Titel:
Verzögertes Boarding aufgrund Corona-Maßnahmen als außergewöhnlicher Umstand
Normenkette:
Fluggastrechte-VO Art. 5 Abs. 1 lit. c, Abs. 3, Art. 7 Abs. 1 lit c
Leitsätze:
1. In Zeiten, in denen aufgrund sehr strenger und sich ständig ändernder Corona-Vorschriften mit einem erhöhten Kontrollbedarf zu rechnen war, war es für ein Luftfahrtunternehmen gem. Art. 5 Abs. 3 Fluggastrechte-VO zumutbar, bei einem Interkontinental-Flug mehr als sechs Mitarbeiter für das Boarding einzusetzen. (Rn. 15 – 19) (redaktioneller Leitsatz)
2. Das Ausladen von Gepäckstücken stellt keinen außergewöhnlichen Umstand iSv Art. 5 Abs. 3 Fluggastrechte-VO dar. (Rn. 21) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
außergewöhnlicher Umstand, Corona, Thailand, Boarding, Einsatz von Personal, Ausladen von Gepäck, Zumutbarkeit
Fundstelle:
BeckRS 2023, 19565
Tenor
1. Die Beklagte wird verurteilt, an die Klägerin 600,00 € nebst Zinsen hieraus in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz im Zeitraum vom 10.12.2021 bis einschließlich 07.06.2022 zu zahlen Zug und Zug gegen Aushändigung einer von N.N. unterschriebenen Originalurkunde über die Abtretung seiner Ansprüche aus der Fluggastrechteverordnung 261/2004, im Zusammenhang mit dem Flugvorfall vom 21.11.2021 mit der Flugnummer ... auf der geplanten Strecke Bangkok – München, an die Klägerin.
2. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
3. Die Beklagte hat die Kosten des Rechtsstreits zu tragen.
4. Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte kann die Vollstreckung der Klägerin durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des aufgrund des Urteils vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht die Klägerin vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110 % des zu vollstreckenden Betrags leistet.
5. Die Berufung wird zugelassen.
Der Streitwert wird auf 600,00 € festgesetzt.
Tatbestand
1
Die Klägerin begehrt aufgrund einer Flugverspätung aus abgetretenem Recht eine Ausgleichszahlung nach der Fluggastrechteverordnung.
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Der Fluggast N.N. sollte gemäß Buchungsbestätigung ... am 21.11.2021 von Bangkok über Helsinki nach München befördert werden. Der Flug von Bangkok nach Helsinki mit der Flugnummer ... sollte planmäßig am 21.11.2021 um 09:05 Uhr Ortszeit starten und am 21.11.2021 um 15:00 Uhr Ortszeit landen. Der Flug von Helsinki nach München mit der Flugnummer ... sollte planmäßig am 21.11.2021 um 16:20 Uhr Ortszeit starten und am 21.11.2021 um 17:55 Uhr Ortszeit landen. Der Flug ... war jedoch verspätet und erreichte Helsinki erst am 21.11.2021 um 16:46 Uhr Ortszeit. Durch die Verspätung konnte die anschließende Verbindung mit ... nicht erreicht werden. Dem Fluggast wurde eine Ersatzbeförderung mit ... und ... von Helsinki nach München angeboten. Trotz der angebotenen Ersatzbeförderung erreichte der Fluggast sein Ziel erst am 21.11.2021 um 22:06 Uhr Ortszeit und hatten damit eine Verspätung von 4 Stunden und 11 Minuten. Der Flug ... am 21.11.2021 wurde von der Beklagten durchgeführt. Die Distanz zwischen dem Abflug- und Ankunftsort beträgt 8.787 km.
