Inhalt

VGH München, Beschluss v. 30.01.2023 – 10 ZB 23.19
Titel:

kein vorübergehender Schutz für drittstaatsangehörigen Vertriebenen aus der Ukraine

Normenketten:
AufenthG § 24, § 60 Abs. 5, Abs. 7 S. 1
Durchführungsbeschluss (EU) 2022/382 Art. 2 Abs. 2
UkraineAufenthÜV § 2
Leitsätze:
1. § 2 UkraineAufenthÜV regelt lediglich die Befreiung bestimmter Ausländer vom Erfordernis des Besitzes eines Aufenthaltstitels regelt und ermöglicht die Einholung des für einen längerfristigen Aufenthalt erforderlichen Aufenthaltstitels im Bundesgebiet, erweitert aber nicht den Kreis anspruchsberechtigter Drittstaatsangehöriger nach dem Durchführungsbeschluss (EU) 2022/382.  (redaktioneller Leitsatz)
2. Der Prüfung der Frage, ob ein sonstiger nicht-ukrainischer Drittstaatsangehöriger nach Art. 2 Abs. 3 Durchführungsbeschluss (EU) 2022/382 Anspruch auf vorübergehenden Schutz nach § 24 AufenthG hat, ist eine sui generis-Prüfung unter Heranziehung der Voraussetzungen des § 60 Abs. 5 und Abs. 7 AufenthG zugrunde zu legen (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Aufenthaltsgewährung zum vorübergehenden Schutz für Vertriebene aus der Ukraine, nigerianischer Staatsangehöriger mit befristetem ukrainischen Aufenthaltstitel, sichere und dauerhafte Rückkehrmöglichkeit in Herkunftsland oder Herkunftsregion (hier: bejaht), Nigeria, humanitäre Aufenthaltserlaubnis als Vertriebener, Ukraine, Kriegsflüchtling, Massenzustrom, Ukraine-Aufenthalts-Übergangsverordnung, sui generis-Prüfung
Vorinstanz:
VG Augsburg, Urteil vom 16.11.2022 – Au 6 K 22.1372
Fundstelle:
BeckRS 2023, 1970

Tenor

I. Der Antrag auf Zulassung der Berufung wird abgelehnt.
II. Der Kläger trägt die Kosten des Zulassungsverfahrens.
III. Der Streitwert für das Zulassungsverfahren wird auf 5.000,- Euro festgesetzt.

Gründe

1
Mit dem Antrag auf Zulassung der Berufung verfolgt der Kläger, ein nigerianischer Staatsangehöriger, seine in erster Instanz erfolglose Verpflichtungsklage auf Erteilung einer humanitären Aufenthaltserlaubnis als Vertriebener (Kriegsflüchtling) aus der Ukraine weiter.
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Der Antrag auf Zulassung der Berufung ist unbegründet, weil sich aus dem der rechtlichen Überprüfung durch den Senat allein unterliegenden Vorbringen im Zulassungsantrag weder die geltend gemachten ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit des verwaltungsgerichtlichen Urteils im Sinne des § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO (1.) noch tatsächliche oder rechtliche Schwierigkeiten der Rechtssache im Sinne des § 124 Abs. 2 Nr. 2 VwGO (2.) ergeben.
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1. Die Berufung ist nicht wegen ernstlicher Zweifel an der Richtigkeit des angefochtenen Urteils (§ 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO) zuzulassen. Ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des angefochtenen Urteils im Sinne des § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO bestünden dann, wenn der Kläger im Zulassungsverfahren einen einzelnen tragenden Rechtssatz oder eine einzelne erhebliche Tatsachenfeststellung des Erstgerichts mit schlüssigen Gegenargumenten infrage gestellt hätte (BVerfG, B.v. 10.9.2009 – 1 BvR 814/09 – juris Rn. 11; B.v. 9.6.2016 – 1 BvR 2453/12 – juris Rn. 16; B.v. 8.5.2019 – 2 BvR 657/19 – juris Rn. 33). Dies ist jedoch nicht der Fall.
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Der Kläger macht geltend, er habe einen Anspruch auf Aufenthaltsgewährung zum vorübergehenden Schutz nach § 24 AufenthG in Verbindung mit dem Durchführungsbeschluss (EU) 2022/382 des Rates vom 4. März 2022 zur Feststellung des Bestehens eines Massenzustroms von Vertriebenen aus der Ukraine im Sinne des Artikels 5 der RL 2001/55/EG und zur Einführung eines vorübergehenden Schutzes (ABl. L 71 vom 4.3.2022, S. 1, im Folgenden: Durchführungsbeschluss (EU) 2022/382) sowie der Ukraine-Aufenthalts-Übergangsverordnung (Verordnung zur vorübergehenden Befreiung vom Erfordernis eines Aufenthaltstitels von anlässlich des Krieges in der Ukraine eingereisten Personen [Ukraine-Aufenthalts-Übergangsverordnung – UkraineAufenthÜV] vom 7.3.2022, BAnz AT 8.3.2022 V1). Der Verordnungsgeber der UkraineAufenthÜV habe nicht zwischen Drittstaatsangehörigen, die in der Ukraine über ein dauerhaftes Aufenthaltsrecht verfügten, und solchen (Drittstaatsangehörigen), die lediglich einen befristeten Aufenthaltstitel hatten, differenziert, sondern beide Personengruppen in der Verordnung gleich behandelt. Auch habe das Verwaltungsgericht nicht beachtet, dass ein Anspruch auf vorübergehenden Schutz auch solche nicht-ukrainischen Drittstaatsangehörigen haben, die nicht sicher und dauerhaft in ihr Herkunftsland oder ihre Herkunftsregion zurückkehren können; maßgeblich sei insofern das Ausmaß der Bindungen an die Ukraine und eine mögliche „Rückkehr in Würde“. Das Verwaltungsgericht habe insoweit nicht genügend berücksichtigt, dass der Kläger sich bereits seit acht Monaten in der Ukraine aufgehalten, im ersten Semester Wirtschaft studiert, ein Studentenvisum besessen habe und somit integriert gewesen sei. Die Ukraine seit daher seine Heimat geworden. Zudem habe das Verwaltungsgericht den Tod seines Vaters bei kriegerischen Auseinandersetzungen, die Flucht der anderen Familienangehörigen und die Umstände der persönlichen Verfolgung des Klägers nicht angemessen gewürdigt. Der Sachvortrag des Klägers sei ausreichend und ein hinreichendes Indiz dafür, dass eine Möglichkeit zur „Rückkehr in Würde“ in sein Herkunftsland nicht bestehe. Das Verwaltungsgericht verkenne insoweit den anzulegenden Maßstab und lege den Beschluss des Rats (EU) 2022/382 zu eng aus.
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Damit wird die angegriffene Entscheidung des Verwaltungsgerichts jedoch nicht im oben dargelegten Sinn ernstlich in Zweifel gezogen. Dass der Kläger nicht zum anspruchsberechtigten Personenkreis nach Art. 2 Abs. 2 Durchführungsbeschluss (EU) 2022/382 gehört, weil er nicht über einen nach ukrainischem Recht erteilten gültigen unbefristeten Aufenthaltstitel verfügt hat, hat das Verwaltungsgericht zutreffend festgestellt. Der Verweis des Klägers auf die UkraineAufenthÜV ändert daran nichts, da diese Verordnung lediglich die vorübergehende (für einen Zeitraum von 90 Tagen) Befreiung bestimmter Ausländer vom Erfordernis des Besitzes eines Aufenthaltstitels regelt und die Einholung des für einen längerfristigen Aufenthalt erforderlichen Aufenthaltstitels im Bundesgebiet ermöglicht, den Kreis anspruchsberechtigter Drittstaatsangehöriger nach dem Durchführungsbeschluss (EU) 2022/382 aber nicht erweitert. Ein möglicher Anspruch auf vorübergehenden Schutz nach § 24 AufenthG als sonstiger nicht-ukrainischer Drittstaatsangehöriger nach Art. 2 Abs. 3 Durchführungsbeschluss (EU) 2022/382 kommt für den Kläger deshalb nicht in Betracht, weil das Verwaltungsgericht zu Recht festgestellt hat, dass er sicher und dauerhaft in sein Herkunftsland Nigeria zurückkehren kann. Das Verwaltungsgericht hat bei der Prüfung dieser Frage den anzulegenden Maßstab (sui generis-Prüfung unter Heranziehung der Voraussetzungen des § 60 Abs. 5 und 7 AufenthG; vgl. Mitteilung der Europäischen Kommission zu operativen Leitlinien für die Umsetzung des Durchführungsbeschlusses (EU) 2022/382, ABl. C 126 I/4, sowie Hinweise des BMI zur Umsetzung dieses Durchführungsbeschlusses vom 14.4.2022/5.9.2022, S. 8) nicht verkannt und seine Beurteilung zu Recht auf die in den aktuellen Lageberichten des Auswärtigen Amtes geschilderte allgemeine Lage im Herkunftsland Nigeria gestützt. Die individuellen Umstände des Klägers hat es dabei entgegen dem Zulassungsvorbringen mit berücksichtigt. Das Vorbringen des Klägers zu einer ihm im Fall der Rückkehr nach Nigeria drohenden (asylrelevanten) Verfolgung ist allerdings, wie der Senat bereits im Prozesskostenhilfebeschwerdeverfahren 10 C 22.2001 mit Beschluss vom 4.11.2022 festgestellt hat, vage und unsubstantiiert und hinsichtlich der Möglichkeit internen Schutzes (s. § 3e AsylG) zudem nicht schlüssig. Von einem „ausreichenden Sachvortrag“ kann insoweit keine Rede sein. Die Behauptung des Klägers, er habe „keine gute Verbindung zum Herkunftsland“ und eine „Rückkehr in Würde“ mit der Möglichkeit des Aufbaus einer (hinreichenden) sozialen Existenz und sicheren Lebensverhältnissen sei nicht gegeben, bleibt unsubstantiiert. Das Verwaltungsgericht hat vielmehr in nicht zu beanstandender Weise festgestellt, dass dem jungen und erwerbsfähigen Kläger in Nigeria die Sicherung des wirtschaftlichen Existenzminimums durch ein eigenes Erwerbseinkommen sowie – erst recht – durch die mögliche zusätzliche Inanspruchnahme von Hilfs- oder Unterstützungsleistungen nationaler und europäischer Rückkehr- und Reintegrationsprogramme (vgl. dazu auch BVerwG, B.v. 17.1.2022 – 1 B 48.21 – juris Rn. 7) möglich sein wird.
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2. Auch besondere tatsächliche oder rechtliche Schwierigkeiten der Rechtssache im Sinne von § 124 Abs. 2 Nr. 2 VwGO liegen nicht vor.
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Solche Schwierigkeiten weist eine Rechtssache dann auf, wenn sie in tatsächlicher oder rechtlicher Hinsicht voraussichtlich größere, d.h. überdurchschnittliche, das normale Maß nicht unerheblich überschreitende Schwierigkeiten verursacht (vgl. BayVGH, B.v. 1.2.2019 – 10 ZB 18.2455 – juris Rn. 15; B.v. 4.3.2019 – 10 ZB 18.2195 – juris Rn. 17 m.w.N.). Die tatsächliche oder rechtliche Frage, die solche Schwierigkeiten aufwirft, muss dabei entscheidungserheblich sein (Roth in Posser/Wolff, BeckOK VwGO, Stand 1.7.2022, § 124 Rn. 43 m.w.N.). Dies ist vorliegend nicht der Fall.
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Soweit der Kläger geltend macht, dass es zur Anwendung des Durchführungsbeschlusses (EU) 2022/382, der UkraineAufenthÜV sowie der RL 2001/55/EG noch keine „einheitliche Rechtsprechung“ gebe und „viele Einzelfälle … nicht erfasst“ seien, eine Abschiebung des Klägers nach Nigeria „zur Entvölkerung der Ukraine“ und damit zur Verwirklichung eines der „russischen Kriegsziele“ beitrage, zeigt er besondere rechtliche oder tatsächliche Schwierigkeiten entscheidungserheblicher Fragen nicht auf.
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Soweit er unter Bezugnahme auf Ausführungen des Erstgerichts unter Randnummer 17 der Entscheidungsgründe rügt, das Verwaltungsgericht habe damit eine Rückkehr unmittelbar aus der Ukraine nach Nigeria für zumutbar erachtet, verkennt er zum einen die diesbezügliche Feststellung einer (indizierten) fehlenden dauerhaften Integration in die ukrainischen Lebensverhältnisse und zeigt zum anderen nicht auf, inwiefern die beanstandete Frage einer „unmittelbaren Rückkehr“ in seinem Fall entscheidungserheblich gewesen ist.
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Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO. Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 63 Abs. 2 Satz 1, § 47 Abs. 1 und 3 und § 52 Abs. 2 GKG.
11
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO). Mit der Ablehnung des Antrags auf Zulassung der Berufung wird die Entscheidung des Verwaltungsgerichts rechtskräftig (§ 124a Abs. 5 Satz 4 VwGO).