Inhalt

VGH München, Beschluss v. 09.02.2023 – 13a ZB 22.30152
Titel:

Strafverfolgung Präsidentenbeleidigung

Normenketten:
AsylG § 3a Abs. 2 Nr. 3
EMRK Art. 15 Abs. 2
tStGB Art. 299 Abs. 1, Abs. 3
Leitsätze:
1. Für die Annahme, dass eine unverhältnismäßige Strafverfolgung gemäß § 3a Abs. 2 Nr. 3 AsylG zu einer Verfolgung im Sinn von § 3 Abs. 1 AsylG führt, bedarf es zum einen der Feststellung, dass die Verfolgungsfurcht auf einem Verfolgungsgrund im Sinn des § 3 Abs. 1 Nr. 1, § 3b AsylG beruht, zum anderen einer Betrachtung der weiteren Umstände, wie etwa der konkreten Strafverfolgungspraxis. Das schließt einen gleichsam automatischen Schluss vom Straftatbestand auf die Flüchtlingseigenschaft aus. (Rn. 11)
2. Zur Aufklärung, ob eine Strafverfolgung wegen „Präsidentenbeleidigung“ nach Art. 299 Abs. 1 und Abs. 3 tStGB im konkreten Einzelfall eine Verfolgung im Sinn von § 3 Abs. 1 AsylG darstellt, müssen Feststellungen getroffen werden, inwieweit objektive Umstände darauf schließen lassen, dass der Betroffene wegen eines Verfolgungsgrunds nach § 3 Abs. 1 Nr. 1, § 3b AsylG eine härtere als die sonst übliche Behandlung erleidet (so genannter Politmalus). (Rn. 16)
Schlagworte:
Verfolgung im Sinn von § 3 Abs. 1 AsylG, Strafverfolgung im Heimatland wegen Präsidentenbeleidigung, „Politmalus“, Türkei, Strafverfolgung, Präsidentenbeleidigung
Vorinstanz:
VG Augsburg, Urteil vom 15.12.2021 – Au 6 K 21.30988
Fundstelle:
BeckRS 2023, 1976

Tenor

I. Der Antrag der Beklagten auf Zulassung der Berufung gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Augsburg vom 15. Dezember 2021 – Au 6 K 21.30988 – wird abgelehnt.
II. Die Beklagte hat die Kosten des Zulassungsverfahrens zu tragen. Gerichtskosten werden nicht erhoben.

Gründe

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Der Antrag der Beklagten auf Zulassung der Berufung gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Augsburg vom 15. Dezember 2021 bleibt ohne Erfolg. Zulassungsgründe nach § 78 Abs. 3 AsylG sind nicht gegeben.
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Mit dem angegriffenen Urteil wurde die Beklagte verpflichtet, der Klägerin die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen, weil diese im Fall einer Rückkehr in die Türkei eine individuelle Verfolgung wegen ihrer politischen, prokurdischen und regimekritischen Einstellung durch das unter dem Vorwurf der „Präsidentenbeleidigung“ gegen sie geführte türkische Strafverfahren zu befürchten habe. Hiergegen wendet sich die Beklagte mit ihrem Antrag auf Zulassung der Berufung und macht eine grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache geltend (§ 78 Abs. 3 Nr. 1 AsylG). Es sei zu klären,
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- „ob die abstrakte Strafandrohung einer,Präsidentenbeleidigung‘ nach Art. 299 Abs. 1 und Abs. 3 tStGB als eine unverhältnismäßige Strafverfolgung im Sinne des § 3a Abs. 2 Nr. 3 AsylG zu bewerten ist, insbesondere welcher Vergleichsmaßstab für die Beurteilung der Unverhältnismäßigkeit heranzuziehen ist,
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- ob bereits die abstrakte Strafandrohung in einer potentiell auf einen konkreten Sachverhalt anwendbaren Strafrechtsnorm ausreichend sein kann, einen Anspruch auf Flüchtlingsschutz zu begründen, unabhängig von dem Grad der Wahrscheinlichkeit, mit dem es zu einer Anwendung der Strafrechtsnorm kommt und
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- soweit es bei der potentiellen Anwendbarkeit einer Strafrechtsnorm auf den Grad der Wahrscheinlichkeit ihrer Anwendung ankommt, welcher Grad der Wahrscheinlichkeit für die Zuerkennung eines Anspruchs auf Flüchtlingsschutz erforderlich ist.“
