Titel:
Bindung des Versicherers einer Reiserücktrittsversicherung an Auskunft medizinischer Stornoberatung
Normenketten:
BGB § 242, § 278
AVB Reiserücktrittsversicherung
Leitsatz:
Sehen die AVB einer Reiserücktrittsversicherung für den Fall der Inanspruchnahme einer vom Versicherer angebotenen medizinischen Stornoberatung vor, dass bei Empfehlung, die Reise zu stornieren, eine Verpflichtung des Versicherten zu unverzüglichen Stornierung besteht, und kommt der Versicherte nach der Inanspruchnahme der Stornoberatung einer solchen Empfehlung nach, kann sich der vom Versicherten auf Leistung in Anspruch genommene Versicherer nach Treu und Glauben (§ 242 BGB) nicht später darauf berufen, es handele sich bei dem zugrunde liegenden Leiden nicht um eine "unerwartete schwere Erkrankung", so dass es bereits an einem versicherten Ereignis fehle. (Rn. 21 – 25) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Reiserücktrittsversicherung, medizinische Stornoberatung, Stornokosten, unerwartete schwere Erkrankung, Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung
Fundstelle:
BeckRS 2023, 19491
Tenor
1. Die Beklagte wird verurteilt, an die Klägerin 1.128,00 € nebst Zinsen hieraus in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit 07.10.2021 sowie weitere 220,27 € zu zahlen.
2. Die Beklagte hat die Kosten des Rechtsstreits zu tragen.
3. Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.
4. Der Streitwert wird auf 1.128,00 € festgesetzt.
Tatbestand
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Die Parteien streiten um Leistungen aus einem Reiserücktrittsversicherungsvertrag.
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Eine Freundin der Klägerin, … buchte am 02.07.2021 für sich und die Klägerin eine Pauschalreise nach Ibiza für den Reisezeitraum vom 25.09.2021 bis 29.09.2021 zu einem Gesamtreisepreis von 1.410,00 €. Für diese Reise schloss sie am 02.07.2021 für sich und die Klägerin als Mitversicherte eine Reiserücktritts-Versicherung bei der Beklagten unter der Vers.-Nr. 8...1 ab.
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Der Versicherungsschein vom 02.07.2021 enthält unter anderem folgende Formulierung:
„Ihr Service-Plus in der Stornokosten-Versicherung:
„Ist Ihre Reise aufgrund von Krankheit, Unfall oder aus anderen Gründen gefährdet? Sind Sie sich unsicher, ob sie ihre Reise antreten können oder doch stornieren müssen? Unsere telefonische Stornoberatung gibt Ihnen hier die richtige Empfehlung. …“
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Die Versicherungsbedingungen der Beklagten (AVB) sehen im Besonderen Teil unter anderem folgende Bestimmungen vor:
„2. Was leisten wir mit der Medizinischen Stornoberatung?
2.1 Wir beraten Sie in folgenden Fällen durch unsere medizinische Stornoberatung:
A) Sie erkranken nach Buchung Ihrer Reise.
2.2 Wir unterstützen Sie bei der Entscheidung, ob und wann sie ihre Reise stornieren sollten.
2.3 Stellt sich entgegen der Einschätzung unserer Medizinischen Stornoberatung heraus, dass sie ihre Reise doch nicht antreten können? In diesem Fall müssen Sie Ihre Reise zu dem Zeitpunkt stornieren, an dem feststeht, dass sie nicht reisefähig sind. Damit gilt ihre Stornierung noch als unverzüglich.
2.4 Haben Sie Ihre Reise nicht storniert, obwohl die Medizinische Stornoberatung dazu geraten hat? Dann tragen Sie das Risiko höherer Stornokosten selbst.
14.3 Haben Sie die medizinische Stornoberatung eingeschaltet und
A) empfiehlt diese, die Reise zu stornieren? Dann sind Sie verpflichtet, ihre Reise unverzüglich zu stornieren. …“
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Bei der Klägerin bestand seit dem Jahr 2017 die Grunderkrankung Morbus Basedow. Bei der Klägerin wurde am 07.09.2021 ein Knoten im Bereich der Schilddrüse festgestellt. Am 13.09.2021 erfuhr die Klägerin von einem erhöhten Calcitonin-Wert, einem Tumormarker für das medulläre Schilddrüsenkarzinom, der eine weitere medizinische Abklärung erforderlich machte. Die Klägerin hielt sodann am 13.09.2021 Rücksprache mit der Medizinischen Stornoberatung der Beklagten, schilderte die Situation und teilte mit, dass der früheste Termin für die weitergehende Abklärung in der Klinik der 24.09.2021 ist. Die Ärztin der Medizinischen Stornoberatung der Beklagten riet ihr in diesem Telefonat zu einer Stornierung der Reise. Die Klägerin und ihre Freundin stornierten daraufhin am 15.09.2021 die streitgegenständliche Reise, wodurch Stornierungskosten in Höhe von insgesamt 1.128,00 € entstanden. Der Anspruch der Freundin der Klägerin, … gegen die Beklagte in Höhe von 564,00 € wurde von dieser an die Klägerin abgetreten.
