Titel:
zur Frage eines Erkenntnismittels im Asylverfahren als „selbständiges“ Angriffs- und Verteidigungsmitteln
Normenketten:
VwGO § 138 Nr. 6
ZPO § 146
AsylG § 4, § 78 Abs. 3 Nr. 1; Nr. 3, Abs. 4 S. 4
Leitsätze:
1. Unter „selbständigen“ Angriffs- und Verteidigungsmitteln i.S.v. § 146 ZPO sind solche Angriffs- und Verteidigungsmittel zu verstehen, die den vollständigen Tatbestand einer mit selbständiger Wirkung ausgestatteten Rechtsnorm bilden (im Anschluss an BFH, U.v. 2.10.2001 – IX R 25/99 – BFH/NV 2002, 363 m.w.N.). (Rn. 7)
2. Ob ein Erkenntnismittel ein „selbständiges“ Angriffs- und Verteidigungsmittel für die Zuerkennung subsidiären Schutzes ist, dessen Übergehen ein Urteil i.S.v. § 138 Nr. 6 VwGO unvollständig machen kann, hängt im konkreten Einzelfall davon ab, ob sich eine Zuerkennung subsidiären Schutzes tatbestandlich vollständig aus diesem Erkenntnismittel herleiten lässt. (Rn. 7)
Schlagworte:
Asyl Iran., Asyl, Iran, subsidiärer Schutz, Begründungsmangel, Auskunft des Auswärtigen Amtes, Konversion, Gehörsverstoß
Vorinstanz:
VG München, Urteil vom 22.08.2022 – M 28 K 2032819
Fundstelle:
BeckRS 2023, 18959
Tenor
I. Der Antrag auf Zulassung der Berufung wird abgelehnt.
II. Der Kläger trägt die Kosten des Zulassungsverfahrens.
Gründe
1
Der Antrag auf Zulassung der Berufung bleibt ohne Erfolg. Soweit Zulassungsgründe i.S.v. § 78 Abs. 3 AsylG ausdrücklich oder sinngemäß geltend gemacht werden, sind sie nicht in einer den Anforderungen des § 78 Abs. 4 Satz 4 AsylG genügenden Art und Weise dargelegt.
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1. Die Berufung ist nicht gemäß § 78 Abs. 3 Nr. 3 AsylG i.V.m. § 138 VwGO wegen eines Verfahrensmangels zuzulassen.
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1.1. Nicht zuzulassen ist die Berufung gemäß § 78 Abs. 3 Nr. 3 AsylG i.V.m § 138 Nr. 6 VwGO wegen eines verwaltungsgerichtlichen Begründungsmangels, den die Antragsbegründung im Hinblick auf den klägerseits geltend gemachten subsidiären Schutz nach § 4 AsylG sieht.
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1.1.1. Der Kläger meint, das Verwaltungsgericht erwähne in den Entscheidungsgründen weder den Begriff des subsidiären Schutzes noch die Vorschrift des § 4 AsylG. Es fehle an einer Prüfung der Tatbestandsmerkmale dieser Norm, wobei eine hinreichende Begründung auch nicht aus dem Gesamtzusammenhang der Entscheidungsgründe erschlossen werden könne, da es das Verwaltungsgericht unterlasse, den subsidiären Schutzstatus auch nur floskelhaft zu erwähnen. Die gemäß § 77 Abs. 2 AsylG in den Entscheidungsgründen erfolgte Bezugnahme auf die Ausführungen im streitgegenständlichen Bescheid reiche nicht aus, weil sich der Bundesamtsbescheid vom 23. September 2020 nicht mit dem klägerischen Vortrag im gerichtlichen Verfahren habe auseinandersetzen können. So hätten im Bundesamtsbescheid insbesondere weder die beiden klägerischen Schriftsätze vom 20. Juli 2022 noch die in der mündlichen Verhandlung vom Gericht als Erkenntnismittel beigezogene Auskunft des Auswärtigen Amts an das Verwaltungsgericht Oldenburg vom 29. November 2021 berücksichtigt werden können, wobei gerade diese Auskunft des Auswärtigen Amts ein entscheidungserhebliches selbständiges Angriffs- und Verteidigungsmittel im Sinne der Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs (BFH, U.v. 23.4.1998 – IV R 30/97 – BFHE 186, 120; U.v. 7.11.2000 – VII R 24.00 – NVwZ-RR 2002, 158) darstelle.