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Zur Begründung trägt die Beklagte vor, der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichts folgend müsste jeder Person, die ein Ermittlungsverfahren aufgrund Art. 299 des türkischen Strafgesetzbuchs (tStGB) glaubhaft machen könne, Flüchtlingsschutz zugesprochen werden. Die abstrakte Strafandrohung für die Präsidentenbeleidigung erscheine nicht unverhältnismäßig, da im deutschen Strafrecht für die Verunglimpfung des Bundespräsidenten nach § 90 StGB eine Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren vorgesehen sei, während in der Türkei nach Art. 299 tStGB eine Freiheitsstrafe von maximal vier Jahren und acht Monaten verhängt werden könne. Weder aus der Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR, U.v. 19.10.2021 – 42048/19 Rn. 43), auf das sich das Verwaltungsgericht stütze, noch aus dessen Urteil lasse sich entnehmen, ob bereits die höhere Strafandrohung für die Beleidigung des Präsidenten an sich eine unverhältnismäßige Strafverfolgung darstelle oder ob eine solche höhere Strafandrohung erst ab einem bestimmten Grad der Erhöhung als unrechtmäßig zu bewerten sei. Da das Verwaltungsgericht die Konventionswidrigkeit unmittelbar aus der abstrakten Strafnorm des Art. 299 tStGB ableite, komme es nach dessen Bewertung nicht darauf an, aus welchem Grund die Verfolgung erfolge, insbesondere, ob damit eine Diskriminierung („Politmalus“) verbunden sei. Ebenso wenig halte das Gericht die Häufigkeit derartiger Verfahren und den Grad der Wahrscheinlichkeit einer Verurteilung für entscheidungserheblich. Es löse nicht den Widerspruch auf, dass einerseits ein besonderer Schutz für Personen, die staatliche Institutionen verträten, als legitim betrachtet werde, andererseits hierzu im Falle einer Beleidigung kein höherer Strafrahmen festgelegt werden dürfe und gleichzeitig Zurückhaltung bei der Verwendung von Strafverfahren auszuüben sei. Zudem sei zu berücksichtigen, dass hier die Schutzgewährung mit einem unzulässigen Eingriff in die Rechte aus Art. 10 EMRK (Recht der Freiheit der Meinungsäußerung) begründet werde, wohingegen § 3a Abs. 1 Nr. 1 AsylG bei den Verfolgungshandlungen allein auf die in Art. 15 Abs. 2 der EMRK genannten grundlegenden Menschenrechte verweise, zu denen die freie Meinungsäußerung (Art. 10 EMRK) nicht gehöre. Die Abwägung zwischen etwaigen staatlichen Schutzansprüchen einerseits und der Meinungsfreiheit des Einzelnen auf der anderen Seite könne nur individuell erfolgen. Die Argumentation des Verwaltungsgerichts, die Klägerin nehme in den Augen des türkischen Staates eine oppositionelle Haltung ein, so dass die Strafverfolgung hieran anknüpfe, lasse die Interpretation zu, dass es in dem Verfahren wegen „Präsidentenbeleidigung“ ein Instrument sehe, mit welchem Eigenschaften oder unerwünschte Handlungen gleichwohl – quasi mittelbar – durch den türkischen Staat sanktioniert werden könnten. Fraglich sei zudem, ob das Merkmal der Verfolgungshandlung vorliege, weil das Verwaltungsgericht nicht die Handlung, nämlich das Strafverfahren, als Verletzungshandlung bewerte, sondern die Tatsache, dass aufgrund einer Vorschrift gehandelt werde, die bereits aus sich eine unverhältnismäßige Strafverfolgung darstelle. Ob eine flüchtlingsrechtlich geschützte Position tangiert sei, könne sich nur nach der konkreten Handlung, nicht nach der zugrundeliegenden Vorschrift bemessen. Das Tatbestandsmerkmal der politischen Verfolgung setze eine individuelle Betroffenheit des Asylbewerbers voraus, die jeweils anhand der Umstände des Einzelfalls festzustellen sei. Die Klärung der Fragen habe schließlich auch deshalb Bedeutung über den Fall hinaus, weil in der Türkei viele Verfahren aufgrund Art. 299 tStGB eingeleitet worden seien, etwa 10.000 davon hätten allein im Jahr 2019 zu einer Verurteilung geführt. In der siebenjährigen Amtszeit von Erdogans Vorgänger Abdullah Gül habe es dagegen nur 233 Verurteilungen gegeben.
