Inhalt

VGH München, Beschluss v. 01.02.2023 – 11 CS 22.2141
Titel:

Entziehung der Fahrerlaubnis nach Schlaganfall

Normenketten:
StVG § 3 Abs. 1 S. 1
FeV § 11 Abs. 2, § 46 Abs. 1 S. 1, Abs. 3, Anl. 4 Nr. 6.4
Leitsätze:
1. Grundsätzlich besteht nach einem Schlaganfall zwar keine Eignung zum Führen von Kraftfahrzeugen der Gruppe 2. Eine Ausnahme iSd Vorbemerkung Nr. 3 zur Anlage 4 zur FeV kann jedoch z.B. dann in Betracht kommen, wenn bei vollständiger Rückbildung der Symptome ein längerer Zeitraum ohne weitere Vorfälle verstrichen ist und kein nennenswertes Rückfallrisiko mehr besteht (vgl. VGH München, BeckRS 2016, 48812). (Rn. 16) (redaktioneller Leitsatz)
2. Zwar vermag das Lebensalter allein nichts über den Gesundheitszustand oder die Leistungsfähigkeit eines Menschen auszusagen. Die Fahrerlaubnisbehörde darf dieses aber bei Auffälligkeiten im Straßenverkehr mit in den Blick nehmen und berücksichtigen, dass die Wahrscheinlichkeit für eine Beeinträchtigung sensorischer, kognitiver und motorischer Fähigkeiten sowie für gewisse fahreignungsrelevante Erkrankungen im hohen Alter zunimmt. (Rn. 17) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Entziehung der Fahrerlaubnis wegen Nichtbeibringung eines ärztlichen Gutachtens, älterer Kraftfahrer, Schlaganfall, polizeiliche Mitteilung über Auffälligkeiten bei einem Verkehrsunfall, Ausräumen der Eignungszweifel durch Attest des behandelnden Arztes (verneint), Fahrerlaubnis, Fahreignung, Alter, ärztliche Unterlagen, Rückfallgefahr, Auffälligkeiten
Vorinstanz:
VG München, Beschluss vom 31.08.2022 – M 19 S 22.3769
Fundstelle:
BeckRS 2023, 1971

Tenor

I. Die Beschwerde wird zurückgewiesen.
II. Der Antragsteller trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.
III. Der Streitwert für das Beschwerdeverfahren wird auf 8.750,- Euro festgesetzt.

Gründe

I.
1
Der 1937 geborene Antragsteller wendet sich gegen die sofortige Vollziehbarkeit der Entziehung seiner Fahrerlaubnis der Klassen AM, A1, A2, A, B, BE, C1, C1E, L und T.
2
Im Januar 2022 ging beim Landratsamt A. eine polizeiliche Mitteilung ein, wonach der Antragsteller am 20. Januar 2022 einen Verkehrsunfall in B. verursacht habe. Er habe die B1. Straße, eine Bundesstraße, von der Stadtmitte kommend in nordöstlicher Richtung befahren. Vor der Überführung über die M2. Straße habe er nach links auf die Spur abbiegen wollen, die in einer Schleife auf die M2. Straße und ins Stadtzentrum führe. Tatsächlich sei er jedoch zu früh abgebogen und dadurch auf die Gegenfahrbahn geraten, also die Spur der Bundesstraße, die den Verkehr von Norden auf die B1. Straße leite. Er sei links an einem Fahrbahnteiler vorbei- und dann weiter entgegen der Fahrtrichtung auf der Gegenspur gefahren. Der entgegenkommende Fahrer eines Pkw-Transporters habe das fehlerhafte Fahrmanöver bemerkt, sein Fahrzeug „auf Höhe der Abschleifung zur Stadtmitte“ zum Stillstand gebracht und versucht, den Antragsteller durch Lichthupe zu warnen. Dieser sei jedoch weitergefahren und letztlich mit mäßiger Geschwindigkeit frontal gegen den stehenden Transporter gestoßen. Als Grund für den Fahrfehler vermutete die Polizei Sichtbehinderungen durch starke Schnee- und Graupelschauer sowie altersbedingte Defizite. Der Antragsteller habe bereits im Oktober 2021 einen Unfall verursacht, als er zu weit links gefahren sei und einen abbiegenden Pkw gestreift habe.