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1.1.2. Nach diesem klägerischen Vortrag ist jedoch nicht feststellbar, dass die Entscheidungsgründe im Hinblick auf die Prüfung des subsidiären Schutzes vollständig oder zu wesentlichen Teilen des Streitgegenstands fehlen oder sich als derart verworren oder unverständlich darstellen, dass sie unbrauchbar sind (BVerwG, B.v. 25.9.2013 – 1 B 8.13 – juris Rn. 13 m.w.N.; BayVGH, B.v. 21.5.2015 – 11 ZB 15.50009 – juris Rn. 2 m.w.N.), wobei eine „Verworrenheit“ oder „Unverständlichkeit“ der Entscheidungsgründe klägerseits schon nicht behauptet wird und ein Übergehen „einzelner Ansprüche“ oder einzelner „selbständiger“ Angriffs- und Verteidigungsmittel (vgl. § 146 ZPO sowie BFH, U.v. 23.4.1998 a.a.O. Rn. 13; U.v. 7.11.2000 a.a.O. S. 159; U.v. 2.10.2001 – IX R 25/99 – BFH/NV 2002, 363; jeweils zum Asylrecht BVerwG, B.v. 5.6.1998 – 9 B 412.98 – NJW 1998, 3290; B.v. 9.6.2008 – 10 B 149.07 – BeckRS 2008, 36562 Rn. 5; B.v. 30.6.2009 – 10 B 69.08 – juris Rn. 2) nicht vorliegt sowie gegen einen Verfahrensmangel nach § 138 Nr. 6 VwGO spricht, dass sich vorliegend aus dem Gesamtzusammenhang der Entscheidungsgründe des angegriffenen Urteils (vgl. zu diesem Kriterium BVerwG, B.v. 5.6.1998 a.a.O.; B.v. 9.6.2008 a.a.O.; B.v. 30.6.2009 a.a.O.), mit dem sich die Antragsbegründung entgegen § 78 Abs. 4 Satz 4 AsylG nicht näher befasst, eine eigenständige verwaltungsgerichtliche Begründung zur Verneinung subsidiären Schutzes erschließen lässt.
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Die Antragsbegründung geht nicht näher darauf ein, dass das angegriffene Urteil – zu dessen Begründung nicht nur auf den streitgegenständlichen Bescheid Bezug genommen wurde (vgl. hierzu UA Rn. 14), der seinerseits (dort ab S. 8 unten) explizite Erwägungen zur Prüfung des § 4 AsylG enthält – in seinen Entscheidungsgründen Aussagen enthält, die nach ihrem Gesamtzusammenhang für eine eigenständige verwaltungsgerichtliche Begründung zur Verneinung subsidiären Schutzes sprechen. Das Verwaltungsgericht (UA ab Rn. 17) verneint unter 2. a) der Entscheidungsgründe einen Anspruch des Klägers auf die Zuerkennung des internationalen Schutzes, der nach § 1 Abs. 1 Nr. 2 AsylG den Schutz vor Verfolgung nach dem Abkommen vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge und den subsidiären Schutz im Sinne der RL 2011/95/EU umfasst und nach § 13 Abs. 2 Satz 1 AsylG grundsätzlich mit jedem Asylantrag, also auch jedem Folgeantrag (§ 71 Abs. 1 Satz 1 AsylG), um den es im Fall des Klägers geht, beantragt wird. Außerdem resümiert das Verwaltungsgericht am Schluss der Erwägungen unter 2. a) der Entscheidungsgründe (UA Rn. 24), dass die vom Kläger glaubhaft gemachten Aktivitäten zur Begründung einer ihm konkret drohenden Rückkehrgefährdung im Ergebnis nicht genügten. Dieses Resümee greift mit den Worten „Begründung“ und „Rückkehrgefährdung“ Kriterien auf, die auch im Rahmen der Prüfung des § 4 Abs. 1 Satz 1 AsylG („Gründe“, „drohen“) eine Rolle spielen. Damit befasst sich die Antragsbegründung entgegen § 78 Abs. 4 Satz 4 AsylG nicht.
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Entgegen der Antragsbegründung ist die Auskunft des Auswärtigen Amts vom 29. November 2021 im Fall des Klägers im Hinblick auf § 4 AsylG kein einzelnes „selbständiges“ Angriffs- und Verteidigungsmittel, dessen Übergehung einen Verstoß gegen § 138 Nr. 6 VwGO begründen könnte. Unter selbständigen Angriffs- und Verteidigungsmitteln sind solche Angriffs- und Verteidigungsmittel zu verstehen, die den vollständigen Tatbestand einer mit selbständiger Wirkung ausgestatteten Rechtsnorm bilden (vgl. BFH, U.v. 2.10.2001 – IX R 25/99 – BFH/NV 2002, 363 unter 2. a) m.w.N.). Zwar ist es denkbar, dass die besagte Auskunft des Auswärtigen Amts vom 29. November 2021 (Bl. 195 ff. VG-Akte) in Fällen der besonderen Fallkonstellation, die sie betrifft – nämlich einer Kumulation von christlicher Konversion und Regimekritik in Verbindung mit der Veröffentlichung zahlreicher Beiträge zu diesen Themen in sozialen Medien (vgl. dort S. 2 dritter Absatz) – auch eine Zuerkennung subsidiären Schutzes i.S.d. § 4 AsylG tragen kann. Jedoch ist diese besondere Fallkonstellation der Auskunft des Auswärtigen Amts im Fall des Klägers nicht gegeben. Es ist weder vorgetragen noch ersichtlich, dass es im Folgeverfahren des Klägers neben den von ihm geltend gemachten exilpolitischen Tätigkeiten auch um eine Konversion seinerseits zum Christentum gehen würde. Deshalb lässt sich im Fall des Klägers eine Zuerkennung subsidiären Schutzes tatbestandlich nicht vollständig aus der Auskunft des Auswärtigen Amts vom 29. November 2021 herleiten. Vielmehr wären zur Bejahung hinreichender im Iran für den Kläger bestehender Gefahren wegen seiner exilpolitischen Tätigkeit – ohne kumulative weitere Gefahrenpotentiale infolge Konversion und diesbezüglicher medialer Kommunikation – weitere Angriffs- und Erkenntnismittel erforderlich, um einen der in § 4 AsylG genannten Tatbestände zu erfüllen. Im Ergebnis erweist sich die Auskunft des Auswärtigen Amts vom 29. November 2021 im Fall des Klägers im Hinblick auf § 4 AsylG nicht als „selbständiges“ Angriffs- und Verteidigungsmittel, sodass dessen Übergehung keinen Verstoß gegen § 138 Nr. 6 VwGO begründet.
