Titel:
Überbewertung in der Bilanz bei nichtexitierenden Treuhandkonten (Wirecard)
Normenkette:
AktG § 256 Abs. 5
Leitsätze:
1. Saldenbestätigungen sind (zwar nicht zwingend als unecht / gefälscht im Sinne von „nicht vom Treuhänder … stammend“, aber) als falsch im Sinne von „inhaltlich unrichtig“ anzusehen, wenn sich auf den Konten, auf die sich die Saldenbestätigungen beziehen, die bestätigten Guthaben nicht existieren. (Rn. 14) (redaktioneller Leitsatz)
2. Eine Veruntreuung der Treuhandguthaben vor den jeweiligen Bilanzstichtagen stellt nur einen Unterfall der Nichtexistenz der Guthaben zu den Bilanzstichtagen dar. Denn sollten existierende Guthaben bereits vor den Bilanzstichtagen dem Zugriff der Beklagten durch strafbare Handlungen entzogen worden sein, standen sie der Beklagten zu den Bilanzstichtagen nicht mehr in bilanzierungsfähiger Form zur Verfügung. (Rn. 16) (redaktioneller Leitsatz)
3. Im Falle der Nichtexistenz der Treuhandguthaben kann eine wesentliche Überbewertung der Aktiva in den streitgegenständlichen Jahresabschlüssen der Beklagten iSv § 256 Abs. 5 Nr. 1 AktG vorliegen. (Rn. 22) (redaktioneller Leitsatz)
4. Anders als bei der Unterbewertung nach § 256 Abs. 5 Nr. 2 AktG setzt die Nichtigkeit wegen Überbewertung nach § 256 Abs. 5 Nr. 1 AktG keinen Vorsatz der Bilanzverantwortlichen voraus. Nichtigkeit tritt jedoch nur ein, wenn die Fehlbewertung nach den zum Bilanzstichtag bestehenden Verhältnissen für ordentliche Kaufleute erkennbar war. Damit sollen unvermeidbare Fehlbewertungen vom Verdikt der Nichtigkeit ausgenommen werden, auch ein wesentlicher Bewertungsverstoß führt nicht zur Nichtigkeit, wenn er bei Ausschöpfung aller Erkenntnismöglichkeiten nicht hätte vermieden werden können. (Rn. 29) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Bilanz, Nichtigkeit, Überbewertung, Treuhandkonto, Guthaben, Existenz
Vorinstanz:
LG München I, Endurteil vom 05.05.2022 – 5 HK O 15710/20
Rechtsmittelinstanz:
OLG München, Beschluss vom 08.08.2023 – 7 U 3337/22
Fundstellen:
AG 2023, 908
BeckRS 2023, 20156
NZG 2024, 215
LSK 2023, 20156
Tenor
1. Der Senat beabsichtigt, die Berufung des Streithelfers gegen das Urteil des Landgerichts München I vom 05.05.2022 (Az.: 5 HK O 15710/20) durch einstimmigen Beschluss gemäß § 522 Abs. 2 ZPO zurückzuweisen.
2. Es besteht Gelegenheit zur Stellungnahme bis zum 21.07.2023.
Entscheidungsgründe
1
Die Berufung hat keine Aussicht auf Erfolg im Sinne von § 522 Abs. 2 ZPO. Weder weist der Rechtsstreit grundsätzliche Bedeutung auf noch erscheint eine Entscheidung des Berufungsgerichts aufgrund mündlicher Verhandlung zur Fortbildung des Rechts oder zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung erforderlich. Eine mündliche Verhandlung ist nicht geboten.
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Die Würdigung des Landgerichts ist frei von Rechtsfehlern (§§ 513 Abs. 1, 546 ZPO). Unter zutreffender Würdigung des Parteivortrags, der Gesamtumstände sowie der vorgelegten Unterlagen hat das Landgericht der auf Feststellung der Nichtigkeit der Jahresabschlüsse der Beklagten zum 31.12.2017 und zum 31.12.2018 sowie der Gewinnverwendungsbeschlüsse vom 21.6.2018 und vom 18.6.2019 gerichteten Klage stattgegeben.