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Das Landratsamt bat den Antragsteller daraufhin zunächst um eine hausärztliche Stellungnahme zu seinem Gesundheitszustand. Dieser legte eine Bescheinigung eines Internisten vom 22. Februar 2022 vor, in dessen hausärztlicher Behandlung er sich seit 2016 befindet. Unter Diagnosen wird dort u.a. ein „Zustand nach apoplektischem Insult“ genannt. Der Antragsteller habe im Juni 2012 nach erheblicher körperlicher Überlastung einen Schlaganfall mit ausgeprägten Sprechstörungen erlitten, sei seitdem jedoch beschwerdefrei. Zusammenfassend heißt es, der Antragsteller sei in einem altersentsprechend eher überdurchschnittlich guten Allgemeinzustand, auffallende körperliche oder kognitive Defizite könnten aus hausärztlich-internistischer Sicht nicht festgestellt werden.
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Unter dem 1. März 2022 hörte das Landratsamt den Antragsteller zu einer Entziehung seiner Fahrerlaubnis der Klassen C1 und C1E der Gruppe 2 an, wies auf die Möglichkeit eines Verzichts hin und bat darüber hinaus um eine ergänzende hausärztliche Stellungnahme u.a. zu dem Schlaganfall. Daraufhin übersandte der Antragsteller eine weitere Bescheinigung seines Hausarztes vom 7. März 2022. Darin wird zu dem Schlaganfall ausgeführt, die neurologischen Ausfälle hätten sich, soweit bekannt, sehr rasch, innerhalb weniger Stunden, zurückgebildet. Eine spezifische Therapie sei nicht notwendig gewesen. Neurologische oder neuropsychologische Ausfälle bestünden nicht. Es sei mit keinem wesentlich erhöhten Rezidiv-Risiko zu rechnen.
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Mit Schreiben vom 6. April 2022 forderte das Landratsamt den Antragsteller auf, ein Gutachten eines Arztes einer anerkannten Begutachtungsstelle für Fahreignung beizubringen. Zu klären sei u.a., ob der Antragsteller trotz des Vorliegens einer kreislaufabhängigen Störung der Hirntätigkeit (Schlaganfall), die die Fahreignung nach Nr. 6.4 der Anlage 4 zur Fahrerlaubnisverordnung (FeV) in Frage stelle, in der Lage sei, den Anforderungen zum Fahren von Kraftfahrzeugen der Gruppen 1 und 2 gerecht zu werden, ob eine ausreichende Compliance sowie Adhärenz vorliege und ob Auflagen, Beschränkungen oder Nachuntersuchungen erforderlich seien. Zudem wurde um Äußerung gebeten, ob zusätzlich eine psychophysische Leistungstestung durch einen Verkehrspsychologen für erforderlich gehalten werde. Im Fall eines Schlaganfalls setze die Fahreignung für Kraftfahrzeuge der Gruppe 1 eine erfolgreiche Therapie und Abklingen des akuten Ereignisses ohne Rückfallgefahr voraus. Es sei angesichts der hausärztlichen Stellungnahmen gut möglich, dass diese Voraussetzungen gegeben seien. Aufgrund fehlenden medizinischen Sachverstands könne das Landratsamt dies anhand der vorliegenden Unterlagen jedoch nicht selbst beurteilen. Deshalb werde in Ausübung des von § 11 Abs. 2 FeV eingeräumten Ermessens eine ärztliche Begutachtung für erforderlich erachtet. Fahreignung für Kraftahrzeuge der Gruppe 2 sei ausgeschlossen. Da der Antragsteller von der Möglichkeit eines Verzichts auf die Fahrerlaubnis in diesem Umfang keinen Gebrauch gemacht habe, werde die Begutachtung gleichwohl hinsichtlich beider Gruppen angeordnet.
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Nachdem innerhalb der bis zum 10. Juni 2022 gesetzten Frist kein Gutachten vorgelegt wurde, entzog das Landratsamt dem Antragsteller nach vorheriger Anhörung mit Bescheid vom 5. Juli 2022 die Fahrerlaubnis und forderte ihn unter Androhung eines Zwangsgelds auf, seinen Führerschein innerhalb einer Woche ab Zustellung des Bescheids abzugeben. Ferner ordnete es die sofortige Vollziehung dieser Verfügungen an. Aus der Nichtvorlage des Gutachtens sei auf mangelnde Eignung zu schließen.