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Die weitere medizinische Abklärung fand am 24.09.2021 ambulant im Helios Universitätsklinikum Wuppertal statt. Eine Entfernung der Schilddrüse der Klägerin wurde in der Folgezeit notwendig, die entsprechende Operation erfolgte bei einem stationären Aufenthalt in derselben Klinik vom 20.10.2021 bis 22.10.2021.
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Mit E-Mail vom 04.10.2021 forderte die Klägerin die Beklagte unter Fristsetzung bis zum 06.10.2021 auf, die Stornierungskosten zu erstatten. Die Beklagte verweigerte die Kostenübernahme.
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Die Klägerin meint, dass die Verschlechterung ihrer Schilddrüsenerkrankung unerwartet im Sinne der AVB sei. Ebenso müsse sich die Beklagte auch an der von der Medizinischen Stornoberatung ausgesprochenen Empfehlung festhalten lassen. Außerdem bestehe nach den AVB eine Verpflichtung, die Reise unverzüglich zu stornieren, wenn die Medizinische Stornoberatung dies empfiehlt.
1. Die Beklagte wird verurteilt, an die Klägerin einen Betrag von 1.128,00 € nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über den Basiszinssatz seit dem 07.10.2021 zu zahlen.
2. Die Beklagte wird ferner verurteilt, an die Klägerin vorgerichtliche Anwaltskosten in Höhe von 220,27 € zu zahlen.
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Die Beklagte beantragt
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Die Beklagte meint, dass die Verschlechterung der Erkrankung der Klägerin schon nicht unerwartet sei. Ebenso sei die Durchführung der 5-tägigen Reise für die Klägerin nicht unzumutbar gewesen. Im Übrigen berate die von der Beklagten angebotene Medizinische Stornoberatung nur in Bezug auf den Zeitpunkt der Stornierung, entlaste also die versicherte Person von dem Risiko, die Reise verspätet zu stornieren. Über die grundsätzliche Frage, ob überhaupt ein versichertes Ereignis vorliegt, werde jedoch erst im Rahmen der Schadenbearbeitung befunden und entschieden.
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Das Gericht hat mit Zustimmung der Parteien Beweis erhoben durch uneidliche schriftliche Einvernahme des Zeugen … vom 09.12.2022. Wegen des Inhalts der Zeugeneinvernahme wird auf Bl. 42 d.A. verwiesen.
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Die Klagevertreterin hat mit Schriftsatz vom 16.01.2023, der Beklagtenvertreter mit Schriftsatz vom 11.01.2023 dem schriftlichen Verfahren zugestimmt. Mit Beschluss vom 18.01.2023 wurde als Zeitpunkt, der dem Schluss der mündlichen Verhandlung entspricht, der 15.02.2023, und Termin zur Verkündung einer Entscheidung auf den 16.02.2023 bestimmt.
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Im Übrigen wird zur Ergänzung des Tatbestands auf die Schriftsätze der Parteien, das Protokoll der mündlichen Verhandlung vom 29.09.2022 und den Akteninhalt Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
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Die zulässige Klage hat in vollem Umfang Erfolg. Die Klage ist begründet.
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I. Der Klägerin steht aus der zwischen den Parteien geschlossenen Reiserücktrittsversicherung aus eigenem und aus abgetretenem Recht ein Anspruch auf Erstattung der Stornierungskosten in Höhe 1.128,00 € gegen die Beklagte zu.
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Dabei kann vorliegend offenbleiben, ob eine unerwartete schwere Erkrankung im Sinne der AVB bei der Klägerin zum Stornierungszeitpunkt am 15.09.2021 vorlag, welche zu einer so starken gesundheitlichen Beeinträchtigung der Klägerin führte, dass diese die Reise nicht planmäßig antreten konnte.
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Denn jedenfalls hat die Klägerin gegen die Beklagte einen Anspruch auf Erstattung der Stornierungskosten gemäß der zwischen den Parteien am 02.07.2021 geschlossenen Reiserücktritts-Versicherung i.V.m. § 242 BGB. Die Beklagte muss sich nach dem Grundsatz des venire contra factum proprium an dem festhalten lassen, was die Ärztin der Medizinischen Stornoberatung der Klägerin in dem Telefongespräch am 13.09.2021 geraten hat.
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Die Grundlagen der medizinischen Stornoberatung sind unstreitig gemäß Ziffer 2 und 14 der AVB Vertragsbestandteil geworden. Zwar darf eine Partei ihre Rechtsansicht durchaus ändern, missbräuchlich ist widersprüchliches Verhalten aber dann, wenn für den anderen Teil ein Vertrauenstatbestand entstanden ist oder wenn andere besondere Umstände die Rechtsausübung als treuwidrig erscheinen lassen. Es muss objektiv das Gesamtbild eines widersprüchlichen Verhaltens vorliegen, weil das frühere Verhalten mit dem späteren unvereinbar ist und die Interessen der Gegenpartei im Hinblick hierauf vorrangig schutzwürdig sind. Ein Verschulden nicht erforderlich, vgl. Grüneberg in: Palandt, 80. Aufl. 2021, § 242 Rn. 55.
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Unstreitig hat die Klägerin am 13.09.2021 die Medizinische Stornoberatung der Beklagten kontaktiert, die ihr zu einer Stornierung der Reise geraten hat, woraufhin die Klägerin die Reise auch tatsächlich unverzüglich am 15.09.2021 storniert hat.
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Die Beklagte hat mit ihrer Beratung gegenüber der Klägerin einen Vertrauenstatbestand geschaffen, dass die Stornierung der Reise den vertraglichen Voraussetzungen der Reiserücktrittsversicherung entspricht.
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In Ziffer 2.2 der AVB wird die Leistung der Medizinischen Stornoberatung dahingehend konkretisiert, dass eine Unterstützung bei der Entscheidung angeboten wird, ob und wann die Vertragspartei ihre versicherte Reise stornieren soll. Nach der offenen Formulierung dieser Vertragsbedingung ist mithin entgegen der Ansicht der Beklagten davon auszugehen, dass die Medizinische Stornoberatung nicht nur in Bezug auf den Zeitpunkt der Stornierung berät, sondern auch darüber, ob überhaupt ein Stornierungsgrund im Sinne einer unerwarteten schweren Erkrankung gegeben ist. Dies wird auch dadurch gestützt, dass es sich explizit um eine medizinische und nicht um eine allgemeine Stornoberatung handelt und Rücksprache mit Ärzten gehalten werden kann. Die Beklagte weist schließlich selbst im Versicherungsschein den Versicherungsnehmer darauf hin, dass die Medizinische Stornoberatung die „richtige“ Empfehlung gibt und empfiehlt die Durchführung bei Unsicherheiten über das Eintreten des Versicherungsfalls.
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Darüber hinaus besteht nach Ziffer 14.3 A) der AVB sogar eine Verpflichtung der Klägerin, die Reise unverzüglich zu stornieren, wenn die Medizinische Stornoberatung dies empfohlen hat. Die Beklagte erhebt in ihren Versicherungsbedingungen mithin die in § 82 VVG gesetzlich geregelte Obliegenheit des Versicherungsnehmers zur Schadensminderung sogar zu einer Verpflichtung. Dabei kann vorliegend dahinstehen, ob Ziffer 14.3A) der AVB bereits eine unangemessene Benachteiligung des Verbrauchers im Sinne des § 307 Abs. 2 Nr. 1 BGB darstellt. Denn jedenfalls führt der nunmehrige Vortrag der Beklagten, dass es sich bei der Erkrankung der Klägerin nicht um eine unerwartete schwere Erkrankung i.S.d. Ziffer 4 der AVB gehandelt habe, zu einem unlösbaren Selbstwiderspruch. Wenn die Beklagte in ihren Versicherungsbedingungen die Verpflichtung des Versicherungsnehmers vorsieht, sich an die Empfehlung der Medizinischen Stornoberatung zu halten und die Reise aufgrund einer Stornierungsempfehlung unverzüglich zu stornieren, kann sie sich nicht im Nachhinein darauf berufen, dass eine unerwartete schwere Erkrankung im Sinne der Versicherungsbedingungen gar nicht vorgelegen habe. Wenn die Medizinische Stornoberatung der Beklagten – wie von der Beklagtenseite vorgetragen – keine Entscheidung darüber treffen kann, ob tatsächlich ein versichertes Ereignis vorliegt, muss dies gegenüber dem Versicherungsnehmer in der Beratung auch offengelegt werden und auf das Risiko einer abweichenden späteren Entscheidung der Beklagten über den Eintritt des Versicherungsfalls hingewiesen werden. Wobei aus Sicht des Gerichts höchst fraglich ist, warum die Beklagte den Versicherungsnehmern ihre Medizinische Stornoberatung überhaupt als Entscheidungsgrundlage empfiehlt, wenn sie selbst meint, sich an die Empfehlungen ihrer eigenen Beratung nicht halten zu müssen. Der diesbezügliche Vortrag der Beklagten steht in eklatantem Widerspruch zu Ziff. 2 und 14 ihrer eigenen AVB. Die Auskunft der Ärztin der Medizinischen Stornoberatung muss sich die Beklagte gemäß § 278 S. 1 BGB auch zurechnen lassen, sie hat sich dieser insoweit als Erfüllungsgehilfin bedient. Die Empfehlung der Medizinischen Stornoberatung zur unverzüglichen Stornierung der Reise ist mithin unvereinbar mit der späteren Verweigerung der Kostenübernahme durch die Beklagte mit der Begründung, es habe keine schwere unerwartete Erkrankung zum Stornierungszeitpunkt vorgelegen.
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Das Vertrauen der Klägerin in die Empfehlung der Medizinischen Stornoberatung der Beklagten ist auch schutzwürdig, die Klägerin konnte und durfte darauf vertrauen, dass die Ärztin der Medizinischen Stornoberatung sie richtig sowohl im Hinblick auf den Zeitpunkt der Stornierung als auch im Hinblick darauf, ob ein Stornierungsgrund vorliegt, berät.
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Das Interesse der Klägerin ist auch vorrangig schutzwürdig gegenüber dem Interesse der Beklagten. Zum einen handelt es sich bei der Klägerin um eine Verbraucherin i.S.d. § 13 BGB und die Beklagte hat als Unternehmerin die Versicherungsbedingungen gestellt. Zum anderen sieht das Gericht aufgrund der Stornierungsempfehlung wegen der in Ziff. 14.3 A) der AVB normierten Verpflichtung schlicht keinen anderen Weg für die Klägerin sich vertragstreu zu verhalten, als die Reise tatsächlich unverzüglich zu stornieren. Die Klägerin hat sich somit entsprechend den Versicherungsbedingungen und der telefonischen Auskunft der Beklagten vertragsgemäß verhalten.
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Die Versicherungspflicht entfällt auch nicht deshalb, weil unstreitig keine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung vorgelegt worden ist. Zwar ist in Ziffer 14.5 der AVB geregelt, dass die Beklagte den Versicherungsnehmer im Einzelfall auffordern kann eine Bescheinigung über die Arbeitsunfähigkeit einzureichen. Jedoch wurde eine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung der Klägerin von der Beklagten zunächst nicht angefordert und erstmals im Schriftsatz vom 02.01.2023 überhaupt die Notwendigkeit der Vorlage einer Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung erwähnt. Darüber hinaus bleibt gemäß Ziff. 15 der AVB der Versicherungsschutz dann bestehen, wenn der Versicherungsnehmer nachweist, dass die Obliegenheitsverletzung weder für den Eintritt oder die Feststellung des Versicherungsfalls noch für die Feststellung oder den Umfang der Leistung ursächlich war. Dies ist vorliegend der Fall. Da die Stornierung der Reise aufgrund Empfehlung der Medizinischen Stornoberatung der Beklagten gemäß Ziff. 14.3 A) der AVB erfolgte, konnte die Klägerin davon ausgehen, dass eine Stornierung der Reise unabhängig vom Vorliegen einer Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung erfolgen musste, sodass eine Ursächlichkeit für den Eintritt oder die Feststellung des Versicherungsfalls nicht erkennbar ist. Dies gilt zumal als die Beklagte vorliegend aufgrund widersprüchlichen Verhaltens und nicht aufgrund Eintritts des Versicherungsfalls haftet.
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II. Der Anspruch auf Verzugszinsen und vorgerichtliche Rechtsanwaltskosten folgt aus §§ 280 Abs. 2, 286 Abs. 2 Nr. 1, 3, 288 BGB.
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III. Die Kostenfolge ergibt sich aus § 91 ZPO. Die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus §§ 708 Nr. 11, 711 ZPO.