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Der Zulassungsgrund der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache (§ 78 Abs. 3 Nr. 1 AsylG) setzt voraus, dass die im Zulassungsantrag dargelegte konkrete Rechts- oder Tatsachenfrage für die Entscheidung des Verwaltungsgerichts von Bedeutung war, ihre Klärung im Berufungsverfahren zu erwarten und zur Erhaltung der Einheitlichkeit der Rechtsprechung oder zur Weiterentwicklung des Rechts geboten ist und ihr eine über den Einzelfall hinausgehende Bedeutung zukommt (vgl. Happ in Eyermann, VwGO, 16. Aufl. 2022, § 124 Rn. 36). Die Grundsatzfrage muss nach Maßgabe des Verwaltungsgerichtsurteils rechtlich aufgearbeitet sein. Dies erfordert regelmäßig eine Durchdringung der Materie und eine Auseinandersetzung mit den Erwägungen des Verwaltungsgerichts (vgl. BayVGH, B.v. 24.1.2019 – 13a ZB 19.30070 – juris Rn. 5; B.v. 21.12.2018 – 13a ZB 17.31203 – juris Rn. 4; B.v. 13.8.2013 – 13a ZB 12.30470 – juris Rn. 4 m.w.N.).
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Hiervon ausgehend hat die Rechtssache keine grundsätzliche Bedeutung, denn die von der Beklagten aufgeworfenen Fragen lassen sich schon anhand des Gesetzes beantworten bzw. sind in der höchstrichterlichen Rechtsprechung geklärt. Letztendlich hat sie auch die Beklagte selbst schon in ihrem Zulassungsantrag beantwortet, indem sie darlegt, dass die abstrakte Strafandrohung für die Präsidentenbeleidigung aus den im Einzelnen genannten Gründen nicht unverhältnismäßig erscheine und eine Ableitung unmittelbar aus der abstrakten Strafnorm nicht möglich sei, sondern es darauf ankomme, aus welchem Grund die Verfolgung erfolge, insbesondere, ob damit eine Diskriminierung („Politmalus“) verbunden sei. Weiter nennt sie die Kriterien für die Abwägung zwischen etwaigen staatlichen Schutzansprüchen einerseits und der Meinungsfreiheit des Einzelnen auf der anderen Seite und führt aus, dass das Tatbestandsmerkmal der politischen Verfolgung eine individuelle Betroffenheit des Asylbewerbers voraussetze, die jeweils anhand der Umstände des Einzelfalls festzustellen sei.
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Insoweit entsprechen die Ausführungen der Beklagten im Ergebnis auch der Auffassung des Senats, mit der Folge, dass es keiner Klärung der Fragen in einem Berufungsverfahren mehr bedarf. Zunächst lässt sich bereits der gesetzlichen Regelung entnehmen, unter welchen Voraussetzungen im Fall einer Strafverfolgung ein Anspruch auf Flüchtlingsschutz besteht. Nach § 3 Abs. 1 AsylG ist ein Ausländer Flüchtling, wenn er sich aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe außerhalb seines Herkunftslands befindet. Als Verfolgung im Sinn des § 3 Abs. 1 AsylG gelten dabei unter anderem gemäß § 3a Abs. 1 Nr. 1 AsylG Handlungen, die auf Grund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend sind, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellen, insbesondere der Rechte, von denen nach Artikel 15 Abs. 2 EMRK keine Abweichung zulässig ist. Als Verfolgung in diesem Sinn können gemäß § 3a Abs. 2 Nr. 3 AsylG unter anderem unverhältnismäßige oder diskriminierende Strafverfolgung oder Bestrafung gelten. Hieraus ergeben sich folgende Grundvoraussetzungen für den hier streitigen Anspruch auf Flüchtlingsschutz:
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Zum einen muss eine begründete Furcht vor Verfolgung vorliegen. Dabei setzt die gesetzliche Regelung in § 3 Abs. 1 AsylG voraus, dass die geltend gemachte Verfolgung gerade wegen eines oder mehrerer der fünf in § 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG genannten und in § 3b AsylG näher definierten Verfolgungsgründe droht. Im Hinblick auf diese Kausalität kann die Flüchtlingseigenschaft somit nur zuerkannt werden, wenn sich die Verfolgungsfurcht auf mindestens eines dieser Kriterien gründet. Schon aus diesem Grund scheidet ein gleichsam automatischer Schluss vom Straftatbestand auf die Flüchtlingseigenschaft aus.