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Hiergegen ließ der Antragsteller beim Verwaltungsgericht München am 29. Juli 2022 Klage (Az. M 19 K 22.3738) erheben, über die noch nicht entschieden worden ist. Zugleich stellte er einen Antrag gemäß § 80 Abs. 5 VwGO, den das Verwaltungsgericht mit Beschluss vom 31. August 2022 ablehnte. Die Klage bleibe voraussichtlich ohne Erfolg. Das Landratsamt habe nach § 11 Abs. 8 FeV auf die mangelnde Eignung des Antragstellers zum Führen von Kraftfahrzeugen schließen müssen, da dieser das rechtmäßig geforderte Gutachten nicht vorgelegt habe. Die Erkenntnisse zu dem Schlaganfall im Jahr 2012 hätten einen hinreichenden Anlass für die Begutachtung geboten. Ob die für die Eignung zum Führen von Kraftfahrzeugen der Gruppe 1 erforderlichen Voraussetzungen nunmehr gegeben seien, habe das Landratsamt nach den vorliegenden Unterlagen nicht selbst beurteilen können. Dies bedürfe vielmehr der fachärztlichen Klärung. Dass die Eignung zum Führen von Kraftfahrzeugen der Gruppe 2 in die Gutachtensanordnung mit einbezogen worden und dem Antragsteller damit Gelegenheit gegeben worden sei, seine Eignung insoweit unter Beweis zu stellen, stelle diesen nicht schlechter und sei nicht zu beanstanden.
8
Dagegen richtet sich die Beschwerde des Antragstellers, dem der Antragsgegner entgegentritt.
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Hinsichtlich des weiteren Sach- und Streitstands wird auf die Gerichts- und Behördenakten Bezug genommen.
II.
10
Die Beschwerde bleibt ohne Erfolg. Aus den von der Beschwerde dargelegten Gründen, auf deren Prüfung der Verwaltungsgerichtshof beschränkt ist (§ 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO), ergibt sich nicht, dass die Entscheidung des Verwaltungsgerichts zu ändern oder aufzuheben wäre.
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1. Nach § 3 Abs. 1 Satz 1 des Straßenverkehrsgesetzes vom 5. März 2003 (StVG, BGBl I S. 310, 919), im maßgeblichen Zeitpunkt des Bescheiderlasses zuletzt geändert durch das zum Teil zum 1. Mai 2022 in Kraft getretene Gesetz vom 15. Januar 2021 (BGBl I S. 530), und § 46 Abs. 1 Satz 1 der Verordnung über die Zulassung von Personen zum Straßenverkehr vom 13. Dezember 2010 (Fahrerlaubnis-Verordnung – FeV, BGBl I S. 1980), im maßgeblichen Zeitpunkt zuletzt geändert durch die zum Teil zum 1. Juni 2022 in Kraft getretene Verordnung vom 18. März 2022 (BGBl I S. 498), hat die Fahrerlaubnisbehörde die Fahrerlaubnis zu entziehen, wenn sich ihr Inhaber als ungeeignet zum Führen von Kraftfahrzeugen erweist. Werden Tatsachen bekannt, die Bedenken begründen, dass der Inhaber einer Fahrerlaubnis zum Führen eines Kraftfahrzeugs ungeeignet oder bedingt geeignet ist, finden die §§ 11 bis 14 FeV entsprechend Anwendung (§ 3 Abs. 1 Satz 3 i.V.m. § 2 Abs. 8 StVG, § 46 Abs. 3 FeV).
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Nach § 11 Abs. 2 FeV kann die Fahrerlaubnisbehörde die Beibringung eines ärztlichen Gutachtens, unter anderem eines Gutachtens eines Arztes einer amtlich anerkannten Begutachtungsstelle (§ 11 Abs. 2 Satz 3 Nr. 5 FeV), anordnen, wenn Tatsachen bekannt werden, die Bedenken gegen die körperliche oder geistige Eignung des Fahrerlaubnisinhabers begründen. Bedenken gegen die körperliche und geistige Fahreignung bestehen nach § 11 Abs. 2 Satz 2 FeV insbesondere, wenn Tatsachen bekannt werden, die auf eine Erkrankung oder einen Mangel nach Anlage 4 oder 5 zur FeV hinweisen.