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Die hiergegen von Seiten des Streithelfers der Beklagten vorgebrachten Einwände überzeugen nicht und vermögen seinem Rechtsmittel nicht zum Erfolg zu verhelfen. Zu den Berufungsangriffen im einzelnen ist wie folgt Stellung zu nehmen.
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1. Zu Recht ist das Landgericht davon ausgegangen, dass sich die von der Beklagten bzw. ihren Tochtergesellschaften (als liquide Mittel) bilanzierten Treuhandguthaben zu den Bilanzstichtagen 31.12.2017 bzw. 31.12.2018 jedenfalls nicht auf denjenigen Konten befanden, auf die sich die Saldenbestätigungen des Treuhänders … zu diesen Stichtagen beziehen. Das sagt das Landgericht zwar nicht ausdrücklich; es liegt aber seiner Annahme, dass die Treuhandguthaben entweder nicht existierten oder vor den Bilanzstichtagen veruntreut wurden oder sich auf anderen Konten befanden, zugrunde; denn diese Annahme würde anderenfalls keinen Sinn machen.
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a) Die vorgelegten, auf die Bilanzstichtage bezogenen Saldenbestätigungen des Treuhänders … (vgl. zusammenfasst Anlage K 74) beziehen sich auf bei der … Corporate in … [im folgenden: … ] geführte Konten. Zwar nennen die Saldenbestätigungen keine Kontonummern, sie konnten aber von allen Beteiligten, insbesondere von den Bilanzverantwortlichen der Beklagten und von den Abschlussprüfern nur dahin verstanden werden, dass sie sich auf Konten bei der … bezogen. Das Landgericht geht daher zu Recht davon aus (LGU 18), dass sich nach der Vorstellung der Beteiligten die von … verwalteten Treuhandguthaben bei der … befanden.
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Sowohl eine der Saldenbestätigungen zum 31.12.2017 als auch die Saldenbestätigung zum 31.12.2018 (jeweils Anlage K 74) nennen ein Konto mit der Kontonummer … (mit einem Kontostand vom rund 327 Mio. € zum 31.12.2017 bzw. rund 305 Mio. € zum 31.12.2018), jeweils ohne Angabe des kontoführenden Bankinstituts. Diese Kontonummer … taucht bereits in einer früheren Saldenbestätigung zum 31.12.2015 (Anlage K 88), dort allerdings unter Angabe des Kreditinstituts, nämlich der … auf. In Kenntnis dieser früheren Saldenbestätigung mussten also die Bilanzverantwortlichen bei der Beklagten einschließlich der Abschlussprüfer davon ausgehen, dass das in den Saldenbestätigungen zu den aktuellen Bilanzstichtagen gemäß Anlage K 74 genannte Konto … (weiterhin) bei der … geführt wurde.
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Ferner nennen sowohl die Saldenbestätigungen zum 31.12.2017 als auch die Saldenbestätigung zum 31.12.2018 (jeweils Anlage K 74) zwei Konten mit den Kontonummern … und …, jeweils ohne Angabe des kontoführenden Bankinstituts. In einer früheren Saldenbestätigung zum 31.3.2016 (Anlage K 44) ist ein Konto mit der Nummer … bei der … genannt. Die vorstehend genannten, in den Saldenbestätigungen zu den aktuellen Stichtagen aufgeführten Kontonummern unterscheiden sich daher nur in der Endziffer (2, 3) von dem in Anlage K 44 genannten Konto bei der … (Endziffer 1), was bei verständiger Würdigung die Annahme nahe legen würde, dass auch diese Konten in den aktuellen Saldenbestätigungen bei der … geführt würden. In Kenntnis der Saldenbestätigung gemäß Anlage K 44 mussten die Bilanzverantwortlichen der Beklagten einschließlich der Abschlussprüfer jedenfalls hiervon ausgehen.
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Damit lässt sich die Mehrzahl der in den Saldenbestätigungen zu den Bilanzstichtagen gemäß Anlage K 74 genannten Kontonummern aus der maßgeblichen Sicht der Empfänger der Bestätigungen, also der Bilanzverantwortlichen, eindeutig der … zuordnen. Vor diesem Hintergrund mussten die Bilanzverantwortlichen jedenfalls ohne nähere Erläuterungen davon ausgehen, dass auch die übrigen in den Saldenbestätigungen gemäß Anlage K 74 genannten Konten (… und … zum 31.12.2017; … zum 31.12.2018) bei der … geführt wurden; auf der Basis dieser Annahme erfolgte sodann die Bilanzierung dieser Treuhandguthaben.
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b) Auf den vom Treuhänder … bei der … geführten Konten befanden sich aber – wovon das Landgericht zu Recht ausgegangen ist (LGU 17) – nur Werte von zusammen rund 1,5 Mio. € (zum Bilanzstichtag 31.12.2017) bzw. rund 2 Mio. € (zum Bilanzstichtag 31.12.2018), obwohl sich nach den Saldenbestätigungen (K 74) die dort befindlichen Treuhandguthaben auf rund 712 Mio. € (zum 31.12.2017) bzw. rund 975 Mio. € (zum 31.12.2018) belaufen sollten.
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Der Kläger hat vor dem High Court von Singapur einen Anspruch auf Auskunft gegen die … über die dort für den Treuhänder … und / oder deren Director … geführten Konten erstritten und die Ergebnisse der Auskunft als Anlagen K 66 – K 69, K 71, K 72 vorgelegt. Auf der Basis dieser erteilten Auskünfte durfte das Landgericht den Schluss ziehen, dass die in den Saldenbestätigungen zu den Bilanzstichtagen aufgeführten Treuhandguthaben auf den in den Saldenbestätigungen genannten Konten nicht vorhanden waren.
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Das betrifft zunächst das in den Saldenbestätigungen zu beiden Stichtagen aufgeführte Konto mit der Kontonummer …, das laut den Bestätigungen zu den Stichtagen Kontostände von rund 327 Mio. € (2017) bzw. rund 305 Mio. € (2018) aufweisen sollte. Für dieses Konto liegen nunmehr die Kontoauszüge vom 30.8.2006 bis 31.7.2020 vor (Anlage K 66). Hieraus ergibt sich zunächst, dass das Konto nicht in Euro, sondern in Singapur-Dollar geführt wurde. Weiter erhellt daraus, dass das Konto nie Guthaben in der Größenordnung der angeblich dort deponierten Treuhandguthaben und insbesondere zu den Bilanzstichtagen lediglich Guthaben von 2,3 Mio. bzw. 2,9 Mio. Singapur-Dollar aufwies. Dies lässt nur den Schluss zu, dass jedenfalls auf diesem Konto kein (nennenswertes) Treuhandguthaben für die Beklagte verwahrt wurde.
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Für die weiteren in den Saldenbestätigungen zu den Bilanzstichtagen genannten Konten (Kontonummern …, …, …, …, …) hatte die … auf die Auskunftsverurteilung hin keine Kontoauszüge vorgelegt. Auf diesbezügliche Nachfrage der für das Verfahren in Singapur bevollmächtigten Anwälte des Klägers vom 29.10.2021 (bei Anlage K 72) antworteten die Anwälte von … (deren Vollmacht, für … zu handeln, in der mündlichen Verhandlung vor dem Landgericht unstreitig gestellt wurde) mit Schreiben vom 3.11.2021, dass bei der … über die vorgelegten Kontoauszüge hinaus keine weiteren Konten für … vorhanden seien. Wie das Landgericht zutreffend ausführt (LGU 18), konnten die Beklagte und der Berufungsführer keinerlei konkrete Anhaltspunkte für die Unrichtigkeit der erteilten Auskunft vorbringen, zumal die Auskunft von einer international renommierten Großbank auf entsprechende gerichtliche Verurteilung erteilt wurde. Das Landgericht war daher nicht gehindert, auf der Basis dieser Auskunft den Schluss zu ziehen, dass die eingangs dieses Absatzes genannten Konten nicht existierten, so dass entgegen den Saldenbestätigungen die Treuhandguthaben sich nicht auf diesen Konten befinden konnten.
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Selbst wenn man (wofür es allerdings keine Anhaltspunkte gibt) unterstellen wollte, dass die soeben erörterten Konten möglicherweise doch existierten, verbliebe jedenfalls das Konto …, dessen Genese durch Kontoauszüge belegt ist und auf dem sich zu den Bilanzstichtagen die angeblich dort befindlichen Treuhandguthaben in Höhe von rund 327 Mio. € (31.12.2017) bzw. rund 305 Mio.€ (31.12.2018) nicht befanden.
14
c) Damit erweisen sich die vorgelegten Saldenbestätigungen (zwar nicht zwingend als unecht / gefälscht im Sinne von „nicht vom Treuhänder … stammend“, aber) als falsch im Sinne von „inhaltlich unrichtig“: Auf den Konten, auf die sich die Saldenbestätigungen bezogen, existierten die bestätigten Guthaben nicht.
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2. Aus dem vorstehenden Befund (= die Treuhandguthaben befanden sich zu den Bilanzstichtagen nicht auf den Konten, auf die sich die Saldenbestätigungen beziehen) hat das Landgericht geschlussfolgert, dass die Treuhandguthaben entweder nicht existierten oder vor den Bilanzstichtagen veruntreut wurden oder (zwar existierten, aber) sich auf anderen Konten befanden. Diese Schlussfolgerung wird vom Senat geteilt.
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Sie bedarf allenfalls einer geringfügigen Präzisierung. Die vom Landgericht für möglich gehaltene Veruntreuung der Treuhandguthaben vor den jeweiligen Bilanzstichtagen stellt nur einen Unterfall der Nichtexistenz der Guthaben zu den Bilanzstichtagen dar. Denn sollten existierende Guthaben bereits vor den Bilanzstichtagen dem Zugriff der Beklagten durch strafbare Handlungen entzogen worden sein, standen sie der Beklagten zu den Bilanzstichtagen nicht mehr in bilanzierungsfähiger Form zur Verfügung. Damit verbleiben letztlich nur zwei Möglichkeiten: die Treuhandguthaben existierten nicht / nicht mehr (im folgenden: Variante (1)) oder sie existierten auf anderen Konten als auf den in den Saldenbestätigungen genannten (im folgenden: Variante (2)).
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Die vorstehenden Ausführungen stellen eine logische Schlussfolgerung aus den unter Ziffer 1 dargestellten Befunden dar. Das Ziehen von Folgerungen ist ureigenste Aufgabe des Gerichts. Unerheblich ist insofern, ob die Parteien diese Folgerungen teilen oder vorgetragen haben.
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Der Senat teilt auch die Einschätzung des Landgerichts, dass eine Beweisaufnahme zu der Frage, welche der verbleibenden Alternativen zutrifft, entbehrlich ist, wenn beide zu der selben Rechtsfolge, nämlich zur Nichtigkeit der Jahresabschlüsse führen. Letzteres trifft zu, wie nachfolgend zu zeigen ist.
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3. Zu Recht ist das Landgericht davon ausgegangen, dass im Falle der Nichtexistenz der Treuhandguthaben (obige Variante (1)) eine wesentliche Überbewertung der Aktiva in den streitgegenständlichen Jahresabschlüssen der Beklagten im Sinne von § 256 Abs. 5 Nr. 1 AktG vorliegt.
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Zutreffend ist zunächst der Ausgangspunkt des Landgerichts, dass Abwertungsbedarf hinsichtlich der Bilanzposten „Zahlungsmittel“ (soweit es um fehlende Treuhandguthaben zugunsten der Beklagten geht) sowie „Beteiligungen“ (soweit es um fehlende Treuhandguthaben zugunsten von Tochtergesellschaften geht; es leuchtet unmittelbar ein, dass eine Gesellschaft weniger wert ist, wenn ein wesentlicher Vermögensposten fehlt) besteht.
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Ferner geht das Landgericht zutreffend davon aus, dass nach dem in § 256 Abs. 4 AktG zum Ausdruck gekommenen allgemeinen Rechtsgedanken die Überbewertung von Bilanzpositionen nur dann zur Nichtigkeit des Jahresabschlusses führt, wenn deren Umfang wesentlich ist, es also zu einer signifikanten Beeinflussung der Bilanzsumme kommt (vgl. dazu die LGU 22 aufgeführten Nachweise).
22
Das Landgericht war nicht gehindert, auf der Basis seiner Feststellungen von einer derart signifikanten Überbewertung auszugehen. Insgesamt fehlen mit den Saldenbestätigungen gemäß K 74 bescheinigte Treuhandguthaben von rund 712 Mio. € (2017) bzw. rund 975 Mio. € (2018), das sind rund 37% der Bilanzsumme 2017 von rund 1.897 Mio. € bzw. rund 41% der Bilanzsumme 2018 von rund 2.344 Mio. €. Angesichts dieser Größenordnungen konnte das LG entgegen der Berufung eine signifikante Überbewertung feststellen, ohne dies für einzelne Bilanzposten aufschlüsseln und jeweils dem gewählten den zutreffenden Bilanzansatz gegenüberstellen zu müssen.
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Selbst wenn man (wie nicht) nur auf die fehlenden Treuhandguthaben auf dem Konto … abstellen könnte (vgl. dazu oben 1 b am Ende), würden Treuhandguthaben von rund 327 Mio. € (das sind rund 17% der Bilanzsumme 2017) bzw. von rund 305 Mio. € (das sind rund 13% der Bilanzsumme 2018) fehlen. Auch dieser Befund würde nach Auffassung des Senats bereits eine signifikante Überbewertung der Aktiva begründen.
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4. Der Senat teilt im Ergebnis auch die Einschätzung des Landgerichts, dass sich im Falle der Existenz der Treuhandguthaben auf anderen als den in den maßgeblichen Saldenbestätigungen angegebenen Konten (obige Variante (2)) eine Überbewertung der Aktiva gemäß § 256 Abs. 1, Abs. 5 Nr. 1 AktG ergibt. Insoweit bedarf der Ansatz des Landgerichts ungeachtet des zutreffenden Ergebnisses allerdings der Präzisierung.
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Die der Bilanzierung zugrunde gelegten Saldenbestätigungen waren inhaltlich falsch (vgl. oben); jedenfalls bei der … bestanden die bilanzierten Treuhandguthaben nicht. Das bedeutet, dass (im hier bei Variante (2) unterstellten Fall der Existenz der Treuhandguthaben auf anderen Konten) objektiv keinerlei Belege für die Existenz dieser Treuhandguthaben vorlagen. Unter diesem Gesichtspunkt ist der Auffassung des Landgerichts beizupflichten: Ein sachkundiger Dritter kann sich entgegen § 238 Abs. 1 S. 2, 3 HGB keinen Überblick über die Lage der Gesellschaft verschaffen, weil die verbuchten Treuhandguthaben nicht belegt sind. Damit verstößt die Bilanzierung der (nicht belegten) Treuhandguthaben (als Zahlungsmittel) aber auch materiell gegen das Vorsichtsprinzip (§ 252 Abs. 1 Nr. 4 HGB), weil Guthaben, von denen man nicht belegbar weiß, wo sie sich befinden, bei der gebotenen wirtschaftlichen Betrachtungsweise objektiv wertlos sind. Dies gilt umso mehr bei Treuhandguthaben, mit denen der Treunehmer anders verfährt, als er dem Treugeber vorspiegelt (hier: durch inhaltlich unrichtige Saldenbestätigungen), und die Guthaben damit faktisch dem jederzeitigen Zugriff des Treugebers entzieht.
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Damit liegt bei genauer Betrachtungsweise eben nicht (nur) ein Verstoß gegen die Grundsätze der ordnungsgemäßen Buchführung, sondern (auch) unmittelbar eine Überbewertung nach § 256 Abs. 5 Nr. 1 AktG vor. Dies hat das Landgericht der Sache nach auch erkannt, wenn es für die Frage der Wesentlichkeit des Verstoßes auf einen hieraus folgenden Abwertungsbedarf hinweist (LGU 23 unten). Entgegen der Auffassung der Berufung erweist sich die Argumentation des Landgerichts damit nicht als widersprüchlich. Vielmehr hat es das Verhältnis der Absätze 1 und 5 des § 256 AktG, nämlich die Begrenzungsfunktion der Tatbestände des Abs. 5 für Verstöße im Sinne des Abs. 1 (vgl. BGH, Urteil vom 15.11.1993 – II ZR 235/92, Rz. 21) im Ergebnis zutreffend gesehen.
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Auf dieser Basis ergeben sich der Abwertungsbedarf als solcher und seine Wesentlichkeit aus den selben Überlegungen wie oben unter 3.
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5. Ohne Erfolg beruft sich der Streithelfer darauf, dass die Bilanzierung der Treuhandguthaben auf der Basis der Saldenbestätigungen des Treuhänders zu den Bilanzstichtagen bzw. zu den Zeitpunkten der Bilanzerstellung dem Stand der Technik der betriebswirtschaftlichen und bilanzwissenschaftlichen Praxis entsprochen hätte. Hiermit kann unter den Umständen des Falles die jedenfalls vorliegende objektive Überbewertung der Aktiva nicht für unbeachtlich erklärt werden.
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aa) Anders als bei der Unterbewertung nach § 256 Abs. 5 Nr. 2 AktG setzt die Nichtigkeit wegen Überbewertung nach § 256 Abs. 5 Nr. 1 AktG keinen Vorsatz der Bilanzverantwortlichen voraus. Dies hat jedoch nicht zur Folge, dass jeder objektive Bewertungsverstoß, sofern er nur wesentlich ist, zur Nichtigkeit führt. Vielmehr tritt nach wohl allgemeiner Auffassung die Nichtigkeit nur ein, wenn die Fehlbewertung nach den zum Bilanzstichtag bestehenden Verhältnissen für ordentliche Kaufleute erkennbar war (vgl. z.B. Koch, AktG, 17. Aufl., § 256 Rz. 10, 56; Beck OGK AktG / Jansen, § 256 Rz. 68; nur in der Diktion anders Schmidt / Lutter / Schwab, AktG, 4. Aufl., Rz.10). Damit sollen unvermeidbare Fehlbewertungen vom Verdikt der Nichtigkeit ausgenommen werden, auch ein wesentlicher Bewertungsverstoß führt nicht zur Nichtigkeit, wenn er bei Ausschöpfung aller Erkenntnismöglichkeiten nicht hätte vermieden werden können (Koch a.a.O. Rz. 56; Schwab a.a.O. Rz. 10).
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In diesem Zusammenhang ist vorliegend zu berücksichtigen, dass die der Bilanzierung zugrunde gelegten Saldenbestätigungen, die zur Überbewertung der Aktiva führten, falsch im Sinne von inhaltlich unrichtig waren; die bestätigten Salden bestanden auf den in Bezug genommenen Konten nicht (vgl. oben). Zwar mag man unterstellen, dass die Saldenbestätigungen nach den in den Jahren 2017 / 2018 geltenden Bilanzierungsstandards für eine Bilanzierung genügten; unvermeidbar war die Fehlbewertung aber nicht, weil die Bilanzverantwortlichen der Beklagten nicht alle denkbaren (und durchaus naheliegenden) Erkenntnismöglichkeiten wie etwa das Anfordern von Kontoauszügen genutzt haben. So wäre etwa anhand der nunmehr vorliegenden Kontoauszüge gemäß Anlage K 66 die Nichtexistenz von Treuhandguthaben auf dem Konto … ohne weiteres erkennbar gewesen. Der Senat lässt bewusst offen, ob die Bilanzverantwortlichen insoweit ein Fahrlässigkeitsvorwurf trifft, von Unvermeidbarkeit der Fehlbewertung kann aber jedenfalls nicht gesprochen werden.
