Inhalt

VGH München, Beschluss v. 13.07.2023 – 22 S 20.128
Titel:

Kein Rechtschutzbedürfnis für eine Vollstreckungsabwehrklage bei einem Vollstreckungsverzicht

Normenketten:
VwGO § 92 Abs. 3 S. 1, § 155 Abs. 1 S. 1 Alt. 1, § 161 Abs. 2 S. 1, § 170, § 171, § 172
ZPO § 753 Abs. 1, § 754
Leitsatz:
Die Rechtsprechung des BGH, dass für eine Vollstreckungsabwehrklage solange ein Rechtsschutzbedürfnis besteht, wie der Gläubiger den Vollstreckungstitel noch in Händen hat, und dies selbst dann gilt, wenn der Gläubiger auf seine Rechte aus dem Titel verzichtet hat oder zwischen ihm und dem Schuldner Einigkeit darüber besteht, dass eine Zwangsvollstreckung nicht mehr in Betracht kommt, ist im Kontext der ihr zugrundeliegenden zivilprozessualen und zivilrechtlichen Regularien zu verstehen und kann nicht ohne Weiteres auf eine verwaltungsprozessuale Vollstreckungsgegenklage übertragen werden. (Rn. 16) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Vollstreckungstitel, Vollstreckungsabwehrklage, Zwangsvollstreckung, Rechtschutzbedürfnis, vollstreckbare Ausfertigung des Titels, Vollstreckungsverzicht, Luftreinhalteplan
Fundstelle:
BeckRS 2023, 19026

Tenor

I. Das Verfahren wird eingestellt.
II. Die Kosten des Verfahrens werden gegeneinander aufgehoben.
III. Der Streitwert wird auf 10.000 Euro festgesetzt.