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Nach Nr. 6.4 der Anlage 4 zur FeV ist ungeeignet zum Führen von Kraftfahrzeugen, wer an einer kreislaufabhängigen Störung der Hirntätigkeit leidet. Eignung oder bedingte Eignung für Kraftfahrzeuge der Gruppe 1 liegt nach erfolgreicher Therapie und Abklingen des akuten Ereignisses ohne Rückfallgefahr wieder vor. Die Eignung zum Führen von Kraftfahrzeugen der Gruppe 2 ist grundsätzlich dauerhaft ausgeschlossen.
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Weigert sich der Betroffene, sich untersuchen zu lassen, oder bringt er das geforderte Gutachten nicht fristgerecht bei, darf nach § 11 Abs. 8 Satz 1 FeV auf die Nichteignung geschlossen werden. Der Schluss auf die Nichteignung ist allerdings nur zulässig, wenn die Anordnung der Begutachtung formell und materiell rechtmäßig, insbesondere anlassbezogen und verhältnismäßig ist (stRspr, vgl. BVerwG, U.v. 17.11.2016 – 3 C 20.15 – BVerwGE 156, 293 Rn. 19).
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2. Daran gemessen begegnet die vom Landratsamt verfügte Entziehung der Fahrerlaubnis keinen rechtlichen Bedenken. Der Schluss aus der Nichtvorlage des angeforderten ärztlichen Gutachtens auf die fehlende Fahreignung für Fahrzeuge der Fahrerlaubnisklassen der Gruppe 1 und 2 erweist sich als gerechtfertigt. Zum maßgeblichen Zeitpunkt der Gutachtensanordnung (vgl. BVerwG, U.v. 17.11.2016, a.a.O. Rn. 14) Rn. 18) ergaben sich hinreichende Anhaltspunkte für eine fahreignungsrelevante Erkrankung, die die Anordnung eines ärztlichen Gutachtens nach § 11 Abs. 2 Satz 3 Nr. 5 FeV rechtfertigten.
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a) Wenn das Landratsamt auf die Fahreignung für Fahrzeuge der Gruppen 1 und 2 abgestellt hat, ist dies nicht zu beanstanden. Die Fahrerlaubnis des Antragstellers erstreckt sich u.a. auf die Klassen C1 und C1E, die der Gruppe 2 zuzuordnen sind (vgl. Nr. 1.2 der Begutachtungsleitlinien zur Kraftfahreignung vom 27.1.2014 [VkBl S. 110] in der Fassung vom 17.2.2021 [VkBl S. 198]). Das Landratsamt war auch nicht gehalten, die Fahrerlaubnis der Klassen C1 und C1E ohne weitere Aufklärungsmaßnahmen isoliert zu entziehen (vgl. dazu Dauer in Hentschel/König/Dauer, Straßenverkehrsrecht, 46. Aufl. 2021, § 3 StVG Rn. 36). Grundsätzlich besteht nach einem Schlaganfall gemäß Nr. 6.4 der Anlage 4 zur FeV i.V.m. Nr. 3.9.4 der Begutachtungsleitlinien zwar, wie bereits erwähnt, keine Eignung zum Führen von Kraftfahrzeugen der Gruppe 2. Eine Ausnahme i.S.d. Vorbemerkung Nr. 3 zur Anlage 4 zur FeV kann jedoch z.B. dann in Betracht kommen, wenn bei vollständiger Rückbildung der Symptome ein längerer Zeitraum ohne weitere Vorfälle verstrichen ist und kein nennenswertes Rückfallrisiko mehr besteht (vgl. BayVGH, B.v. 22.6.2016 – 11 C 16.793 – juris Rn. 15; U.v. 7.3.2016 – 11 B 15.2093 – juris Rn. 28 ff.). Angesichts der Einschätzung des behandelnden Hausarztes lag es daher nicht zuletzt im Interesse des Antragstellers nahe, hier einem solchen Ausnahmefall nachzugehen. Jedenfalls aber verletzt dieses Vorgehen den Antragsteller nicht in seinen Rechten.