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Das Flugzeug, mit welchem der streitgegenständliche Flug ausgeführt wurde, wurde am Vortrag, am 20.11.2021 unter der Flugnummer ... von Helsinki nach Bangkok überführt. Der Vorflug mit der Nummer ... sollte am 20.11.2021 um 16:50 Uhr Ortszeit Helsinki starten und um 07:25 Uhr Ortszeit in Bangkok landen, um dann um 09:05 Uhr Ortszeit in Bangkok den hier streitgegenständlichen Flug durchzuführen. Das Boarding zum Vorflug mit der Nummer ... startete um 15:00 Uhr. Die Beklagte setzte hierbei sechs Personen zum Boarding und zur Überprüfung der Dokumente ein, also doppelt so viele, wie die üblichen zwei bis drei Personen. Die Beklagte begann bereits in der Boarding Lounge mit der Überprüfung. Es waren insgesamt 284 Passagiere zu überprüfen, wobei es im vorliegenden Fall drei bis fünf Minuten pro Passagier dauerte. Im Zeitpunkt es streitgegenständlichen Fluges mussten die Passagiere gültige Ausweispapiere, gültige Visa und einen gültigen Thailandpass QR-Code vorlegen, ebenso wie ein negatives PCR-Test Resultat. Zu diesem Zeitpunkt änderten sich die Einreiseregelungen in Thailand ständig und nicht alle Passagiere waren mit den Regeln vertraut. Aus diesem Grund war es für die Fluggesellschaften auch sehr schwierig einzuschätzen, wie lange die Überprüfung pro Passagier dauern kann. Das Boarding zum Vorflug war um 17:24 Uhr Ortszeit beendet, allerdings musste dann drei Passagieren die Beförderung verweigert werden, da diese nicht über die ausreichenden Nachweise verfügten mit der Folge, dass das Gepäck dieser drei Passagiere im Frachtraum gesucht und ausgeladen werden musste. Dies hatte zur Folge, dass das Flugzeug schlussendlich erst um 18:26 Uhr in Helsinki vom Gate wegrollen durfte. Die Beklagte war verpflichtet, die notwendigen Kontrollen während des Einsteigevorgangs vorzunehmen, da es auch Passagiere gab, die mit Handgepäck reisen, online einchecken und sich dann direkt zum Abfluggate begaben. Es konnten nicht alle Passagiere bereits bei der Gepäckaufgabe kontrolliert werden. Es war auch nicht möglich, den Einsteigevorgang noch früher beginnen zu lassen, da zahlreiche Passagiere von Zubringerflügen in Helsinki zum Einsteigevorgang des streitgegenständlichen Fluges gelangten.
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Der Fluggast N.N. trat den ihm gegen die Beklagte zustehenden Ausgleichsanspruch an die Klägerin ab. Die Klägerin zeigte der Beklagten mit Schreiben vom 25.11.2021 die Abtretung an und forderte die Beklagte unter Vorlage der Abtretungserklärung und Fristsetzung zum 09.12.2021 erfolglos zur Zahlung des Ausgleichsanspruchs auf.
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Mit Schriftsatz vom 07.06.2022, der Klägerin zugestellt am 08.06.2022, berief sich die Beklagte auf ihr Leistungsverweigerungsrecht nach § 410 BGB.
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Die Klägerin beantragt,
die Beklagte zu verurteilen, an die Klägerin 600,00 € nebst Zinsen in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 10.12.2021 zu zahlen.
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Die Beklagte beantragt,
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Die Beklagte behauptet, dass sich das Boarding verzögert habe, weil sie aufgrund der sehr strengen Corona-Vorschriften in Thailand gezwungen gewesen sei, jeden Passagier auf die Einhaltung der Corona-Vorschriften zu kontrollieren, insbesondere habe jeder Passagier einen negativen Corona-Test vorzeigen müssen. Die Beklagte habe alles dafür getan, um einen pünktlichen Abflug des Fluges mit der Nummer AY141 zu gewährleisten. Dennoch habe nicht verhindert werden können, dass der unmittelbare Vorflug zu dem hier streitgegenständlichen Flug anstatt um 16:50 Uhr erst um 18:26 Uhr in Helsinki vom Gate habe wegrollen dürften. Die Beklagte habe dann durch Fliegen mit maximaler Geschwindigkeit einen Teil dieser Verspätung aufholen können. Das Flugzeug sei dann in Bangkok sehr schnell „umgedreht“ worden. Dennoch habe sich nicht vermeiden lassen, dass der hier streitgegenständliche Flug in Bangkok anstatt um 09:05 Uhr erst um 10:45 Uhr Ortszeit vom Gate Richtung Startbahn habe wegrollen dürfen, also mit einer Verspätung von 1 Stunde und 40 Minuten. Der Fluggast sei auf die nächst verfügbare Verbindung an sein Endziel München umgebucht und befördert worden.
