Titel:
Anforderungen an die Beweiswürdigung bei Verurteilung Erziehungsberechtigter
Normenketten:
OWiG § 79 Abs. 3 S. 1
BayEUG Art. 74 Abs. 2 S. 1, Art. 76 S. 2, Art. 119 Abs. 1 Nr. 2
Leitsätze:
1. Die Beweiswürdigung des Tatgerichts hat sich auf eine verstandesmäßig nachvollziehbare Tatsachengrundlage zu stützen. Dem wird ein tatrichterliches Urteil nicht gerecht, wenn die dem Schuldspruch zugrunde gelegten Feststellungen durch die Beweiswürdigung nicht nur nicht belegt werden, sondern die Urteilsfeststellungen sogar dem Ergebnis der Beweiswürdigung widersprechen. (Rn. 3)
2. Im Falle einer Verurteilung eines Erziehungsberechtigten, entgegen den gesetzlichen Verpflichtungen nicht dafür Sorge getragen zu haben, dass das minderjährige Kind am Schulunterricht teilnimmt, hat das Tatgericht grundsätzlich erfolgversprechende Handlungsmöglichkeiten, die nicht ergriffen wurden, aufzuzeigen. Insbesondere in Fällen, in denen der Erziehungsberechtigte wiederholt ernsthafte, wenn auch im Ergebnis fruchtlose Versuche unternommen hat, das Kind zum Schulbesuch zu bewegen, hat sich das Tatgericht hiermit eingehender auseinanderzusetzen (Anschl. an BayObLG, Beschluss vom 20.02.2023 – 202 ObOWi 1584/22 bei juris = BeckRS 2023, 5132). (Rn. 4 – 5)
Hat die Erziehungsberechtigte mit ihrer Tochter an mehreren Therapiegesprächen mit einer auf Schulverweigerung spezialisierten Psychologin teilgenommen und mit Wegnahme des Lieblingsspielzeugs und Anordnung von Hausarrest weitere ernsthafte Versuche unternommen, das Kind zum Schulbesuch zu bewegen, ist eine Obliegenheitsverletzung nach Art. 74 Abs. 2 S. 1 BayEUG, Art. 76 S. 2 BayEUG iVm Art. 119 Abs. 1 Nr. 2 BayEUG nicht hinreichend festgestellt. (Rn. 5) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Rechtsbeschwerde, Sachrüge, Geldbuße, Bußgeld, Urteilsaufhebung, Tatgericht, Schuldspruch, Urteilsgründe, Feststellungen, Beweiswürdigung, Beweisergebnis, Betroffeneneinlassung, Tatsachen, Tatsachengrundlage, Nachvollziehbarkeit, widersprüchlich, verstandesmäßig, Kind, minderjährig, Schüler, Schülerin, Grundschule, Schulunterricht, Schulbesuch, Schulpflicht, Schulpflichtverletzung, Sorgetragen, Obliegenheit, Obliegenheitsverletzung, Unterricht, Präsenzunterricht, Corona, Testung, Testobliegenheit, Erziehungsberechtigte, Mutter, Vater, Eltern, Handlungsmöglichkeiten, erfolgsversprechend, Versuch, fruchtlos, Schulbehörde, Schulverweigerung, Psychologin, Psychologe, Beratungstermin, Therapiegespräch, Maßnahme, Unterlassung, Einwirken, erzieherisch, Zureden, Schimpfen, Hausarrest, zumutbar, Urteilsfeststellungen
Fundstelle:
BeckRS 2023, 19219
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3. Vor diesem Hintergrund entbehrt die Überzeugung des Amtsgerichts von einer vorsätzlichen Verletzung der Verpflichtung der Betroffenen, als Erziehungsberechtigte dafür zu sorgen, dass ihre minderjährige schulpflichtige Tochter im Tatzeitraum am Unterricht regelmäßig teilnimmt und die sonstigen verbindlichen Schulveranstaltungen besucht, einer tragfähigen Grundlage. Insbesondere wird an keiner Stelle für den Senat deutlich, worauf die Überzeugung der Tatrichterin beruht, die Betroffene habe die Erfüllung der Schulpflicht ihrer Tochter sogar aktiv „verhindert“. Im Gegenteil legen die Feststellungen eher nahe, dass die Betroffene die ihr als Erziehungsberechtigte gegebenen Möglichkeiten, ihr Kind zum Schulbesuch zu bewegen, bis an die Grenze des Zumutbaren und rechtlich zulässigen ausgeschöpft hat. Für den Schuldspruch fehlt es damit an einer verstandesmäßig nachvollziehbaren Tatsachengrundlage, zumal seitens des Amtsgerichts auch nicht aufgezeigt wird, worin nach seiner Auffassung über die geschilderten Maßnahmen hinaus weitere konkrete erzieherische Einwirkungen bzw. Unterlassungen gerade der Betroffenen gebotenen gewesen wären, die eine den Tatvorwurf nach Art. 74 Abs. 2 Satz 1, 76 Satz 2 i.V.m. Art. 119 Abs. 1 Nr. 2 BayEUG ausfüllende Obliegenheitsverletzung gleichwohl rechtfertigen könnten (BayObLG a.a.O.).