Gründe

I.
1
Mit seiner Vollstreckungsgegenklage begehrte der Kläger, die Zwangsvollstreckung gegen ihn aus dem Urteil des Bayerischen Verwaltungsgerichts München vom 9. Oktober 2012 (M 1 K 12.1046) für unzulässig zu erklären.
2
Mit gerichtlichem Schreiben vom 4. August 2021 wies der Berichterstatter die Beteiligten darauf hin, dass sich infolge der am 1. Juni 2021 in Kraft getreten Zuständigkeitsänderung für die Aufstellung von Luftreinhalteplänen (Änderung des BayImSchG mit Gesetz vom 25. Mai 2021, GVBl S. 286) die Frage stelle, ob dem (Vollstreckungsgegen-)Kläger nicht auch der Einwand der rechtlichen Unmöglichkeit bezüglich der Verpflichtungen aus dem Urteil vom 9. Oktober 2012 zustehe, weil die Landeshauptstadt München mittlerweile nach Art. 2 Abs. 8 i.V.m. Abs. 2 Nr. 2 Buchst. b BayImSchG für die Fortschreibung des für ihr Stadtgebiet geltenden Luftreinhalteplans zuständig sei.
3
Am 2. September 2021 erklärte der Beklagte daraufhin, dass er gegenüber dem Kläger aus dem Titel (Urteil vom 9. Oktober 2012) nicht mehr vollstrecken wolle. Am 29. September 2021 teilte der Beklagte weiter mit, dass er beim Verwaltungsgericht München einen Antrag auf Erteilung einer vollstreckbaren Ausfertigung des Urteils gegen die Landeshauptstadt München gestellt habe, welche er (insoweit) als Rechtsnachfolger des Klägers (also des Beklagten im Ausgangsverfahren) erachte.
4
Mit Schriftsatz vom 6. Oktober 2022 wies der Beklagte darauf hin, dass er einen (außergerichtlichen) Vergleich mit der Landeshauptstadt München über die Fortschreibung des für München geltenden Luftreinhalteplans geschlossen habe. Mit Schriftsatz vom 28. Dezember 2022 ergänzte er, dass nun alle Bedingungen zum Inkrafttreten des Vergleichs erfüllt seien und er daher erkläre, auch die begehrte Titelumschreibung auf die Landeshauptstadt München nicht mehr weiter verfolgen zu wollen.
5
Auf die entsprechende Anregung des Gerichts zur Abgabe einer verfahrensbeendenden Erklärung antwortete der Kläger mit Schriftsatz vom 31. März 2023, dass er vom Fortbestand seines Rechtsschutzbedürfnisses ausgehe und die Klage weiterhin Aussicht auf Erfolg habe. Er sei nicht Partei des zwischen dem Beklagten und der Landeshauptstadt geschlossenen Vergleichs; dieser entfalte für ihn keine Bindungswirkung. Es bestehe weiter die Gefahr, dass der Beklagte aus dem Urteil vom 9. Oktober 2012 vollstrecke. Der Beklagte solle rechtsverbindlich auf die Zwangsvollstreckung verzichten und das „Original der vollstreckbaren Ausfertigung“ an den Kläger zurückgeben.
6
Am 21. April 2023 erwiderte der Beklagte, dass er bereits am 2. September 2021 erklärt habe, gegen den Kläger nicht mehr aus dem Titel zu vollstrecken; ebenso habe er dies im Rahmen des Vergleichs gegenüber der Landeshauptstadt München erklärt. Klarstellend werde nochmals erklärt, dass der Beklagte, egal gegenüber wem, nicht mehr aus dem streitgegenständlichen Titel vollstrecken oder irgendwie geartete Ansprüche ableiten werde. Eine Herausgabe des „Originals der vollstreckbaren Ausfertigung“ sei unmöglich, da dieses im Rahmen des damaligen Vollstreckungsverfahrens (M 1 V 15.5203) mit Schriftsatz vom 26. November 2015 dem Verwaltungsgericht München übersandt worden sei und sich seitdem in den dortigen verwaltungsgerichtlichen Akten befinde.
7
Mit Schriftsatz vom 23. Mai 2023 antwortete der Kläger, dass ein bloßer Verzicht des Gläubigers auf seine Rechte aus dem Vollstreckungstitel der ständigen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs folgend nicht ausreiche (BGH, U.v. 16.6.1992 – XI ZR 166/91), um einer Vollstreckungsgegenklage das Rechtsschutzbedürfnis abzusprechen. Erforderlich sei eine Titelherausgabe, welche auch nicht unmöglich sei, da der Beklagte den Titel schlicht vom Verwaltungsgericht zurückfordern müsse.