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Zum anderen kann eine unverhältnismäßige Strafverfolgung zwar gemäß § 3a Abs. 2 Nr. 3 AsylG als Verfolgung gelten, jedoch bedarf es angesichts des einschränkenden „können“ einer konkreten Betrachtung der weiteren Umstände wie etwa der konkreten Strafverfolgungspraxis. Auch dies schließt einen gleichsam automatischen Schluss vom Straftatbestand auf die Flüchtlingseigenschaft aus. Zu den insoweit inhaltsgleichen europäischen Regelungen geht auch der Europäische Gerichtshof (EuGH, U.v. 4.10.2018 – C-56/17 – NVwZ 2019, 634, 638, Rn. 96) davon aus, dass ein mit Todes- oder Freiheitsstrafe bewehrtes Verbot von Handlungen, die der Staatsreligion des Herkunftslands zuwiderlaufen, zwar grundsätzlich eine „Verfolgungshandlung“ (dort: Eingriff in die Religionsfreiheit) darstellen kann, es trotz der diskriminierenden Wirkung bereits des Tatbestands allerdings einer Prüfung bedarf, ob die Behörden dieses Landes Verstöße gegen dieses Verbot in der Praxis auch mit solchen Strafen ahnden (vgl. zu einer Regelung, die Homosexualität unter Strafe stellt: EuGH, U.v. 7.11.2013 – C-199/12 bis C-201/12 – NVwZ 2014, 132, 133, Rn. 55ff.).
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Im Übrigen ist in der Rechtsprechung geklärt, unter welchen Voraussetzungen eine unverhältnismäßige oder diskriminierende Strafverfolgung eine Verfolgung im Sinn von § 3 Abs. 1 AsylG darstellen kann.
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Nach den in ständiger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu Art. 16a Abs. 1 GG aufgestellten Grundsätzen ist eine Verfolgung dann eine politische, wenn sie dem Einzelnen in Anknüpfung an asylerhebliche Merkmale gezielt Rechtsverletzungen zufügt, die ihn ihrer Intensität nach aus der übergreifenden Friedensordnung der staatlichen Einheit ausgrenzen (siehe nur BVerfG, B.v. 4.12.2012 – 2 BvR 2954/09 – NVwZ 2013, 500). Im Hinblick auf Strafverfolgungsmaßnahmen gelte dies dann nicht, wenn die staatliche Maßnahme allein dem – grundsätzlich legitimen – staatlichen Rechtsgüterschutz diene oder sie nicht über das hinausgehe, was auch bei der Ahndung sonstiger krimineller Taten ohne politischen Bezug regelmäßig angewandt werde. Der Flüchtlingsschutz gewähre keinen Schutz vor drohenden (auch massiven) Verfolgungsmaßnahmen, die keinen politischen Charakter hätten. Eine Strafverfolgung könne aber in politische Verfolgung umschlagen, wenn objektive Umstände darauf schließen ließen, dass der Betroffene wegen eines asylerheblichen Merkmals eine härtere als die sonst übliche Behandlung erleide (so genannter Politmalus). Solange sich ein solcher „Politmalus“ nicht von vornherein ausschließen lasse, bedürfe es einer gerichtlichen Aufklärung des Sachverhalts in einer der Bedeutung des Asylgrundrechts entsprechenden Weise. Jedenfalls in Fällen, in denen es um die Beurteilung staatlicher Strafverfolgungsmaßnahmen als Bedrohung im Sinne von § 60 Abs. 1 AufenthG, § 3 AsylG gehe, komme der verfahrensrechtlichen Sachaufklärungspflicht (§ 86 Abs. 1 VwGO) verfassungsrechtliches Gewicht zu. Die Verneinung einer Verfolgung müsse auf einer hinreichend verlässlichen, auch ihrem Umfang nach zureichenden tatsächlichen Grundlage beruhen (siehe auch EuGH, U.v. 26.2.2015 – C-472/13 – NVwZ 2015, 575 betreffend eine Bestrafung wegen Wehrdienstentziehung: „… setzt die Feststellung der Unverhältnismäßigkeit der Strafverfolgung und Bestrafung, die dem Kläger … aufgrund seiner Verweigerung des Militärdienstes drohen würden, voraus, dass geprüft wird, ob ein solches Vorgehen über das hinausgeht, was erforderlich ist, damit der betreffende Staat sein legitimes Recht auf Unterhaltung einer Streitkraft ausüben kann. … Es ist … Sache der innerstaatlichen Behörden, insoweit alle relevanten Tatsachen… zu prüfen, einschließlich der Rechts- und Verwaltungsvorschriften und der Weise, in der sie angewandt werden …“).
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Gemessen hieran bedarf es im ersten Schritt einer Bewertung, ob schon alleine die Strafnorm eine politische Verfolgung darstellt und deshalb asylbegründend wirken kann. Die Bewertung setzt voraus, dass zunächst Inhalt und Reichweite der fraglichen Rechtsnorm bestimmt wird (BVerfG, B.v. 1.7.1987 – 2 BvR 478/86 – NVwZ 1988, 237). Dies müsse anhand ihres Wortlauts erfolgen, ggf. sei zur Bestimmung der Reichweite des Verbots die Ermittlung der ausländischen Rechtsauslegung und -anwendung erforderlich. Neben der Bewertung der Strafnorm sei festzustellen, ob die Strafverfolgungspraxis des Heimatstaats einen Verfolgungscharakter aufweise, und ob die verhängte Strafe eine unverhältnismäßige, (auch) an asylerhebliche Merkmale anknüpfende Sanktion darstelle (BVerfG, B.v. 4.12.2012 – 2 BvR 2954/09 – NVwZ 2013, 500). Die Frage, ob ein in der Heimat anhängiges Strafverfahren politische Verfolgung im Sinne des Asylrechts sei, hänge von der Auslegung und Anwendung der Strafvorschriften durch die dortigen Strafgerichte ab (BVerwG, B.v. 3.8.2006 – 1 B 20.06 – juris; BVerwG, U.v. 19.5.1987 – 9 C 184.86 – NVwZ 1987, 895 zu Art. 141 und 142 tStGB – Staatsschutzvorschriften). Dies sei anhand der besonderen Umstände des Einzelfalls zu prüfen. Entscheidend sei, ob der Staat lediglich Angriffe auf seine Grundordnung abwehren, die Allgemeinheit vor Gefahren schützen, seinen Bestand wahren und die öffentliche Sicherheit und Ordnung aufrechterhalten wolle oder ob er gleichzeitig auch die Absicht verfolge, den Straftäter wegen seiner abweichenden Überzeugung oder wegen sonstiger asylerheblicher persönlicher Merkmale zu treffen. Nur in dem letztgenannten Fall liege eine politische Verfolgung vor. Bei der Würdigung der in dem Staat herrschenden tatsächlichen und rechtlichen Verhältnisse seien folgende Kriterien zu berücksichtigen (BVerwG, U.v. 19.5.1987 – 9 C 184.86 – NVwZ 1987, 895): Werde festgestellt, dass der strafrechtliche Zugriff schon allein wegen des bloßen Innehabens einer politischen Überzeugung erfolge, sei in aller Regel eine politische Verfolgungsabsicht indiziert. Im Übrigen sei zu untersuchen, ob ein Staat mit den Mitteln des Strafrechts auf Leib, Leben oder die persönliche Freiheit des Einzelnen schon deshalb zugreife, weil dieser seine – mit der Staatsraison nicht übereinstimmende – politische Meinung nach außen bekunde und damit notwendigerweise eine geistige Wirkung auf die Umwelt ausübe und meinungsbildend auf andere einwirke. Die politische Überzeugung werde dann in asylerheblicher Weise unterdrückt. Entscheidend hierfür sei der Umfang der rechtlich gewährten und tatsächlich respektierten Meinungsfreiheit. Insoweit sei es von wesentlicher Bedeutung, ob es die in dem jeweiligen Staat bestehenden Vorschriften zuließen, dass die durch sie geschützten Prinzipien in Wort und Schrift kritisiert werden könnten und ihnen mit dem Ziel, meinungsbildend und überzeugend auf andere einzuwirken, andere Prinzipien als die „richtigen“ entgegengestellt werden dürfen, ob also in dieser Weise eine geistige Auseinandersetzung zwischen den Prinzipien der jeweiligen staatlichen Ordnung und den ihnen nicht entsprechenden Ideen möglich sei. Ein Staat, der bereits eine Meinungsäußerung des Einzelnen als eine Gefahr für seinen Bestand ansehe und durch Strafvorschriften erfasse, schränke nicht die Handlungsfreiheit im Interesse der Gefahrenabwehr in asylrechtlich unerheblicher Weise ein, sondern pönalisiere in Wirklichkeit auch die – abweichende – politische Überzeugung selbst, die schon als solche als Gefahr angesehen werde.
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Ausgehend von der gesetzlichen Regelung und den soeben dargestellten Grundsätzen der höchstrichterlichen Rechtsprechung lassen sich die vorliegend aufgeworfenen Fragen ohne Durchführung eines Berufungsverfahrens beantworten.
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Die Frage, ob die abstrakte Strafandrohung einer „Präsidentenbeleidigung“ als eine unverhältnismäßige Strafverfolgung zu bewerten ist (erste Frage), greift isoliert einen Gesichtspunkt aus dem Tatbestand der flüchtlingsrelevanten Verfolgung heraus. Denn selbst wenn eine Strafnorm schon für sich betrachtet eine diskriminierende Wirkung hätte – wie etwa in dem zitierten Fall eines strafbewehrten Verbots von Handlungen, die der Staatsreligion des Herkunftslands zuwiderlaufen (EuGH, U.v. 4.10.2018 – C-56/17 – NVwZ 2019, 634) –, muss darüber hinaus immer noch geprüft werden, wie mit diesem Verbot in der Strafrechtspraxis vor Ort umgegangen wird und ob Verstöße gegen dieses Verbot auch entsprechend geahndet werden. Mit ihrer Frage bezieht sich die Beklagte deshalb nur auf einen Teilaspekt der Flüchtlingseigenschaft nach § 3 Abs. 1 i.V.m. § 3a Abs. 2 Nr. 3 AsylG. Derart isoliert herausgegriffen bedarf die Frage keiner Entscheidung, weil die Flüchtlingseigenschaft maßgeblich vom Vorliegen der weiteren Anforderungen abhängt: Zum einen ist die Strafverfolgungspraxis im Heimatstaat in den Blick zu nehmen, zum anderen ist für die Flüchtlingseigenschaft weder isoliert ausreichend, dass eine Strafvorschrift möglicherweise unverhältnismäßig ist, noch dass der Betroffene einer Verfolgung ausgesetzt ist. Vielmehr sind in § 3 AsylG die Tatbestandsmerkmale „Verfolgung“ und die genannten Verfolgungsgründe miteinander verknüpft („wegen“), d.h. die Klägerin muss vorliegend verfolgt sein, weil sie – hier wohl einschlägig – eine gegenläufige politische Überzeugung hat. Vor allem aber bedarf es nach obigen Darlegungen hierzu immer einer Prüfung im Einzelfall, ob objektive Umstände darauf schließen lassen, dass der Betroffene wegen eines asylerheblichen Merkmals eine härtere als die sonst übliche Behandlung erleidet (sog. Politmalus). Dass die abstrakte Strafandrohung der Präsidentenbeleidigung nicht per se „verwerflich“ ist, sondern grundsätzlich dem legitimen staatlichen Rechtsgüterschutz dient, entspricht auch der Rechtsauffassung der Beklagten, die sich insoweit auf andere „- insbesondere demokratische -“ Rechtsordnungen, nicht zuletzt auf die deutsche Regelung bezieht. Da es somit immer darauf ankommt, ob eine grundsätzlich legitime Strafverfolgung im Einzelfall in eine politische Verfolgung umschlägt oder sie nicht über das hinausgeht, was auch bei der Ahndung sonstiger krimineller Taten ohne politischen Bezug regelmäßig angewandt wird, lassen sich hieraus keine verallgemeinerungsfähigen Schlüsse ziehen.