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Das Gericht hat Beweis erhoben durch schriftliche Einvernahme des Zeugen N.N.. Für das Ergebnis der Beweisaufnahme wird verwiesen auf die schriftliche Zeugenaussage des Zeugen N.N. (Bl. 30 d. A.). Im Übrigen wird zur Vervollständigung des Tatbestands Bezug genommen auf sämtliche wechselseitigen Schriftsätze der Parteien jeweils nebst Anlagen.
Entscheidungsgründe
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Die zulässige Klage ist überwiegend begründet.
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I. Die Klägerin hat einen Anspruch auf Ausgleichszahlung in Höhe von insgesamt 600 € aus abgetretenem Recht aus Art. 5 Abs. 1 lit. c), Art. 7 Abs. 1 lit. c) VO (EG) 261/2004, § 398 BGB Zug-um-Zug gegen Aushändigung einer Originalurkunde über die Abtretung der Ansprüche durch den Zedenten.
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1. Die Klägerin ist aktivlegitimiert. Die Beklagte hat zwischenzeitlich unstreitig gestellt, dass der Fluggast N.N. (im Folgenden: der Zedent) seinen Ausgleichsanspruch an die Klägerin abgetreten hat, § 398 BGB.
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2. Der Anwendungsbereich der Fluggastrechteverordnung ist gemäß Art. 3 Abs. 1 lit. a), Abs. 2 lit. a) VO (EG) 261/2004 eröffnet, da der Zedent über eine Buchung über einen Flug verfügte, der Flug von einem Luftfahrtunternehmen der Gemeinschaft ausgeführt wurde und von einem Drittstaat zu einem Flughafen im Gebiet eines Mitgliedstaats, das den Bestimmungen des Vertrags unterliegt (hier: München, Deutschland), antreten werden sollte.
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3. Es unerheblich, dass der streitgegenständliche Flug nicht, wie vom Wortlaut des Art. 5 VO (EG) 261/2004 vorgesehen, annulliert wurde. Denn große Verspätungen ab drei Stunden berechtigen gleichermaßen zu einer Ausgleichszahlung nach Art. 5, Art. 7 VO (EG) 261/2004 wie auch eine Flugannullierung (EuGH, Urt. v. 19.11.2009 – C-402/07, C-432/07). Eine solche Verspätung lag hier auch vor, da der Zedent sein Endziel nur mit einer Verspätung 4 Stunden und 11 Minuten erreicht hat. Die Anspruchshöhe bestimmt sich gemäß Art. 7 Abs. 1 S. 1 lit. c) VO (EG) 261/2004 nach der Entfernung der Flugreise und beträgt hier bei der Entfernung von 8.787 km 600 €.
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4. Die Beklagte kann sich auch nicht mit Erfolg auf das Vorliegen außergewöhnlicher Umstände im Sinne von Art. 5 Abs. 3 VO (EG) 261/2004 berufen.
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a. Gemäß Art. 5 Abs. 3 VO (EG) 261/2004 ist ein ausführendes Luftfahrtunternehmen nicht verpflichtet Ausgleichszahlungen gemäß Artikel 7 zu leisten, wenn es nachweisen kann, dass die Annullierung oder große Verspätung auf außergewöhnliche Umstände zurückgeht, die sich auch dann nicht hätten vermeiden lassen, wenn alle zumutbaren Maßnahmen ergriffen worden wären. Artikel 5 Abs. 3 VO (EG) 261/2004 ist dabei als Ausnahmeregelung eng auszulegen (EuGH, Urt. v. 22. 12. 2008 – C-549/07, Rn. 20). Als außergewöhnliche Umstände im Sinne dieser Vorschrift können nur solche Vorkommnisse angesehen werden, die ihrer Natur oder Ursache nach nicht Teil der normalen Ausübung der Tätigkeit des betroffenen Luftfahrtunternehmens sind und von ihm nicht tatsächlich beherrschbar sind (EuGH, Urt. v. 22. 12. 2008 – C-549/07). Nach der nicht abschließenden Aufzählung in Erwägungsgrund 14 der Fluggastrechteverordnung können außergewöhnliche Umstände insbesondere bei politischer Instabilität, mit der Durchführung des betreffenden Fluges nicht zu vereinbarenden Wetterbedingungen, Sicherheitsrisiken, unerwarteten Flugsicherheitsmängeln und betriebsbeeinträchtigenden Streiks eintreten.