17
b) Das Landratsamt hat die polizeiliche Mitteilung zu dem Unfall vom 20. Januar 2022 zu Recht zum Anlass für eine Vorabklärung der körperlichen Eignung des Antragstellers genommen (vgl. dazu auch BayVGH, B.v. 3.5.2017 – 11 CS 17.312 – juris Rn. 16 ff.; B.v. 3.11.2020 – 11 CS 20.1469 – juris Rn. 22) und zunächst eine hausärztliche Stellungnahme zum Gesundheitszustand angefordert. Der Antragsteller macht zwar zutreffend geltend, dass nicht jeder Unfall eines älteren Kraftfahrers ohne Weiteres und ohne Rücksicht auf die konkreten Umstände des Einzelfalls eine weitere Aufklärung rechtfertigt (vgl. BayVGH, B.v. 7.2.2022 – 11 CS 21.2385 – Blutalkohol 59, 152 = juris Rn. 16 m.w.N.). Hier ergaben sich jedoch jedenfalls in einer Gesamtschau ausreichende Bedenken im Sinne eines „Anfangsverdachts“ hinsichtlich der Eignung zum Führen von Kraftfahrzeugen. Der geschilderte Unfallhergang lässt sich nicht ohne Weiteres allein mit schlechter Sicht aufgrund von Schnee und Graupel, einer unübersichtlichen Verkehrsführung oder mit einem Fahrfehler erklären, wie er auch einem uneingeschränkt geeigneten Kraftfahrer leicht unterlaufen kann. Der Antragsteller hat selbst nach dem Abbiegen sowie trotz Warnung des ihm entgegenkommenden Fahrzeugs durch Lichthupe nicht bemerkt, dass er sich auf der falschen Fahrbahn befindet, und ist auf den haltenden Transporter aufgefahren. Dies lässt Wahrnehmungsdefizite bzw. eine verlangsamte Informationsverarbeitung befürchten, die Ausdruck einer allgemein beeinträchtigten Leistungsfähigkeit oder von Krankheit sein können. Ferner vermag das Lebensalter allein zwar nichts über den Gesundheitszustand oder die Leistungsfähigkeit eines Menschen auszusagen (vgl. Schubert/Berg, DAR 2017, 2). Die Fahrerlaubnisbehörde darf dieses aber bei Auffälligkeiten im Straßenverkehr mit in den Blick nehmen und berücksichtigen, dass die Wahrscheinlichkeit für eine Beeinträchtigung sensorischer, kognitiver und motorischer Fähigkeiten sowie für gewisse fahreignungsrelevante Erkrankungen im hohen Alter zunimmt (vgl. dazu Schubert/Berg, a.a.O. S. 4; Gstalter/Fastenmeier, Zeitschrift für Verkehrssicherheit 59 (2013), Nr. 1 S. 5/6; Deutscher Verkehrssicherheitsrat, Beschluss vom 22.5.2019 zur „Verkehrssicherheitsarbeit für Ältere in Zeiten des demographischen Wandels, abrufbar unter www.dvr.de). Hinzu kommt, dass der Antragsteller kurz zuvor einen weiteren Unfall verursacht hatte. Abgesehen davon führt das Verwaltungsgericht aber auch zutreffend aus, dass die vorgelegten Atteste eine neue Tatsachengrundlage schaffen. Diese hat selbständige Bedeutung und ist unabhängig davon verwertbar, ob die ursprüngliche Anforderung rechtmäßig war (vgl. auch BayVGH, B.v. 14.9.2022 – 11 CS 22.876 – juris Rn. 14 m.w.N. zur selbständigen Bedeutung eines vorgelegten Gutachtens).
18
c) Aus den ärztlichen Bescheinigungen vom 22. Februar 2022 und 7. März 2022 folgt, dass der Antragsteller 2012 einen Schlaganfall (apoplektischen Insult) erlitten hat. Dieser stellt eine kreislaufabhängige Störung der Hirntätigkeit i.S.d. Nr. 6.4 der Anlage 4 zur FeV sowie der Nr. 3.9.4 der Begutachtungsleitlinien dar (vgl. Schubert/Huetten/Reimann/Graw, Begutachtungsleitlinien zur Kraftfahreignung, 3. Aufl. 2018, S. 179 f.) und somit die Eignung zum Führen von Kraftfahrzeugen der Gruppen 1 und 2 in Frage.