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Soweit sich die Fragen darauf beziehen, ob die abstrakte Strafandrohung ausreichend sein kann, gilt nichts anderes (siehe auch BVerwG, B.v. 3.8.2006 – 1 B 20/06 – juris: „Die rechtlichen Voraussetzungen, unter denen die Bestrafung wegen Staatsschutzdelikten als politische Verfolgung zu bewerten ist, [sind] in der Rechtsprechung grundsätzlich geklärt“). Gemessen an den oben dargestellten Grundsätzen müssen sich die Gerichte, wenn als Fluchtgrund ein Strafverfahren bzw. eine Verurteilung aufgrund einer – wie vorliegend – nicht bereits für sich gesehen diskriminierenden Strafvorschrift vorgetragen wird, auch insoweit mit dem Einzelfall auseinandersetzen, um festzustellen, ob in der Anwendung der Strafgesetze durch das Gericht des Herkunftsstaats eine Maßnahme politischer Verfolgung zu sehen ist. Das schließt eine allgemeine Klärung aus. Zum anderen muss die geltend gemachte Verfolgung – wie dargelegt – nach der gesetzlichen Regelung in § 3 Abs. 1 AsylG gerade wegen eines oder mehrerer der fünf genannten Verfolgungsgründe drohen und kann die Flüchtlingseigenschaft nur zuerkannt werden, wenn sich die Verfolgungsfurcht auf mindestens eines dieser Kriterien gründet. Ein gleichsam automatischer Schluss vom Straftatbestand auf die Flüchtlingseigenschaft ist damit ausgeschlossen, so dass allein die abstrakte Strafandrohung nicht ausreichend sein kann.
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Angesichts der dargestellten Anforderungen kommt es auf die Frage zum Grad der Wahrscheinlichkeit für die Zuerkennung von Flüchtlingsschutz (dritte Frage) nicht mehr entscheidungserheblich an, weil ihr zugrunde liegt, dass für einen Anspruch auf Flüchtlingsschutz bereits die abstrakte Strafandrohung genügen („bei der potentiellen Anwendbarkeit einer Strafrechtsnorm“) und sich ein solcher nicht erst aus den hier im Einzelnen genannten weiteren Kriterien ergeben kann. Zudem ist in der Rechtsprechung geklärt, welcher Wahrscheinlichkeitsmaßstab zur Beurteilung der Verfolgungsgefahr anzusetzen ist (siehe BVerwG, U.v. 1.6.2011 – 10 C 25.10 – NVwZ 2011, 1463 zur Symmetrie der Maßstäbe für die Anerkennung und das Erlöschen der Flüchtlingseigenschaft unter Berücksichtigung der europarechtlichen Vorgaben sowie der Rspr. des EuGH: beachtliche Wahrscheinlichkeit einer Verfolgung – „real risk“).
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Schließlich kann vorliegend offen bleiben, ob die Einschätzung des Verwaltungsgerichts, dass die Klägerin durch das unter dem Vorwurf der „Präsidentenbeleidigung“ gegen sie geführte türkische Strafverfahren eine individuelle Verfolgung wegen ihrer politischen, prokurdischen und regimekritischen Einstellung zu befürchten hat, zutreffend ist. Sollte die Beklagte mit ihrem Vortrag ernstliche Zweifel an der Richtigkeit der Entscheidung geltend machen wollen, ist darauf hinzuweisen, dass diese nicht zu den Zulassungsgründen des § 78 Abs. 3 AsylG gehören. Allerdings dürfte im Hinblick auf die Ausführungen der Beklagten, dass in der Türkei allein im Jahr 2019 etwa 10.000 Verfahren aufgrund Art. 299 tStGB zu einer Verurteilung geführt hätten, wohingegen es in der siebenjährigen Amtszeit von Erdogans Vorgänger Abdullah Gül insgesamt nur 233 Verurteilungen gegeben habe, gemessen an den hier dargestellten Prüfungskriterien viel dafür sprechen, dass eine Bewertung der konkreten Umstände im Fall der Klägerin zum Ergebnis führt, dass ihr bei einer Rückkehr eine Verfolgung wegen ihrer politischen Überzeugung droht.
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Da sich das angefochtene Urteil maßgeblich auf die Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR, U.v. 19.10.2021 – Vedat Şorli /Türkei, Nr. 42048/19 – https://hudoc.echr.coe.int/eng?i=001-212394 [in französischer Sprache] = juris Ls.) stützt, ist im vorliegend aufgezeigten Kontext abschließend auf Folgendes hinzuweisen: Der dortige Kläger hatte gerügt, dass sein Recht auf freie Meinungsäußerung verletzt sei. Demzufolge hatte der Gerichtshof ausschließlich zu prüfen, ob ein Strafverfahren nach Art. 299 tStGB mit der Meinungsfreiheit vereinbar ist, nicht aber wie hier, ob der Betroffene wegen eines asylerheblichen Merkmals eine härtere als die sonst übliche Behandlung erleidet. Bezogen auf einen möglichen Eingriff in die Meinungsfreiheit hat der Gerichtshof ausgeführt (Rn. 43 ff.), dass das Interesse eines Staats, den Ruf seines Staatsoberhaupts zu schützen, es nicht rechtfertigen könne, dem Staatsoberhaupt ein Privileg oder einen besonderen Schutz gegenüber dem Recht auf Information und Meinungsäußerung über ihn zu gewähren. Es sei zwar völlig legitim, dass Personen, die die Institutionen des Staates vertreten, von den zuständigen Behörden in ihrer Eigenschaft als Garanten der institutionellen öffentlichen Ordnung geschützt würden, dass aber die beherrschende Stellung, die diese Institutionen einnähmen, den Behörden gebiete, bei der Anwendung des strafrechtlichen Mittels Zurückhaltung zu üben. Geboten sei immer eine Verhältnismäßigkeitsprüfung anhand der Umstände des konkreten Einzelfalls. Damit hat auch der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte die dort zugrunde liegende Entscheidung über die Anordnung der Untersuchungshaft und die strafrechtliche Verurteilung einschließlich der Entscheidung über die Strafaussetzung zur Bewährung in den Blick genommen und nicht pauschal von der Strafvorschrift auf einen Eingriff in die Meinungsfreiheit geschlossen. Vielmehr hat er sich bei der Abwägung ausdrücklich immer wieder auf die „Umstände des vorliegenden Falls“ gestützt und ist dabei zu dem Schluss gekommen, dass „unter den Umständen des vorliegenden Falls eine Verletzung von Art. 10 der Konvention [EMRK] vorliegt“. Der Gerichtshof sah keine Rechtfertigung für den türkischen Staat, gegenüber dem dortigen Kläger Strafmaßnahmen zu verhängen, zumal die Regierung für die Inanspruchnahme einer Ausnahmeregelung keine Beweise dafür vorgelegt habe, dass das Strafverfahren notwendig geworden wäre.
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Eine Entscheidung über den Antrag auf Gewährung von Prozesskostenhilfe erübrigt sich im Hinblick darauf, dass der Antrag der Beklagten auf Zulassung der Berufung abgelehnt wurde und damit die Beklagte die Kosten des Verfahrens zu tragen hat. Unabhängig davon ist auch keine Erklärung über die persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse vorgelegt worden.
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Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO, § 83b AsylG.