8
Mit Schriftsatz vom 20. Juni 2023 erklärte sich der Beklagte damit einverstanden, dass die vollstreckbare Ausfertigung des Urteils vom 9. Oktober 2012 den Verwaltungsgerichtsakten (M 1 V 15.5203) entnommen und an die Bevollmächtigten des Klägers herausgegeben wird, und stimmte vorab einer etwaigen Erledigungserklärung des Klägers zu. Die Kosten seien im Sinne einer möglichst effizienten Herangehensweise an die Beendigung des Rechtsstreits gegeneinander aufzuheben.
9
Nach Herausgabe der vollstreckbaren Ausfertigung an ihn erklärte der Kläger mit Schriftsatz vom 6. Juli 2023 den Rechtsstreit in der Hauptsache für erledigt. Die Kosten seien dem Beklagten aufzuerlegen, weil die Klage bis zur Abgabe der Erledigungserklärung zugunsten des Klägers zu entscheiden gewesen wäre.
10
Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Gerichtsakten verwiesen.
II.
11
1. Aufgrund der übereinstimmenden Erledigungserklärungen der Beteiligten ist das Verfahren entsprechend § 92 Abs. 3 Satz 1 VwGO einzustellen.
12
2. Gemäß § 161 Abs. 2 Satz 1 VwGO entscheidet der Verwaltungsgerichtshof nach billigem Ermessen unter Berücksichtigung des bisherigen Sach- und Streitstands nur noch über die Verfahrenskosten. Abzustellen ist in erster Linie auf die Erfolgsaussichten der Klage und damit auf die Frage, wer den Prozess voraussichtlich gewonnen hätte, wenn das erledigende Ereignis nicht eingetreten wäre. Es entspricht regelmäßig billigem Ermessen, die Kosten dem Beteiligten aufzuerlegen, der voraussichtlich in der Hauptsache unterlegen wäre, hätte der Rechtsstreit sich nicht in der Hauptsache erledigt (BVerwG, U.v. 6.4.1989 – 1 C 70.86 – juris Rn. 32).
13
Billigem Ermessen entspricht es vorliegend, die Kosten aufgrund (zuletzt) offener Erfolgsaussichten der Klage gegeneinander aufzuheben, vgl. den Rechtsgedanken des § 155 Abs. 1 Satz 1 Alt. 1 VwGO i.V.m. § 161 Abs. 2 Satz 1 VwGO.
14
Ob die Klage jedenfalls ab 1. Juni 2021 infolge des Zuständigkeitswechsels auf die Landeshauptstadt München gemäß Art. 2 Abs. 8 i.V.m. Abs. 2 Nr. 2 Buchst. b BayImSchG, Aussicht auf Erfolg gehabt hätte (vgl. dazu auch das gerichtliche Schreiben vom 4. August 2021), kann offenbleiben; denn umgekehrt spricht auch einiges dafür, dass das Rechtsschutzbedürfnis der Klage wohl spätestens ab 28. Dezember 2022, nach Inkrafttreten des Vergleichs des Beklagten mit der Landeshauptstadt München und der (wiederholten) schriftsätzlichen Erklärung des Beklagten, aus dem Urteil vom 9. Oktober 2012 nicht mehr gegen den Kläger vollstrecken und dieses auch nicht mehr „umschreiben“ lassen zu wollen, entfallen ist. Es ist fraglich, inwieweit der Kläger mit seinem Klagebegehren zu diesem Zeitpunkt noch schutzbedürftig war bzw. ob die Klage nicht nutzlos geworden ist, weil ihr Erfolg die Rechtsstellung des Klägers nicht verbessern würde (vgl. dazu weiterführend Wöckel in Eyermann, Verwaltungsgerichtsordnung, 16. Aufl. 2022, Vorbemerkungen §§ 40 – 53, Rn. 11, 16 ff.).
15
Ob allein die fehlende Herausgabe des Titels an den Kläger für sich betrachtet schon den Fortbestand des Rechtschutzbedürfnisses gerechtfertigt hätte, wie der Kläger unter Verweis auf zivilgerichtliche Rechtsprechung einwendet, erscheint jedenfalls in der vorliegenden Konstellation fraglich.
16
Denn die vom Kläger angeführte gefestigte Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs, dass für eine Vollstreckungsabwehrklage solange ein Rechtsschutzbedürfnis besteht, wie der Gläubiger den Vollstreckungstitel noch in Händen hat, und dies selbst dann gilt, wenn der Gläubiger auf seine Rechte aus dem Titel verzichtet hat oder zwischen ihm und dem Schuldner Einigkeit darüber besteht, dass eine Zwangsvollstreckung nicht mehr in Betracht kommt (so zuletzt etwa BGH, U.v. 21.10.2016 – V ZR 230/15 – juris Rn. 7 m.w.N.), ist im Kontext der ihr zugrundeliegenden zivilprozessualen und zivilrechtlichen Regularien zu verstehen und kann nicht ohne weiteres auf die vorliegende verwaltungsprozessuale Vollstreckungsgegenklage übertragen werden.
17
Die zivilrechtliche Vollstreckung erfolgt im Grundsatz durch die Erteilung eines Vollstreckungsauftrags an einen Gerichtsvollzieher, welchem dazu eine vollstreckbare Ausfertigung des Titels übergeben wird, vgl. §§ 753 Abs. 1, 754 ZPO. Innerhalb der verwaltungsgerichtlichen Vollstreckung (wie vorliegend) gegen „die öffentliche Hand“ kommt der vollstreckbaren Ausfertigung eines Urteils (Titels) keine solch zentrale Funktion zu. Selbst bei Vollstreckung einer Geldforderung könnte der Gläubiger - anders als im Zivilrecht – nicht „direkt“ auf Basis des Titels einen Gerichtsvollzieher mit der Vollstreckung beauftragen, sondern müsste sich an das Gericht des ersten Rechtszuges wenden (vgl. § 170 VwGO). Die Vorlage einer vollstreckbaren Ausfertigung wäre dabei sogar entbehrlich (vgl. § 171 VwGO); eine solche Ausfertigung könnte folglich – als Urkunde und für sich betrachtet (worauf aber der Bundesgerichtshof in seinen Überlegungen weiter abstellt, vgl. BGH, U.v. 21.10.2016 – V ZR 230/15 – juris Rn. 7) – auch nicht die Gefahr einer (rechtswidrigen) Vollstreckung hervorrufen. Vorliegend kommt hinzu, dass der (Vollstreckungs-)Kläger im verwaltungsgerichtlichen Urteil vom 9. Oktober 2012 nicht zur Erfüllung einer Geldforderung, sondern „nur“ zur Vornahme bestimmter Handlungen (auf Basis eines Anspruchs des Beklagten) verpflichtet wurde. Der insoweit einschlägige § 172 VwGO (vgl. dazu für das vorliegend zugrundeliegende Vollstreckungsverfahren ausführlich BayVGH, B.v. 27.2.2017 – 22 C 16.1427 – juris Rn. 66 ff.) fordert die Prüfung weiterer Vollstreckungsvoraussetzungen und führt ggf. zur Androhung, Festsetzung und Vollstreckung eines Zwangsgelds durch das Gericht des ersten Rechtszugs; allein aus der Vorlage einer vollstreckbaren Ausfertigung an das Gericht des ersten Rechtszugs (soweit man eine solche Vorlage überhaupt als erforderlich erachtet, vgl. zum diesbezüglichen Streit zur Reichweite des § 171 VwGO Kraft in Eyermann, Verwaltungsgerichtsordnung, § 171 Rn. 2; Schmidt-Kötters in BeckOK VwGO, Posser/Wolff/ Decker, Stand 1.10.2019, § 172 VwGO Rn. 20) würden sich insoweit keine wesentlich relevanten Rechtsfolgen ergeben. Unter diesen Voraussetzungen eines zwingend vorgeschalteten verwaltungsgerichtlichen Verfahrens zur Prüfung der Vollstreckungsvoraussetzungen des Urteils vom 9. Oktober 2012, bei welchem der (für die Luftreinhalteplanung nach Art. 2 Abs. 8 i.V.m. Abs. 2 Nr. 2 Buchst. b BayImSchG ohnehin unzuständige) Kläger gegenüber dem zuvor mit der Sache bereits befassten Gericht des ersten Rechtszugs auf die im vorliegenden Verfahren abgegebenen Erklärungen des Beklagten zum Vollstreckungsverzicht verweisen könnte, erscheint ein weiteres (Rechtschutz-)Bedürfnis für die Vollstreckungsabwehrklage nach Ende 2022 jedenfalls im vorliegenden Einzelfall fraglich.
18
Weil die Erfolgsaussichten der Klage spätestens ab Ende 2022 offen waren, der Kläger aber erst am 6. Juli 2023 das Verfahren in der Hauptsache für erledigt erklärt hat, erscheint es daher, ergänzend auch dem Rechtsgedanken des § 155 Abs. 4 VwGO folgend, billig, dies im Rahmen der Kostenentscheidung zu berücksichtigen.
19
3. Der Streitwert ist angelehnt an Nr. 1.7.1 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit 2013 und berücksichtigt die im Beschluss vom 27. Februar 2017 (22 C 16.1427 – juris) festgesetzten Zwangsgelder.
20
Dieser Beschluss ist unanfechtbar.