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d) Die vorliegenden ärztlichen Unterlagen waren – aus der maßgeblichen Sicht eines medizinisch nicht geschulten Laien – entgegen der Auffassung des Antragstellers auch nicht geeignet, die Zweifel an der Fahreignung vollständig zu entkräften. Nach der Rechtsprechung des Senats kann der Fahrerlaubnisinhaber Eignungszweifel bei medizinischen Fragen zwar unter Umständen durch andere aussagekräftige Beweismittel ausräumen (BayVGH, B.v. 4.9.2019 – 11 ZB 19.1178 – juris Rn. 18; B.v. 18.3.2019 – 11 CS 19.387 – juris Rn. 13; B.v. 24.3.2016 – 11 CS 16.260 – ZfSch 2016, 295 = juris Rn. 13). Das setzt allerdings voraus, dass keinerlei Restzweifel hinsichtlich der Fahreignung mehr verbleiben, weil aus den hierzu vorgelegten Unterlagen eindeutig auch für den (medizinisch und psychologisch nicht geschulten) Laien nachvollziehbar hervorgeht, dass die ursprünglichen Bedenken unbegründet sind (vgl. BayVGH, B.v. 20.3.2020 – 11 ZB 20.145 – ZfSch 2020, 295 = juris Rn. 12). Das war hier nicht der Fall.
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aa) Wenn die Eignung zum Führen von Kraftfahrzeugen der Gruppe 1 nach Abklingen eines Schlaganfalls zunächst eine erfolgreiche Therapie voraussetzt, umfasst dies, dass keine relevanten neurologischen oder neuropsychologischen Ausfälle vorliegen dürfen (vgl. Nr. 3.9.4 der Begutachtungsleitlinien sowie Schubert/Huetten/Reimann/Graw, a.a.O. S. 180 f.). Zu diesem Zweck sehen die Begutachtungsleitlinien eine eingehende Untersuchung vor (a.a.O.). Hintergrund ist, dass Schlaganfälle häufig zu kognitiven Beeinträchtigungen wie Beschränkungen der Reaktionsfähigkeit und Aufmerksamkeit führen (vgl. Schubert/Huetten/Reimann/Graw, a.a.O. S. 181). Dass und mit welchem Ergebnis eine solche eingehende Untersuchung bei dem Antragsteller vorgenommen wurde, geht aus den vorliegenden Unterlagen nicht hervor. Insbesondere lässt die Einschätzung des behandelnden Internisten, bei dem Antragsteller bestünden keine neurologischen oder neuropsychologischen Ausfälle, nicht erkennen, ob dem Erkenntnisse aus der hausärztlichen Betreuung oder Befunde aus einer eingehenden Untersuchung mit entsprechender Diagnostik zu Grunde liegen.
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Ferner setzt die Fahreignung voraus, dass keine – signifikant erhöhte (vgl. Nr. 3.9.4 der Begutachtungsleitlinien) – Rückfallgefahr besteht. Deren Beurteilung hängt u.a. von der Art und der Ursache des Schlaganfalls ab (vgl. Schubert/Huetten/Reimann/Graw, a.a.O. S. 182 f.; vgl. zu Ursachen auch Pschyrembel online, Stichwort „Schlaganfall“, Stand Juli 2022). Vor diesem Hintergrund sehen die Begutachtungsleitlinien vor, dass vor einer Eignungsbeurteilung gesicherte, durch klinische Untersuchungen erhobene Befunde zum Grundleiden vorliegen. Erst wenn sich ergebe, dass die allgemeine Prognose des Krankheitsverlaufs und insbesondere der Wiederholungsgefahr als günstig anzusehen sei, könne die Untersuchung auf spezifische Leistungsausfälle durch eine neuropsychologische Untersuchung sinnvoll sein (Nr. 3.9.4 der Begutachtungsleitlinien; vgl. auch Schubert/Huetten/Reimann/Graw, a.a.O. S. 183). Hier liegen aber weder Befunde zu einem Grundleiden des Antragstellers vor noch eine daraus abgeleitete, näher begründete und nachvollziehbare Prognose zur Wiederholungsgefahr.