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b. Die von der Beklagten geschilderten – und klägerseits teilweise bestrittenen – Umstände rechtfertigen bereits nicht die Annahme außergewöhnlicher Umstände. Eine Beweisaufnahme war daher insoweit nicht angezeigt.
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Zwar könnte der Umstand, dass die Beklagte aufgrund der sehr strengen Corona-Vorschriften in Thailand gezwungen war jeden Passagier auf die Einhaltung der Corona-Vorschriften zu kontrollieren, einen solchen Umstand darstellen, der von der Beklagten nicht zu beherrschen ist. Letztlich beruhte die große Verspätung des streitgegenständlichen Fluges aber nicht auf dem Umstand, dass die Beklagte die Corona-Vorschriften kontrollieren musste, sondern darauf, dass sich aufgrund dieser Kontrollen das Boarding derart verzögert hat, dass der Vorflug zu dem streitgegenständlichen Flug nicht pünktlich durchgeführt werden konnte. Bei der Dauer des Boardingvorgangs handelt es sich jedoch nach Auffassung des Gerichts um einen Vorgang, der von der Beklagten zu beherrschen ist. Zwar ist unstreitig, dass die Beklagte nicht noch früher mit dem Boarding hätte beginnen können. Die Beklagte kann aber gleichwohl jedenfalls durch die Anzahl der für das Boarding eingesetzten Mitarbeiter Einfluss auf die Dauer des Boardingvorgangs nehmen.
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Jedenfalls aber ergibt sich aus dem Vortrag der Beklagten nicht, dass sich die Verzögerungen beim Boarding – und damit letztendlich auch die große Verspätung – nicht durch das Ergreifen aller zumutbaren Maßnahmen verhindern hätten lassen können. Die Beklagte hat zwar vorgetragen, dass sie dem erhöhten Kontrollbedarf beim Boarding dadurch begegnet ist, dass sie das Boarding um 15:00 Uhr startete und insgesamt sechs, statt der üblichen zwei bis drei Personen für das Boarding einsetzte. Es ist aber weder vorgetragen noch sonst ersichtlich, dass die Beklagte nicht mehr als sechs Mitarbeiter für das Boarding hätte einsetzen können. Die Beklagte hat auch auf entsprechenden Hinweis nicht dargetan, weshalb nicht noch mehr Mitarbeiter für das Boarding eingesetzt wurden. Das Gericht erachtet es auch für zumutbar, in Zeiten, in denen – nach dem Vortrag der Beklagten – aufgrund der sehr strengen und sich ständig ändernden Corona-Vorschriften in Thailand mit einem erhöhten Kontrollbedarf zu rechnen ist, mehr als sechs Mitarbeiter für das Boarding einzusetzen, um größere Verzögerungen beim Boarding zu vermeiden.
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c. Schließlich vermag sich die Beklagte auch nicht durch den Umstand zu entlasten, dass das Gepäck von drei Passagieren wieder ausgeladen werden musste, da diese nicht über die ausreichenden Nachweise verfügten.
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Das Ausladen von Gepäckstücken stellt keinen außergewöhnlichen Umstand im Sinne von Art. 5 Abs. 3 VO (EG) 261/2004 dar (vgl. BeckOGK/Steinrötter, 1.2.2023, Fluggastrechte-VO Art. 5 Rn. 88). Vielmehr handelt es sich bei dem Umstand, dass bereits verladenes Gepäck wieder ausgeladen werden muss, weil der betreffende Fluggast nun doch nicht am Flug teilnimmt, um einen gewöhnlichen Vorgang der Teil der normalen Ausübung der Tätigkeit des betroffenen Luftfahrtunternehmens ist (AG Frankfurt a.M., Urteil vom 09.03.2016 – 29 C 1685/15(21), BeckRS 2016, 114998). Aus diesem Grund ist es auch unerheblich, ob die Beklagte zum Ausladen des Gepäcks verpflichtet ist. Es kommt nach Auffassung des Gerichts auch nicht darauf an, aus welchem Grund der Passagier nicht am Flug teilnimmt, also etwa ob er schlicht nicht zum Boarding erscheint oder ob ihm das Boarding wegen fehlender Nachweise versagt wird. Maßgeblich ist, dass es sich bei dem Erfordernis des Ausladens des Gepäcks wegen Nichtteilnahme des Fluggastes am Flug um einen häufig vorkommenden Umstand handelt.
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5. Dem Anspruch steht jedoch die Einrede des § 410 BGB entgegen.
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Die Beklagte kann sich auf die Einrede des § 410 BGB berufen, da die Klägerin bisher keine Abtretungsurkunde im Original ausgehändigt hat. Es kann hier auch dahinstehen, ob die Übersendung einer bloßen Fotokopie einer Abtretungserklärung den Erfordernissen des § 410 BGB gerecht wird. Denn bei der dem Schriftsatz vom 04.07.2022 beigefügten Abtretungsvereinbarung (Anlage K1, Bl. 17 d.A.) handelt es sich gerichtsbekannt nicht um eine Fotokopie einer echten, real existierenden Urkunde, sondern um den Ausdruck eines elektronischen Dokuments, welches online ausgefüllt wurde. Dies zeigt auch die auf der Abtretungserklärung (Bl. 17 d.A.) am oberen linken Rand ersichtliche „e-Signing ID“. Dies kann jedenfalls im Rahmen des § 410 BGB nicht ausreichen, da ein solches Dokument keine ausreichende Gewähr bietet und ein erhöhtes Fälschungsrisiko birgt (vgl. auch BeckOGK/Lieder, Stand: 01.09.2022, § 410 BGB, Rn. 17.1).
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Es kann auch dahinstehen, ob in einer schriftlichen Zeugenaussage, mit der der Zeuge die von ihm vorgenommene Abtretung bestätigt, eine Urkunde i.S.d. § 410 BGB gesehen werden kann. Denn eine Urkunde i.S.v. § 410 BGB muss den Anforderungen des § 126 BGB genügen (Palandt/Grüneberg, 80. Aufl. 2021, § 410 BGB Rn. 2), d.h. vom Aussteller der Urkunde eigenhändig durch Namensunterschrift unterzeichnet sein. Dies ist hier nicht der Fall. Auf der schriftlichen Zeugenaussage des Zeugen N.N., welche den Parteien in Kopie zugegangen ist, findet sich keine Unterschrift des Zeugen. Die Einholung einer ergänzenden Zeugenaussage war nicht angezeigt, da die beklagte Partei die Abtretung zwischenzeitlich unstreitig gestellt und eine weitere Beweisaufnahme daher nicht angezeigt war.
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II. Die geltend gemachte Zinsforderung ist nur teilweise begründet. Der Anspruch ergibt sich aus §§ 280 Abs. 2, 286, 288 BGB.
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Unstreitig hat die Klägerin die Beklagte mit Schreiben vom 25.11.2021 erfolglos zur Zahlung bis 09.12.2021 aufgefordert, sodass sich die Beklagte ab 10.12.2021 in Verzug befand.
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Der Verzug ist jedoch ex nunc entfallen, nachdem die Beklagte ihr Leistungsverweigerungsrecht nach § 410 BGB ausgeübt hat.