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bb) Das vorstehende Ergebnis wird bekräftigt durch folgende Überlegung. Die Saldenbestätigungen waren inhaltlich unrichtig. Ein ordentlicher Kaufmann hätte inhaltlich unrichtige Bestätigungen seiner Bilanzierung nicht zugrunde gelegt, wenn er die Unrichtigkeit erkannt hätte. Daraus folgt, dass sich die Beklagte nicht auf die Beachtung der in den Jahren 2017 / 2018 geltenden Standards ordnungsgemäßer Bilanzierung berufen kann, wenn entsprechende Wissensträger im Machtbereich der Beklagten von der inhaltlichen Unrichtigkeit der Saldenbestätigungen wussten. Hiervon ist nach dem Sach- und Streitstand auszugehen, und zwar unabhängig davon, ob die Saldenbestätigungen „echt“ (also vom Aussteller … stammend) oder „gefälscht“ (also nicht von … stammend) waren.
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(1) Waren die Saldenbestätigungen echt, stammten also von …, wussten die Verantwortlichen von …, insbesondere deren Director …, der die Saldenbestätigungen gezeichnet hat, von deren inhaltlicher Unrichtigkeit. Denn es ist nicht vorstellbar, dass ein Treuhänder, der die Verwahrung von Geldern bescheinigt, nicht weiß, auf welchen Konten er welche Beträge verwahrt.
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Dieses Wissen des Treuhänders um die inhaltliche Unrichtigkeit der Saldenbestätigungen muss sich die Beklagte nach den Grundsätzen der Wissenszurechnung analog § 166 BGB zurechnen lassen. Wissensvertreter in diesem Sinne ist jeder, der nach der Arbeitsorganisation des Geschäftsherren dazu berufen ist, im Rechtsverkehr bestimmte Aufgaben in eigener Verantwortung zu erledigen und die dabei anfallenden Informationen zur Kenntnis zu nehmen (vgl. z.B. Grüneberg / Ellenberger, BGB, 82. Aufl., § 166 Rz. 6 m.w.Nachw.). Die Beklagte hat ihr Drittpartnergeschäft dergestalt organisiert, dass der Treuhänder … für die Entgegennahme und Verwaltung der Zahlungen der Drittpartner, aber auch für deren Dokumentation für Buchhaltungszwecke (Saldenbestätigungen) eingesetzt war. Damit muss sich die Beklagte für den Bereich der Buchhaltung und Bilanzierung das Wissen von … um das Schicksal der Treuhandguthaben und damit auch das Wissen um die inhaltliche Unrichtigkeit der Saldenbestätigungen zurechnen lassen.
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(2) Waren die Saldenbestätigungen hingegen gefälscht, stammten sie also nicht von …, muss diese Fälschung im Machtbereich der Beklagten vorgenommen worden sein, so dass auch in diesem Fall das Wissen um die inhaltliche Unrichtigkeit der Saldenbestätigungen im Bereich der Beklagten vorhanden war. Auch in diesem Fall kann sich die Beklagte somit nicht auf die Beachtung von bilanzwissenschaftlichen Standards berufen.
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6. Aufgrund der hiernach zutreffend festgestellten Nichtigkeit der Jahresabschlüsse 2017 und 2018 der Beklagten sind auch die hierauf beruhenden Gewinnverwendungsbeschlüsse vom 21.6.2018 und 18.6.2019 nichtig (§ 253 Abs. 1 S. 1 AktG). Insoweit kann auf die zutreffenden Ausführungen des Landgerichts Bezug genommen werden.
36
Der Senat regt daher an, die Berufung zur Meidung weiterer Kosten zurückzunehmen. Im Falle der Rechtsmittelrücknahme ermäßigen sich die zweitinstanzlichen Gerichtsgebühren um die Hälfte.