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Daher erschien es angesichts der sorgfältig erstellten Äußerungen des Hausarztes, wie das Landratsamt zu Recht erkannt hat, durchaus möglich, dass der Antragsteller wieder in der Lage ist, Kraftfahrzeuge der Gruppe 1 sicher zu führen. Die nach den Begutachtungsleitlinien gebotene eingehende Untersuchung und die daraus abgeleitete Prognose zur Wiederholungsgefahr vermag diese aus den genannten Gründen jedoch nicht zu ersetzen. Eine andere Beurteilung ergibt sich auch nicht daraus, dass der Schlaganfall zum Zeitpunkt der Beibringungsanordnung nahezu zehn Jahre zurücklag. Dem zeitlichen Abstand zum Schlaganfall kommt zwar ersichtlich Bedeutung für das Risiko eines Rückfalls zu (vgl. Schubert/Huetten/Reimann/Graw, a.a.O. S. 182). Ein medizinischer Erfahrungssatz dahin, dass aus einer bestimmten anfallsfreien Zeit auf das Fehlen einer signifikanten Rückfallgefahr geschlossen werden kann, ist jedoch weder in den Begutachtungsleitlinien wiedergegeben noch ist ersichtlich, dass er sich dem Laien mit Blick auf sonstige allgemein zugängliche Quellen aufdrängen müsste. Im Übrigen bestehen auch aufgrund der polizeilichen Schilderung zum Unfallgeschehen klärungsbedürftige Zweifel an der Fahreignung des Antragstellers.
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bb) Hinsichtlich der Eignung zum Führen von Kraftfahrzeugen der Gruppe 2 gelten die vorstehenden Erwägungen erst recht. Dass bei dem Antragsteller ein Ausnahmefall im vorgenannten Sinn zu bejahen ist, kann ein medizinischer Laie den vorgelegten Unterlagen nicht entnehmen.
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3. Davon ausgehend hat das Verwaltungsgericht zu Recht angenommen, dass das öffentliche Interesse an der sofortigen Vollziehung der Entziehung der Fahrerlaubnis das Interesse des Antragstellers an der aufschiebenden Wirkung seiner Klage überwiegt. Dies gilt auch mit Blick darauf, dass der Antragsteller auf seine Fahrerlaubnis angewiesen ist, um seine schwer erkrankte Ehefrau zu den behandelnden Ärzten zu fahren. Bei Kraftfahrern, denen die erforderliche Eignung zum Führen eines Kraftfahrzeugs fehlt, ist das Erlassinteresse regelmäßig mit dem Vollzugsinteresse identisch (stRspr, vgl. BayVGH, B.v. 8.6.2021 – 11 CS 20.2342 – juris Rn. 17). Dem Schutz der Allgemeinheit vor Verkehrsgefährdungen kommt angesichts der Gefahren durch die Teilnahme ungeeigneter Kraftfahrer am Straßenverkehr besonderes Gewicht gegenüber den Nachteilen zu, die einem betroffenen Fahrerlaubnisinhaber in beruflicher oder in privater Hinsicht entstehen (vgl. BVerfG, B.v. 19.7.2007 – 1 BvR 305/07 – juris Rn. 6; B.v. 15.10.1998 – 2 BvQ 32/98 – BayVBl 99, 463 = juris Rn. 5, zu einer vorläufigen Entziehung der Fahrerlaubnis nach § 111a StPO; BayVGH, B.v. 17.2.2020 – 11 CS 19.2220 – juris Rn. 17; OVG NW, B.v. 22.5.2012 – 16 B 536/12 – juris Rn. 33).
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4. Die Beschwerde war demnach mit der Kostenfolge des § 154 Abs. 2 VwGO zurückzuweisen. Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 47 Abs. 1 Satz 1, § 53 Abs. 2 Nr. 2, § 52 Abs. 1 GKG i.V.m. den Empfehlungen in Nr. 1.5 Satz 1, 46.1, 46.3, 46.5, 46.9 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit 2013.
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5. Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO).