Titel:
Zur Bestimmung des Streitwerts einer Klage, mit der die Nichtigkeit der Jahresabschlüsse und der darauf beruhenden Gewinnverwendungsbeschlüsse einer Aktiengesellschaft geltend gemacht wird
Normenkette:
AktG § 247
Leitsätze:
1. Für eine Überschreitung des Streitwertdeckels gem. § 247 Abs. 1 S. 2 AktG ist ausschließlich der Wert der Interessen des Klägers maßgeblich, nicht hingegen die Interessen der sonstigen Beteiligten, unbeteiligter Aktionäre oder gar der Allgemeinheit. (Rn. 8) (redaktioneller Leitsatz)
2. Bei der gebotenen wirtschaftlichen Betrachtungsweise ist das Interesse des Klägers an der Nichtigkeit der Jahresabschlüsse im Hinblick auf die zu erwartenden erheblichen rechtlichen und tatsächlichen Schwierigkeiten bei der Realisierung der an die Nichtigkeitsfeststellung anknüpfenden Rückforderungsansprüche mit jeweils 10% der ausgeschütteten Dividenden zu bemessen. (Rn. 14 – 16) (redaktioneller Leitsatz)
3. Der Streitwert für die mit der Klage gleichfalls geltend gemachte Nichtigkeit der auf den Jahresabschlüssen beruhenden Gewinnverwendungsbeschlüsse ist nach billigem Ermessen mit lediglich symbolischen Beträgen zu bemessen. (Rn. 17 – 19) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Streitwert, Nichtigkeit von Jahresabschlüssen, Nichtigkeit von Gewinnverwendungsbeschlüssen, Überschreitung des Streitwertdeckels, Interesse an Rückforderung von Dividenden
Vorinstanz:
LG München I, Endurteil vom 05.05.2022 – 5 HK O 15710/20
Fundstellen:
AG 2023, 911
BeckRS 2023, 19983
LSK 2023, 19983
NZG 2024, 82
Tenor
1. Auf die Beschwerde der Prozesspfleger für den Vorstand bzw. den Aufsichtsrat der Beklagten wird (in Abänderung von Ziffer VII des Endurteils des Landgerichts München I vom 5.5.2022, Az.: 5 HK O 15710/20) der Streitwert im Verhältnis des Nebenintervenienten zu 1) zur Beklagten und zu dem dem Rechtsstreit auf Seiten der Beklagten beigetretenen Streithelfer auf 4,6 Mio. €, im übrigen auf 4,8 Mio. € festgesetzt.
2. Die weitergehende Beschwerde wird zurückgewiesen.
Gründe
1
Der Kläger macht als Insolvenzverwalter der beklagten Aktiengesellschaft die Nichtigkeit der Jahresabschlüsse der Beklagten für die Geschäftsjahre 2017 und 2018 sowie der darauf beruhenden Gewinnverwendungsbeschlüsse geltend. Die Beklagte wird im vorliegenden Rechtsstreit durch die bestellten Prozesspfleger Rechtsanwalt … (für den Vorstand) und Rechtsanwalt … (für den Aufsichtsrat) vertreten. Der Streithelfer auf Beklagtenseite war im streitgegenständlichen Zeitraum Vorstandsvorsitzender der Beklagten. Die Nebenintervenienten auf Klägerseite sind Aktionäre der Beklagten.
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Das Landgericht hat der Klage durch Endurteil vom 5.5.2022 stattgegeben. Dieses Endurteil ist nach Rücknahme der Berufung der Streithelfers auf Beklagtenseite rechtskräftig.
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Unter Ziffer VII des Endurteils vom 5.5.2022 hat das Landgericht den Streitwert im Verhältnis des Nebenintervenienten zu 1) (der dem Rechtsstreit nur hinsichtlich der Anfechtung der Jahresabschlüsse beigetreten war) zur Beklagten und zum Streithelfer auf Beklagtenseite auf 1 Mio. € und im übrigen auf 1,5 Mio. € festgesetzt. Dabei hat es 500.000,- € je Jahresabschluss und 250.000,- € je Gewinnverwendungsbeschluss angesetzt.