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Die Beklagte hat ihr Leistungsverweigerungsrecht mit Schriftsatz vom 07.06.2022 erklärt. Der Schriftsatz wurde der Klägerseite am 08.06.2022 zugestellt, sodass Verzug bis einschließlich 07.06.2022 bestand. Im Übrigen kann in dem Umstand, dass die Beklagte die Abtretung als solche unstreitig gestellt hat, kein Verzicht auf das Leistungsverweigerungsrecht nach § 410 BGB gesehen werden. § 410 Abs. 1 S. 1 BGB dient der Beweissicherung (BeckOGK/Lieder, 1.9.2022, BGB § 410 Rn. Rn. 4). Die Regelung setzt nicht voraus, dass zwischen dem neuen Gläubiger und dem Schuldner Streit hinsichtlich der Abtretung besteht.
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Die Kostenentscheidung beruht auf § 92 Abs. 2 Nr. 1 ZPO.
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Die Beklagte unterliegt teilweise hinsichtlich der Klagehauptforderung in Höhe von 600,00 € sowie teilweise hinsichtlich der Zinsforderung. Die Klagepartei unterliegt ebenfalls teilweise hinsichtlich der Klagehauptforderung soweit nur eine Zug-um-Zug Verurteilung ausgesprochen wurde und teilweise hinsichtlich der Zinsforderung.
31
Erfolgt statt einer vom Kläger begehrten uneingeschränkten Verurteilung nur eine Zug-um-Zug-Verurteilung ist bisher nicht endgültig geklärt, nach welchen Grundsätzen die Kosten zu verteilen sind (vgl. BeckOK ZPO/Jaspersen, 47. Ed. 1.12.2022, ZPO § 92, Rn. 27 m.w.N.). Jedenfalls aber kann § 92 Abs. 2 Nr. 1 ZPO zur Anwendung gelangen, wenn die Zug-um-Zug Einschränkung bei wirtschaftlicher Betrachtung für den Kläger nur eine unwesentliche Einbuße bedeutet, da die von ihm Zug-um-Zug zu erbringende Leistung keinen nennenswerten Aufwand erfordert (OLG Frankfurt, Urteil vom 19. Juli 2006 – 19 U 80/06 –, juris, Rn. 18; BeckOK ZPO/Jaspersen, 47. Ed. 1.12.2022, ZPO § 92, Rn. 29). So liegt es hier. Die Klägerin hat lediglich eine vom Zedenten unterzeichnete Abtretungserklärung beizubringen. Insoweit ist kein bedeutender finanzieller Aufwand der Klägerin erforderlich. Allenfalls entstehen Kosten für den Ausdruck einer Abtretungserklärung sowie Porto, sodass von einem finanziellen Aufwand von etwa 3,00 € auszugehen ist. Es ist auch anzunehmen, dass die Klägerin diese Abtretungserklärung tatsächlich beibringen kann, ohne nennenswerten Aufwand betreiben zu müssen. Denn der Zedent hat bereits elektronisch eine entsprechende Abtretungserklärung unterzeichnet und auch eine schriftliche Zeugenaussage verfasst, sodass davon auszugehen ist, dass die Klägerin von ihm auch eine händisch unterzeichnete Abtretungserklärung ohne Weiteres erlangen kann. Die Beibringung einer Abtretungserklärung stellt damit für die Klägerseite eine nur sehr unwesentliche Einbuße dar.
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Zum teilweisen Unterliegen der Klägerin hinsichtlich der Zug-um-Zug Verurteilung kommt noch das teilweise Unterliegen hinsichtlich der Zinsforderung hinzu. Aber auch dieses stellt sich für sich betrachtet als geringfügig dar. Insgesamt ist der Unterliegensanteil der Klägerin verhältnismäßig nur geringfügig (unter 10%) und hat keine höheren Gebühren ausgelöst, sodass die Voraussetzungen des § 92 Abs. 2 Nr. 1 ZPO erfüllt sind.
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Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit hat ihre Rechtsgrundlage in §§ 708 Nr. 11, 711, 709 S. 2 ZPO.
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Die Zulassung der Berufung erfolgte gemäß § 511 Abs. 4 Nr. 1 ZPO.