Titel:
Unbegründeter Schadensersatzanspruch wegen der Beschädigung von Eisenbahnwaggons
Normenketten:
ZPO § 286
BGB § 280 Abs. 1
HaftpflG § 1
Leitsatz:
Wenn Flachstellen bereits bei Übernahme eines Zuges vorhanden sind und diese nicht verursacht wurden, während sich der Zug in Gewahrsam des vermeintlichen Verursachers befunden hat, dann besteht kein Anspruch auf Ersatz eines Schadens. (Rn. 17 – 44) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Güterwaggon, Zug, Güterzug, Flachstellen, Feststellbremsen, Radsätze, Sachverständiger, Zeuge
Fundstellen:
LSK 2023, 19353
RdTW 2024, 104
BeckRS 2023, 19353
Tenor
1. Die Klage wird abgewiesen.
2. Die Klägerin hat die Kosten des Rechtsstreits zu tragen.
3. Das Urteil ist gegen Sicherheitsleistung in Höhe von 110% des jeweils zu vollstreckenden Betrags vorläufig vollstreckbar.
Der Streitwert wird auf 13.153,95 € festgesetzt.
Tatbestand
1
Die Klägerin verlangt vom Beklagten Schadensersatz wegen der Beschädigung von Eisenbahnwaggons.
2
Die Klägerin ist ein auf die Beförderung von PKWs spezialisierte Spediteur und verfügt hierzu über eine große Anzahl von Güterwaggons. Sie lässt ihre Waggons durch Eisenbahn-Verkehrsunternehmen befördern, mit denen sie entsprechende Frachtverträge abschließt. Der Beklagte betreibt als Kaufmann unter der Firma E. Eisenbahnlogistik V. R. M. ein solches Eisenbahn-Verkehrsunternehmen (EVU).
3
Unter dem 18.04./18.05.2017 schlossen die Parteien eine Haftungsvereinbarung (Anlage K1), worin sich der Beklagte gegenüber der Klägerin den Regeln des „Allgemeinen Vertrags für die Verwendung von Güterwagen“ (AVV – Anlage K2) unterwarf. Art. 22.1 AVV enthält folgende Regelung:
„Das EVU, in dessen Gewahrsam sich ein Wagen befindet, haftet dem Halter für den Schaden, der durch Verlust oder Beschädigung des Wagens oder seiner Bestandteile entstanden ist, sofern es nicht beweist, dass der Schaden nicht durch sein Verschulden verursacht worden ist.“
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Am 21.11.2017 beförderte der Beklagte für die Klägerin einen aus Autotransportwaggons bestehenden Zug von Fallersleben nach Bremen. Nach der Ankunft des Zuges in Bremen stellte sich heraus, dass die in diesem Zug beförderten Wagen mit den Nummern ..., ... und ... Flachstellen an den Radsätzen aufwiesen. Solche Flachstellen werden durch das Gleiten blockierter Radsätze über die Schienen verursacht.
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Unter dem 04./07.12.2017 schlossen die Parteien einen Transportrahmenvertrag (Anlage K3) ab, worin auch Vereinbarungen rückwirkend für die Zeit ab dem 01.05.20217 getroffen wurden. Ziffer 3.2 des Rahmenvertrags nimmt Bezug auf die Regeln des AVV.
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Nachdem der Beklagte mit E-Mail vom 19.12.2017 (Anlage K 13) die Haftung für die beschädigten Radsätze abgelehnt hatte, ließ die Klägerin den Beklagten mit Anwaltsschriftsatz vom 29.01.2018 (Anlage K 14) zur Anerkennung seiner Einstandspflicht bis spätestens 13.02.2018 und mit Schriftsatz vom 02.07.2018 (Anlage K 15) zur Begleichung ihrer außergerichtlichen Anwaltskosten unter Fristsetzung bis zum 20.07.2018 auffordern.
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Die Klägerin behauptet, dass die Flachstellen an den Radsätzen der genannten Waggons im Rahmen der vom Beklagten am 21.11.2017 für die Klägerin durchgeführte Zugfahrt entstanden und vom Beklagten schuldhaft verursacht worden seien. Für die Reparatur der betroffenen Radsätze habe die Klägerin einen Betrag in Höhe von insgesamt 13.135,95 € (Anlagen K6 bis K12) aufwenden müssen.
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Die Klageschrift vom 24.01.2020 ist dem Beklagten am 01.03.2019 zugestellt worden.
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Mit Schriftsatz vom 19.11.2020 (Bl. 102 d.A.) hat die Klägerin der DB C. AG den Streit verkündet. Die Streitverkündung ist der DB C. AG am 25.11.2020 zugestellt worden.
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Die Klägerin beantragt,
1. Der Beklagte wird verurteilt, an die Klägerin 13.153,95 € nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit dem 19.12.2017 zu bezahlen.
2. Der Beklagte wird verurteilt, an die Klägerin vorgerichtliche Rechtsanwaltskosten in Höhe von netto 865,00 € gemäß Kostenrechnung Nummer ... des Rechtsanwalts Dr. F. W1. Z., N., vom 02.07.2018 nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit dem 23.07.2018 zu zahlen.
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Der Beklagte beantragt
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Der Beklagte erhebt die Einrede der Verjährung.
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Der Beklagte ist der Ansicht, dass der AVV nicht wirksam in die Geschäftsbeziehung zwischen den Parteien einbezogen worden sei, insbesondere nicht auf das Schadensereignis rückwirkend durch den Transportrahmenvertrag vom 04./07.12.2017.
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Wegen der weiteren Einzelheiten zum Sach- und Streitstand verweist die Kammer auf die gewechselten Schriftsätze nebst Anlagen. Die Kammer hat den Beklagten im Termin vom 18.12.2019 ergänzend informatorisch zum Sachverhalt angehört und Beweis erhoben durch die uneidliche Einvernahme der Zeugen K1., Ke., Ka., Sch. und Z. und verweist auf die Sitzungsniederschriften vom 18.12.2019 (Bl. 49 d.A.) und vom 19.11.2020 (Bl. 104 d.A.). Ferner hat die Kammer Beweis erhoben gemäß Beweisbeschluss vom 12.11.2021 (Bl. 154 d.A.) durch die Erholung eines Gutachtens des Sachverständigen Prof. Dr.-Ing. W2. R.. Insoweit verweist die Kammer auf das schriftliche Gutachten vom 05.03.2022 (Bl. 163 d.A.) nebst Ergänzungen vom 26.04.2022 (Bl. 185 d.A.) und vom 23.02.2023 (Bl. 209 d.A.).
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Durch Beschluss vom 16.06.2023 (Bl. 224 d.A.) hat die Kammer mit Zustimmung der Parteien Entscheidung im schriftlichen Verfahren gemäß § 128 Abs. 2 ZPO angeordnet und als Termin, der dem Schluss der mündlichen Verhandlung entspricht, den 30.06.2023 bestimmt.
Entscheidungsgründe
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Die Klage ist zulässig aber unbegründet.
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1. Der Schadensersatzanspruch der Klägerin scheitert bereits dem Grunde nach daran, dass der hier geltend gemachte Schaden zur Überzeugung der Kammer (§ 286 ZPO) nicht entstanden ist, während sich die Güterwaggons im Gewahrsam des Beklagten befunden haben, sondern schon vorher vorhanden waren. Der Beklagte kann diesen Schaden somit nicht verursacht haben.
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Deshalb kommt es hier nicht darauf an, ob sich die Haftung des Beklagten – wie die Klägerin angesichts der in Anlage K1 niedergelegten Vereinbarung zwischen den Parteien wohl zu Recht meint – nach Art. 22.1 AVV richtet, und ob die Klägerin nach dieser Regelung lediglich die Entdeckung des Schadens oder auch seine Entstehung während der Gewahrsamszeit des Beklagten zu beweisen hat.
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a) Ausgangspunkt der Erwägungen der Kammer sind die vom Sachverständigen Prof. Dr. R. nachvollziehbar und überzeugend dargelegten allgemeinen technischen Rahmenbedingungen, in die das hier streitgegenständliche Schadensereignis einzuordnen ist:
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a) Festzuhalten ist zunächst die zwischen den Parteien unstreitige und vom Sachverständigen in seinem Gutachten vom 05.03.2022 (Bl. 167 d.A.) bestätigte Tatsache, dass Fachstellen ausschließlich durch Gleiten vollständig blockierter Radsätze auf der Schiene entstehen können, und dass bereits ein Rad, das sich lediglich langsamer dreht, als es der Fahrgeschwindigkeit des Zuges entsprechen würde, nicht zu Flachstellen führt.
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b) Ferner hat der Sachverständige in seinem Gutachten vom 05.03.2022 durch eine ohne Weiteres nachvollziehbare Berechnung (Bl. 168 d.A.) dargelegt, dass bei Radsätzen mit einem Durchmesser von wie hier 840 Millimetern eine Flachstelle mit einer Länge von wie hier 60 Millimetern ein Materialabtrag an der Lauffläche von maximal 0,54 Millimetern in Richtung Radnabe entspricht. Nach Einschätzung des Sachverständigen, der die Parteien wiederum nicht widersprochen haben, kann ein solch geringfügiger Abtrag bereits nach wenigen hundert Metern Fahrstrecke mit blockierten Rädern entstehen (a.a.O.), was im Umkehrschluss aber bedeutet, dass bei deutlich längeren mit blockierten Rädern zurückgelegten Strecken mit erheblich größeren Schäden gerechnet werden muss.
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c) Daran anknüpfend hat der Sachverständige ausgeführt, dass das hier festgestellte Schadensbild nicht durch angezogene Feststellbremsen an einzelnen Wagen verursacht worden sein kann, weil die betreffenden Waggons dann während des hier streitgegenständlichen Zuglaufs eine Fahrstrecke über etwa 200 Kilometer mit blockierten Radsätzen zurückgelegt hätten und deshalb die tatsächlich festgestellten Flachstellen für das in diesem Falle zu erwartende Schadensbild viel zu geringfügig ausgefallen sind. Da ferner die Feststellbremse (zumindest bei dem hier streitgegenständlichen Wagentyp) nur auf zwei der insgesamt vier Radsätze eines Wagens wirkt, wäre dadurch die Beschädigung von drei Radsätzen am Waggon mit den Endziffern -535-4 technisch ausgeschlossen (Bl. 169 d.A.).
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d) Aus den gleichen Gründen hat der Sachverständige auch nicht entfernte Hemmschuhe als Schadensursache nachvollziehbar ausgeschlossen: Es ist nämlich allgemein bekannt, dass Hemmschuhe zum Abbremsen von frei laufenden Güterwagen im Rahmen der Sortierung von Zügen über einen Ablaufberg eingesetzt werden, wobei der Hemmschuh vor einem herannahenden Wagen oder einer Wagengruppe vom Rangierarbeiter auf das Gleis gesetzt wird, sodass der Wagen nach dem Auflaufen auf den Hemmschuh durch die dabei entstehende Reibung abgebremst wird. Aus diesem Grund ist es ausgeschlossen, mehr als nur einen Hemmschuh pro ablaufenden Wagen oder Wagengruppe einzusetzen. Dies würde nämlich erfordern, dass der Regiearbeiter einen Hemmschuh zwischen die Radsätze eines rollenden Wagens (!) auf die Schiene setzt. Mehrere Radsätze eines einzigen Wagens können in diesem Fall daher nicht betroffen sein.
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e) Als Schadensursache während der Beförderung des Zuges durch den Beklagten kommt schließlich in Betracht, dass das Blockieren der betreffenden Radsätze durch das Druckluft-Bremssystem des Zuges selbst verursacht worden ist. Hier wiederum sind nur zwei Szenarien denkbar, nämlich zum einen das Anfahren des Zuges mit nur unvollständig gelösten Bremsen an einzelnen Wagen, also etwa wenn der Zeuge K2. die vorgeschriebene Bremsprobe vor der Abfahrt nicht ordentlich durchgeführt und dabei das unvollständige Lösen einzelner Bremsen übersehen hätte, oder aber durch ein entsprechendes Bremsmanöver während der Fahrt, sei es eine nicht „sensibel“ genug durchgeführte Betriebsbremsung, eine Vollbremsung durch den Triebfahrzeugführer oder auch eine durch die sog. Punktförmige Zugbeeinflussung (PZB) veranlasste Zwangsbremsung.
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b) Nach den vorangestellten Überlegungen kann die Kammer die oben dargestellte Alternative „Anfahren des Zuges mit nur unvollständig gelösten Bremsen an einzelnen Wagen“ bereits deshalb ausschließen, weil in dem Fall, dass der Zug seine gut 200 Kilometer lange Fahrt bereits mit einzelnen blockierten Radsätzen angetreten hätte, deutlich schwerwiegendere Schäden an den Radsätzen zu erwarten gewesen wären (siehe oben). Zum anderen wären blockierte Radsätze während der Fahrt auch nicht durch das charakteristische „Schlagen“ akustisch wahrnehmbar gewesen. Letzteres ist aber jedenfalls dem Fahrdienstleiter bei der Durchfahrt des Zuges durch Ahlten aufgefallen, der gerade deswegen sogar Kontakt zum Lokführer Ka.aufgenommen hat (Bl. 61 d.A.). Die Kammer verkennt an dieser Stelle nicht, dass diese in Ahlten akustisch wahrnehmbaren Flachstellen nicht unbedingt genau die streitgegenständlichen Flachstellen gewesen sein müssen, da, wie der Zeuge K2. ausgeführt hat, Schwachstellen grundsätzlich an praktisch jedem Güterzug anzutreffen sind (Bl. 112 d.A.) und – wie der Sachverständige bestätigt hat (Bl. 167 d.A.) – bis zu einer gewissen Größe auch zulässig sind. Die Kammer hat aber keinen Zweifel daran, dass dieses Phänomen jedem vertraut ist, der mit dem Bahnbetrieb zu tun hat, so dass der Fahrdienstleiter in Ahlten sich sicher nicht zu der umgehenden Meldung an den Triebfahrzeugführer veranlasst gesehen hätte, wenn das Fahrgeräusch des Zuges nicht aus dem zu erwartenden Rahmen gefallen wäre.
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c) Zu der Alternative „Voll- oder Zwangsbremsungen“ hat der Zeuge K2. angegeben, dass es derartige Vorfälle während der Zugfahrt nicht gegeben habe (Bl. 113 d.A.). Dies deckt sich mit der vom Sachverständigen dargestellten Auswertung des beklagtenseits vorgelegten PZB-Protokolls (Bl. 171/172 d.A.).
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a) Insoweit hat zwar die Klagepartei eingewandt, dass das beklagtenseits vorgelegten PZB-Protokoll zumindest nicht fälschungssicher sei, da das Datenformat, in das die aufgezeichneten Daten beim Auslesen der Datenspeicherkassette der PZB übertragen werden, nachträglich veränderbar sei. Letzteres hat zwar auch der Sachverständige nicht ausschließen können (Bl. 214/215 d.A.), gleichzeitig aber nachvollziehbar dargestellt, dass Hinweise auf eine Manipulation des vorgelegten PZB-Protokolls nicht erkennbar sind. Zieht man dazu in Betracht, dass eine Auswertung der in der Datenspeicherkassette der PZB unveränderbar gespeicherten Daten deren „Sichtbarmachung“ in einem allgemein zugänglichen Datenformat zwingend erfordert (schon um auch der in diesem Falle zwar eisenbahnaffinen, aber technisch dafür nicht ausreichend ausgestatteten Kammer eine Auseinandersetzung damit zu ermöglichen!), ist die Vorgehensweise der Beklagten hier völlig unverdächtig und nicht zu beanstanden. Die Kammer hat daher keinen Zweifel daran, dass die beklagtenseits vorgelegten Daten nicht nachträglich verändert worden sind, und sieht deshalb auch keine Veranlassung, dem Sachverständigen die eigenhändige Auslesung der originalen Datenspeicherkassette aufzugeben.
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b) Dazu kommt, dass sowohl eine vom Triebfahrzeugführer veranlasste als auch eine von der PZB verursacht erzwungene Bremsung auf alle Radsätze des Zuges gleichermaßen wirkt, so dass in diesem Falle entsprechende Schäden an mehr Radsätzen als den hier streitgegenständlichen mit großer Wahrscheinlichkeit zu erwarten gewesen wären. Dies hat der Sachverständige in seinem Gutachten vom 05.03.2022 auch ausdrücklich und anhand der von ihm dargestellten Funktionsweise des Druckluft-Bremssystems technisch nachvollziehbar klargestellt (Bl. 169 d.A.).
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d) Diese Befunde stehen nicht im Widerspruch zu den übrigen Angaben der vernommenen Zeugen:
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a) Der Zeuge K1., der als Wagenmeister die vorgeschriebene Sichtprüfung vor Abfahrt des Zuges durchgeführt hat, hat sich an den streitgegenständlichen Zug nicht konkret erinnern können (Bl. 52 d.A.), ist aber davon ausgegangen, dass der Zug in seiner Gegenwart nicht bewegt worden sei, da er es zu 99 Prozent mit stehenden Zügen zu tun habe (a.a.O.). Der Zeuge war zwar der Meinung, dass man bei der Sichtprüfung vorhandene Flachstellen sehen würde, wenn diese nicht durch den Wagenaufbau verdeckt werden oder der Zug gerade draufsteht (Bl. 51 d.A.). Daraus folgt aber nicht zwangsläufig, dass der Zeuge K1. vorhandene Flachstellen tatsächlich nicht übersehen haben kann, zumal der Sachverständige in seinem Ergänzungsgutachten vom 23.02.2023 unwidersprochen klargestellt hat, dass „eine absolut sichere Erkennung der Flachstellen im Stand des Zuges nicht möglich ist. Der geringe Materialertrag von ca. einem halben Millimeter bei 60 mm Flachstellenlänge erzeugt auf der blanken Lauffläche nur eine Schattierung kann bei ungünstigen Lichtverhältnissen unter dem Wagen übersehen werden“ (Bl. 172 d.A.). Diese Feststellung des Sachverständigen deckt sich wiederum mit den Angaben des Zeugen S., der die Waggons nach der Ankunft in Bremen untersucht hat und ebenfalls nicht hat ausschließen können, dass die Flachstellen bei der wagentechnischen Untersuchung vor der Abfahrt übersehen worden sind (Bl. 107 d.A.).
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b) Der Zeuge K2. schließlich, der als Lokführer den streitgegenständlichen Zug von Fallersleben nach Bremen gefahren hat, hat ausgesagt, dass vor der Abfahrt des Zuges die vorgeschriebene Bremsprobe ohne Befund durchgeführt habe. Das charakteristische Schlagen der Flachstellen – und nicht etwa das Quietschen von nicht gelösten Bremsen oder blockierten Radsätzen – sei ihm bereits bei der Ausfahrt aus Fallersleben aufgefallen, wobei sich diese Wahrnehmung im weiteren Verlauf der Fahrt mehrfach bestätigt habe. Dies wiederum hat der Zeuge plausibel damit begründet, dass er seinen Zug aufgrund des durchfahrenen Geländes an einigen Stellen besonders gut habe hören können (Bl. 111/112 d.A.). Daraus ist zu schließen, dass die Flachstellen bereits bei Übernahme des Zuges durch den Beklagten vorhanden und nicht erst während der Fahrt von Fallersleben nach Bremen verursacht worden sein können.
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e) Im Schriftsatz vom 15.12.2020 (Bl. 121 d.A.) hat die Klägerin gegen die Glaubwürdigkeit des Zeugen K2. B. angemeldet, die im Ergebnis allerdings nicht durchgreifen:
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a) Die Klägerin hat zunächst darauf hingewiesen, dass der Zeuge K2. als Subunternehmer des Beklagten durchaus ein Interesse daran habe, seien Verhalten möglichst beanstandungslos darzustellen, dabei aber auch anerkennen müssen, dass der Zeuge bei seiner Vernehmung aufgrund seines sicheren Auftretens und seiner detaillierten Ausführungen durchaus „Eindruck“ gemacht habe (Bl. 125 d.A.).
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Die Kammer verkennt nicht, dass hier grundsätzlich Regressansprüche des Beklagten gegen den Zeugen K2. im Raum stehen könnten, sollte sich herausstellen, dass die hier streitgegenständlichen Schäden auf schuldhaft pflichtwidriges Verhalten des Zeugen, der als selbstständiger Lokomotivführer vom Beklagten mit der Beförderung des Zuges beauftragt worden war, zurückzuführen sind. Das bedeutet aber nicht zwangsläufig, dass ein Zeuge, der ein mögliches eigenes Interesse am Ausgang des Rechtsstreits hat, allein deshalb grundsätzlich als unglaubwürdig anzusehen ist. Dieser Aspekt ist vielmehr bei der vorzunehmenden Gesamtwürdigung zu berücksichtigen.
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b) Ferner begründet die Klägerin ihre Vorbehalte gegen den Zeugen K2. damit, dass dieser seine Tätigkeit vor und während der Zugfahrt im Wesentlichen im Lichte der von ihm aufgrund des einschlägigen Regelwerks zu befolgenden Routine beschrieben habe. Hierbei handelt es sich um ein Phänomen, das nach der Erfahrung der Kammer bei Zeugen häufig vorkommt, die bei ihrer Vernehmung immer wiederkehrende Abläufe schildern, sodass durchaus die Gefahr einer Fehlschlusses („weil das so vorgeschrieben ist, mache ich es immer so, und weil ich es immer so mache, habe ich es auch im konkreten Fall so gemacht“) bestehen kann. Auch dieser Gesichtspunkt bedarf der Berücksichtigung im Rahmen der Gesamtwürdigung, kann aber nicht per se dazu führen, dass die Angaben eines Zeugen als nicht glaubhaft anzusehen sind.
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c) Im Übrigen erweisen sich die in der Stellungnahme der Klägerin vom 15.12.2020 gegen konkrete Einzelheiten der Aussage des Zeugen K2. vorgebrachten Einwände bei näherer Betrachtung als nicht stichhaltig:
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(1) Zunächst moniert die Klägerin, dass es nicht glaubhaft sei, dass der Zeuge beim Abgehen des Zuges vor der Abfahrt jede einzelne Achse auf das Lösen der Bremsen geprüft habe. Insoweit haben sich aber nirgendwo objektive Anhaltspunkte dafür ergeben, dass dies tatsächlich nicht der Fall gewesen ist. Soweit die Beklagte den von dem Zeugen K2. beschriebenen Tritt gegen die Bremse (Bl. 111 d.A.) als nicht ausreichend sichere Methode zum Feststellen des vollständigen Lösens der Bremse angesehen wird, hat jedenfalls der Sachverständige in seinem Gutachten vom 05.03.2022 an dem vom Zeugen K2. beschriebenen Vorgehen nichts zu beanstanden gefunden (Blatt 171).
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(2) Nicht richtig ist, dass die Aussage des Zeugen K2., er habe „bereits bei der Abfahrt das klopfende Geräusch der Flachstellen gehört“ (Bl. 112 d.A.), deshalb „überraschend“ sei (Bl. 124 d.A.), weil der Zeuge Z. in der von ihm verfassten Anlage B1 das Gegenteil bekundet habe. Tatsächlich war der Zeuge Z. bei der Abfahrt des Zuges gar nicht zugegen, sondern hat als Privatgutachter in dem als Anlage B1 vorgelegten Schreiben lediglich die Auffassung vertreten, dass die wagentechnische Untersuchung vor der Abfahrt des Zuges vom Wagenmeister fachgerecht ausgeführt worden sei und dass eine absolut sichere Feststellung von Beschädigungen der Laufflächen bei der vorgeschriebenen Sichtprüfung ohnehin nicht möglich sei.
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(3) Soweit der Zeuge K2. bei seiner Vernehmung zu Protokoll gegeben hat, dass er aufgrund seiner Erfahrung durchaus in der Lage sei, aufgrund des bei der Fahrt verursachten Geräusches kleinere von größeren Flachstellen unterscheiden zu können (Bl. 114 d.A.), ergibt sich daraus kein tragfähiger Anknüpfungspunkt für das absolute Ausmaß der vorhandenen Flachstellen, so das sich der von der Klägerin daraus gezogene Schluss, dass sich dann bei Abfahrt des Zuges vorhandene kleinere Flachstellen während der Fahrt nach Bremen auf das Ausmaß vergrößert haben müssen, das nach der Ankunft des Zuges festgestellt worden ist, bereits deshalb verbietet. Dazu kommt, dass bei dieser Variante jedenfalls genau die bereits bei Abfahrt des Zuges schadhaften Radsätze während der Fahrt nach Bremen blockiert haben müssen, und zwar zu einem Zeitpunkt, zu dem diese Flachstellen sämtlich Schienenkontakt hatten. Dies hält die Kammer bereits für überaus unwahrscheinlich, auch wenn man sich vielleicht vorstellen könnte, dass ein Radsatz leichter auf einer bereits bestehenden Flachstelle „einrastet“ als an einer unbeschädigten Stelle der Lauffläche. Darauf kommt es aber nicht an, da jedenfalls bei einer betrieblich veranlassten oder von der PZB erzwungenen Bremsung alle Radsätze des Zuges annähernd gleich stark abgebremst werden und daher auch ein entsprechend umfänglicheres Schadensbild zu erwarten gewesen wäre (siehe oben).
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(4) Reichlich konstruiert erscheint der Einwand, dass die Formulierung des Zeugen K2., der Fahrdienstleiter in Ahlten habe „in meinem Zug“ (Bl. 112 d.A.) klopfende Geräusche mitgeteilt, eine nur begrenzte Betroffenheit des Zuges impliziere, wohingegen der Zeuge K2. daraufhin nach Bremen vorausgemeldet habe, dass der „ganze Zug“ betroffen sei (Bl. 61 d.A.): Der Zeuge K2. hat ersichtlich zu keinem Zeitpunkt den Eindruck erwecken wollen, dass er während der Fahrt bereits eine genaue Vorstellung davon gehabt habe, wie viele Flachstellen an welchen Stellen des Zuges er genau wahrgenommen habe. Vielmehr ist dieses Detail während der gesamten Beweisaufnahme überhaupt nicht thematisiert worden.
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(5) Wenn schließlich die Klägerin auf gewisse örtliche und zeitliche Unschärfen in der Aussage des Zeugen K2. hinweist, so spricht dies nach Einschätzung der Kammer gerade nicht dafür, dass der Zeuge K2. seine Aussage bewusst zu seinen Gunsten geschönt hat. Vielmehr sind solche Details, die hier nicht dem Kern-, sondern dem Randgeschehen zuzuordnen sind, ein Indiz für die Genese der Aussage des Zeugen aus dessen authentischer Erinnerung, denn erfahrungsgemäß fällt es bereits kurze Zeit nach einem Ereignis schwer, Zeiten und Entfernungen, die regelmäßig ohnehin nur geschätzt werden können, wirklich exakt zu erinnern.
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cc) Dazu hat der Sachverständige technisch nachvollziehbar und überzeugend dargelegt, dass die von dem Zeugen K2. geführte Lokomotive mit einem Führerbremsventil ausgestattet ist, das konstruktionsbedingt selbsttätig die Angleichung des Drucks im Bremssystem des ganzen Zuges vornimmt, wodurch sichergestellt wird, dass auch überladene Bremsen einzelner Wagen nach kurzer Zeit gelöst werden und dass die Zeit, die ein Lokführer braucht, um bei der Bremsprobe von der Lokomotive zum Ende des Zuges zu gehen, dafür in jedem Fall ausreicht. Daraus folgt: Wenn der Zeuge K2. bei der Bremsprobe die Bremsleitung am Ende des Zuges geöffnet (=Anlegen der Bremsen im gesamten Zug) und wieder geschlossen (=Lösen der Bremsen) hat, muss die Druckangleichung spätestens zu dem Zeitpunkt abgeschlossen gewesen sein. Einzelne Wagen mit überladenen Bremsen kann es danach nicht mehr gegeben haben. Andernfalls wären dann auch an allen Radsätzen des betreffenden Waggons vergleichbare Schäden zu erwarten gewesen (Bl. 169, 186 und 210 d.A.). Da ein solches Schadensbild gerade nicht festgestellt worden ist, muss die Druckangleichung tatsächlich stattgefunden haben (oder wäre mangels ausgleichsbedürftiger Druckunterschiede in den Hilfsluftbehältern überflüssig gewesen).
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f) Die Gesamtschau dieser Erwägungen ergibt schon in rein technischer Hinsicht keinen plausiblen Schadenshergang, der in irgendeiner Weise durch den Beklagten zurechenbar, geschweige denn vorwerfbar verursacht worden sein könnte. Es sind insbesondere auch keine stichhaltigen Anhaltspunkte dafür ersichtlich, dass der Zeuge K2. nicht die Wahrheit gesagt hat. Vielmehr fügt sich dessen Aussage bei näherer Betrachtung widerspruchsfrei in das Gesamtbild der technischen Ausführungen des Sachverständigen und der Angaben der übrigen Zeugen. Die Kammer sieht daher – auch unter Berücksichtigung des möglichen Eigeninteresses des Zeugen am Ausgang des Rechtsstreits und des oben erörterten Problems der Schilderung allzu routinierter Abläufe – keinerlei Anlass, dem Zeugen K2. nicht zu glauben.
44
Nach alledem kommt die Kammer zu der bereits eingangs mitgeteilten Überzeugung, dass die hier streitgegenständlichen Flachstellen bereits bei Übernahme des Zuges durch den Beklagten vorhanden gewesen sind und daher nicht vom Beklagten verursacht worden sein können, während sich der Zug in dessen Gewahrsam befunden hat.
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3. Damit kann sich eine Haftung des Beklagten auch nicht aus § 1 HaftpflG oder § 280 Abs. 1 BGB ergeben, denn auch diese Vorschriften setzen jedenfalls die Kausalität zwischen dem Betrieb der Eisenbahn durch den Beklagten und dem geltend gemachten Schaden voraus.
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4. Da der Beklagte für den hier geltend gemachten Schaden bereits dem Grunde nach nicht haftet, sind Ausführungen zur Schadenshöhe nicht veranlasst.
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Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 91 ZPO.
48
Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 709 Satz 2 ZPO.