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Mit ihrer Beschwerde aus eigenem Recht gemäß § 32 RVG wenden sich die Prozesspfleger der Beklagten gegen die genannte Festsetzung des Streitwerts durch das Landgericht und erstreben die Festsetzung des Streitwerts auf mindestens 75,3 Mio. €.
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Das Landgericht hat der Beschwerde mit Beschluss vom 12.12.2022 nicht abgeholfen.
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Die Beschwerde ist zulässig, insbesondere statthaft gemäß § 32 Abs. 2 S. 1 RVG. Die beschwerdeführenden Rechtsanwälte als Prozesspfleger vertreten sich im Hauptsacheverfahren selbst und können daher aus eigenem Recht gegen die landgerichtliche Streitwertfestsetzung vorgehen.
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Die Beschwerde ist aber nur zum Teil begründet. Angemessen erscheint ein Streitwert in Höhe von 4,8 Mio. € (im Verhältnis zwischen dem Nebenintervenienten zu 1) und der Beklagtenseite von 4,6 Mio. €).
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1. Auszugehen ist von § 247 Abs. 1 AktG. Hiernach bemisst sich der Streitwert nach billigem Ermessen unter Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalles, insbesondere der Bedeutung der Sache für die Parteien; er darf jedoch 10% des Grundkapitals der beklagten Aktiengesellschaft, höchstens aber 500.000,- € (je Streitgegenstand) nur insoweit übersteigen, als die Bedeutung der Sache für den Kläger höher zu bewerten ist. Aus diesem eindeutigen Wortlaut folgt nach Auffassung des Senats, dass – entgegen der Ansicht der Beschwerde – für eine Überschreitung des Streitwertdeckels ausschließlich der Wert der Interessen des Klägers und nicht etwa die Interessen der sonstigen Beteiligten, unbeteiligter Aktionäre oder gar der Allgemeinheit maßgeblich sind.
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2. Auch auf dieser Basis erscheint jedoch hinsichtlich der Streitgegenstände „Nichtigkeit der Jahresabschlüsse 2017 bzw. 2018“ eine Bewertung mit je 500.000,- € nicht hinreichend; der Senat bemisst die diesbezüglichen Interessen auf 2,2 Mio. € (2017) bzw. 2,4 Mio. € (2018).
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a) Kein Kriterium für die Bemessung des klägerischen Interesses ist nach Auffassung des Senats eine beabsichtigte Rückforderung von Steuern. Abgabenrechtlich ist die Handelsbilanz irrelevant, so dass deren Nichtigkeit auf eventuelle abgabenrechtliche Verfahren keinen Einfluss hat.
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b) Keinen wesentlichen Einfluss auf die Bemessung des Streitwerts hat auch eine eventuelle Inanspruchnahme der Organe (Vorstands- und Aufsichtsratsmitglieder der Beklagten) auf Schadensersatz. Zwar mag die Billigung von nichtigen Jahresabschlüssen als pflichtwidrige und damit haftungsauslösende Handlung in Betracht kommen; der Schwerpunkt eventueller Haftungsklagen dürfte aber, was die geltend gemachten (kausalen) Schäden betrifft, auf eventuellen anderen Pflichtwidrigkeiten der Organmitglieder liegen.
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c) Dasselbe gilt cum grano salis für eine eventuelle Inanspruchnahme des Abschlussprüfers. Dem Kläger obliegt es nur, Schadensersatzansprüche der Masse (also der Beklagten) geltend zu machen; sollte eine Haftung des Abschlussprüfers überhaupt in Betracht kommen, wird der Schaden schwerpunktmäßig nicht bei der Beklagten, sondern bei Dritten (Anleger) liegen.
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d) Inwieweit die Rückforderung von variabler Vergütung der Organmitglieder in Betracht kommt und inwieweit hierfür die Nichtigkeit der Jahresabschlüsse relevant ist, kann (auch in Unkenntnis von deren Dienstverträgen) derzeit nicht realistisch eingeschätzt werden. Der Senat erachtet es daher nicht für angemessen, diesen Gesichtspunkt für ein die Deckelung des § 247 AktG übersteigendes Interesse des Klägers heranzuziehen.
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e) Einzig greifbar erscheint dem Senat das Interesse des Klägers an der Rückforderung von Dividenden, was die Nichtigkeit der Jahresabschlüsse (und der darauf basierenden Gewinnverwendungsbeschlüsse) voraussetzt.
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An Dividenden ausgeschüttet wurden für das Geschäftsjahr 2017 rund 22 Mio. € und für das Geschäftsjahr 2018 rund 24 Mio. €. Das Interesse des Klägers an der Rückforderung dieser Beträge kann allerdings bei der gebotenen wirtschaftlichen Betrachtungsweise nicht zum Nennwert bemessen werden, da die streitgegenständliche Nichtigkeitsfeststellung nur einen ersten Schritt für die Realisierung von Rückforderungsansprüchen darstellt und deren weitere Durchsetzung mit erheblichen rechtlichen und tatsächlichen Schwierigkeiten belastet sein dürfte. Bösgläubigkeit im Sinne von § 62 Abs. 1 S. 2 AktG dürfte allenfalls bei einigen Organmitgliedern der Beklagten in Betracht kommen. Ob bestehende Ansprüche gegen sie tatsächlich realisierbar sein werden, erscheint zumindest fraglich. Zwar kann die Sperre des § 62 Abs. 1 S. 2 AktG nach der neueren Rechtsprechung des BGH durch Insolvenzanfechtung nach § 134 InsO überwunden werden (vgl. BGH, Urteil vom 30.3.2023 – IX ZR 121/22, Rz. 37 ff.); insoweit kommt allerdings der Entreicherungseinwand nach § 143 Abs. 2 InsO in Betracht (BGH, a.a.O. Rz. 43). Der wirtschaftliche Nutzen von Rückforderungsprozessen gegen Kleinaktionäre mit unsicherem Ausgang erscheint zumindest fraglich.
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Daher bemisst der Senat das wirtschaftliche Interesse des Klägers an der Nichtigkeit der Jahresabschlüsse mit jeweils 10% der ausgeschütteten Dividenden von rund 22 Mio. € bzw. 24 Mio. €, das sind 2,2 Mio. € für 2017 und 2,4 Mio. € für 2018.
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3. Die Streitgegenstände „Nichtigkeit der Gewinnverwendungsbeschlüsse 2017 bzw. 2018“ bemisst der Senat mit je 100.000,- €.
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Wenn man – wie oben geschehen – das Interesse des Klägers an der Nichtigkeit der Jahresabschlüsse wesentlich mit der Möglichkeit der Rückforderung von Dividenden begründet, kann dieser Gesichtspunkt bei der gebotenen wirtschaftlichen Gesamtschau nicht erneut in der selben Höhe bei der Bemessung des klägerischen Interesses an der Nichtigkeit der Gewinnverwendungsbeschlüsse herangezogen werden, weil die Nichtigkeit der Gewinnverwendungsbeschlüsse als logische Konsequenz aus der Nichtigkeit der Jahresabschlüsse folgt. Zwar stellt die Nichtigerklärung der Gewinnverwendungsbeschlüsse einen weiteren notwendigen Zwischenschritt auf dem Weg zur Rückforderung von Dividenden dar, dieser rechtfertigt aber nicht eine „Verdoppelung“ des klägerischen Interesses an der Rückforderung als solcher.
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Daher erscheint es dem Senat billigem Ermessen zu entsprechen, diesen notwendigen Zwischenschritt mit lediglich symbolischen Beträgen von je 100.000,- € pro Gewinnverwendungsbeschluss zu bemessen.
20
Eine Kostenentscheidung und eine Entscheidung über die Zulassung der Rechtsbeschwerde sind nicht veranlasst (§§ 68 Abs. 5, Abs. 1 S. 5, 66 Abs. 3 S. 4 GKG).