle einer konkreten Bedrohung nicht schützen würde. Bisher hatte die Antragstellerin die Sicherheitsbehörden in Italien schließlich nicht kontaktiert (vgl. zum Vorstehenden auch VG Würzburg, U.v. 26.11.2029 – W 10 K 19.50275 – juris Rn. 46 ff.).
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Unabhängig davon weisen die Aussagen der Antragstellerin Widersprüche auf. So gab sie in ihrer Anhörung zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats beim Bundesamt am 1. Dezember 2022 an, von der Zuhälterin oft geschlagen worden zu sein, wenn sie ihren Anweisungen nicht Folge leistete; im weiteren Verlauf des Gesprächs trug sie dann aber vor, von der Zuhälterin kurz vor ihrer Flucht zum ersten Mal bedroht worden zu sein, als diese sie zur Abtreibung zwingen wollte. Erst nachdem sie auf diesen Widerspruch angesprochen wurde, korrigierte die Antragstellerin ihre Aussage dahingehend, die Drohungen kurz vor ihrer Flucht seien besonders schlimm gewesen. Zudem gab sie auf der einen Seite an, sie habe das Haus nicht verlassen dürfen, auf der anderen Seite soll ihr nach ihrer eigenen Aussage die Flucht schon beim ersten Versuch problemlos durch die unverschlossene Tür gelungen sein.
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Vor diesem Hintergrund unterscheidet sich der streitgegenständliche Fall hinsichtlich der angegebenen Umstände der sexuellen Ausbeutung und der Glaubhaftigkeit des entsprechenden Vortrags von anderen Fällen, in denen in der Rechtsprechung die Gefahr einer Reviktimisierung teilweise bejaht und daher eine individuelle Zusicherung der Versorgung und sicheren Unterbringung für erforderlich gehalten wurde (vgl. etwa VG München, B.v. 16.1.2023 – M 10 S 22.50498 – n.v.: Versuche der erneuten Kontaktaufnahme, umfangreiche Ermittlungen durch die deutschen Polizeibehörden, eidesstattliche Versicherung, fachärztlich-psychiatrisches Gutachten; VG Freiburg, U.v. 21.1.2021 – A 9 K 666/20 – juris: Feststellungen des Strafgerichts, dass die Betroffene Opfer sexueller Ausbeutung war, Aufnahme der Betroffenen in das Opferzeugenschutzprogramm wegen ihrer Aussagen gegen einen nachweislich weit vernetzten Menschenhändlerring, durch den die Betroffene von Ort zu Ort weitergeschleust wurde (d.h. konkrete Gefahr nicht nur einer Reviktimisierung, sondern auch von Rachemaßnahmen); VG München, U.v. 2.11.2017 – M 18 K 16.51084 – juris: zweimalige erneute Kontaktaufnahme trotz längerer Abwesenheit).
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2.4 Anhaltspunkte für Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 oder nach § 60 Abs. 7 AufenthG sind nicht erkennbar.
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Der auf ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 AufenthG abzielende Vortrag der Antragstellerin, sie habe Myome in der Gebärmutter und Bakterien auf der Haut, hindert eine Überstellung nach Italien nicht.
51
Nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG soll von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat abgesehen werden, wenn dort für diesen Ausländer eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht. Eine erhebliche konkrete Gefahr aus gesundheitlichen Gründen im Sinne dieser Vorschrift liegt nur vor bei lebensbedrohlichen oder schwerwiegenden Erkrankungen, die sich durch die Abschiebung wesentlich verschlechtern würden (§ 60 Abs. 7 Satz 3 AufenthG). Nach § 60 Abs. 7 Satz 4 AufenthG ist nicht erforderlich, dass die medizinische Versorgung im Zielstaat mit der Versorgung in der Bundesrepublik Deutschland gleichwertig ist.
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Für ein Abschiebungsverbot aus gesundheitlichen Gründen ist erforderlich, dass sich eine nachgewiesenermaßen vorhandene Erkrankung des Ausländers aufgrund zielstaatsbezogener Umstände in einer Weise verschlimmert, die zu einer erheblichen und konkreten Gefahr für Leib und Leben führt, das heißt, dass eine wesentliche Verschlimmerung der Erkrankung alsbald nach der Rückkehr des Ausländers droht (vgl. BVerwG, U.v. 17.10.2006 – 1 C 18.05 – juris Rn. 15). Bei dem gesundheitlichen Grund muss es sich um äußerst gravierende, insbesondere lebensbedrohliche Erkrankungen handeln (vgl. Koch in Kluth/Heusch, BeckOK AuslR, Stand 1.7.2020, § 60 AufenthG, Rn. 40 mit Verweis auf BT-Drs. 18/7538, 18). An die Gefahrenprognose hinsichtlich der Erheblichkeit der Verschlechterung des Gesundheitszustandes ist der Maßstab der hohen Wahrscheinlichkeit anzulegen, der dann erfüllt ist, wenn der Ausländer bei einer Rückkehr in den Abschiebungszielstaat in eine extreme Gefahrenlage geraten würde (vgl. BVerwG, B.v. 23.8.2018 – 1 B 42.18 – juris Rn. 13 m.w.N.), aufgrund derer er gewissermaßen sehenden Auges dem sicheren Tod oder schwersten Verletzungen ausgesetzt wäre (vgl. BayVGH, B.v. 24.7.2015 – 9 ZB 14.30457 – juris Rn. 11 m.w.N.). Konkret ist die Gefahr, wenn die Verschlechterung alsbald nach der Abschiebung des Betroffenen einträte (BVerwG, U.v. 22.3.2012 – 1 C 3.11 – juris Rn. 34).
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Dies zugrunde gelegt kann der Vortrag der Antragstellerin ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG nicht begründen. Bei den angegebenen Beschwerden handelt es sich schon um keine einer lebensgefährlichen Krankheit gleichkommenden schweren gesundheitlichen Beeinträchtigungen. Jedenfalls hat die Antragstellerin weder vorgetragen noch sind Anhaltspunkte dafür ersichtlich, dass diese Krankheiten im Zielstaat Italien nicht ebenso behandelt werden könnten wie in der Bundesrepublik und daher alsbald nach einer Überstellung eine erhebliche Verschlechterung ihres Gesundheitszustandes eintreten würde. Die medizinische Versorgung für Dublin-Rückkehrer in Italien ist gewährleistet, insbesondere haben diese Zugang zu einer kostenlosen Grund- und Notfallversorgung (vgl. ausführlich VG München, U.v. 24.4.2023 – M 5 K 18.52837 – juris Rn. 55 f. m.w.N., u.a. auf aida, Country Report: Italy 2021, S. 143 ff.).
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2.5 Unter Berücksichtigung des Grundsatzes des gegenseitigen Vertrauens steht für das Gericht daher in der gebotenen, aber auch ausreichenden summarischen Prüfung im Sinne von § 34a Abs. 1 Satz 1 AsylG fest, dass die Antragstellerin innerhalb der Überstellungsfrist nach Art. 29 Abs. 2 Dublin III-VO nach Italien abgeschoben werden kann. Die Asylbehörden sind verpflichtet, beim Vollzug der Abschiebeanordnung darauf zu achten, dass Mutter und Kind nur gemeinsam nach Italien überstellt werden (vgl. hierzu Rn. 40).
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B. Der Antrag war daher mit der Kostenfolge des § 154 Abs. 1 VwGO abzulehnen. Gerichtskosten werden nicht erhoben (§ 83b AsylG).
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C. Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 80 AsylG).