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1.2. Nicht zuzulassen ist die Berufung gemäß § 78 Abs. 3 Nr. 3 AsylG i.V.m. § 138 Nr. 3 VwGO wegen eines Gehörsverstoßes in Form des Übergehens klägerischen Sachvortrags (vgl. BVerfG, B.v. 1.2.1978 – 1 BvR 426/77 – BVerfGE 47, 182/187 m.w.N.; B.v. 19.5.1992 – 1 BvR 986/91 – BVerfGE 86, 133/145). Zwar wird gerügt, das Verwaltungsgericht könne sich einer Auseinandersetzung mit der Frage des Vorliegens der Voraussetzungen für die Zuerkennung subsidiären Schutzes nicht unter Hinweis auf die Begründungserleichterungen des § 77 Abs. 2 AsylG entziehen, weil die Beklagte im streitgegenständlichen Bescheid die Klagebegründungen und die Auskunft des Auswärtigen Amts vom 29. November 2021 nicht habe berücksichtigen können. Jedoch wird klägerseits nicht dargelegt, dass sich dem Verwaltungsgericht ein Eingehen auf die Klagebegründungen und die besagte Auskunft des Auswärtigen Amts in den Entscheidungsgründen hätte „aufdrängen“ müssen (BVerwG, U.v. 25.6.1992 – 3 C 16.90 – juris Rn. 37; B.v. 1.10.1993 – 6 P 7.91 – NVwZ-RR 1994, 298 m.w.N.).
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1.3. Zwar macht die Antragsbegründung (dort S. 1 letzter Absatz) allgemein „Berufungszulassungsgründe nach § 78 Abs. 3 Nr. 3 AsylG“ geltend. Jedoch wird zu anderen Verfahrensmängeln als den bereits geprüften (siehe 1.1. und 1.2.) nichts näher dargelegt.
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2. Es kommt auch keine Berufungszulassung gemäß § 78 Abs. 3 Nr. 1 AsylG wegen grundsätzlicher Bedeutung in Betracht im Hinblick auf die klägerseits aufgeworfene Frage „Ist bei den derzeitigen Verfolgungstendenzen des iranischen Regimes bei jeder Person, die an einer oder mehreren politischen Demonstrationen gegen das iranische Regime teilnimmt und sich öffentlich im Internet – selbst bei singulärer Aktivität – gegen das iranische Regime stellt, von einer asylerheblichen Verfolgungswahrscheinlichkeit auszugehen?“.
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Die aufgeworfene Frage erfasst sowohl Demonstrationen im Iran als auch Demonstrationen außerhalb des Iran.
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Dass der Kläger auch „im Iran“ an Demonstrationen teilgenommen hätte oder teilnehmen würde, wird schon nicht behauptet, sodass insoweit die Entscheidungserheblichkeit (Klärungsfähigkeit; siehe dazu BayVGH, B.v. 7.2.2017 – 14 ZB 16.1867 – juris Rn. 15 m.w.N.; B.v. 23.1.2019 – 14 ZB 17.31930 – juris Rn. 2) nicht dargelegt ist.
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Soweit die Frage „exilpolitische“ Aktivitäten iranischer Staatsangehöriger (außerhalb des Iran) erfasst, fehlt es an der Klärungsbedürftigkeit (siehe dazu BayVGH, B.v. 7.2.2017 a.a.O.; B.v. 23.1.2019 a.a.O.). Die Antragsbegründung setzt sich nicht mit der Rechtsprechung des Senats auseinander, wonach eine Gefahr politischer Verfolgung im Iran wegen exilpolitischer Aktivitäten nur dann anzunehmen ist, wenn der iranische Bürger bei seinen Aktivitäten besonders hervorgetreten ist und sein Gesamtverhalten ihn den iranischen Stellen als ernsthaften, auf die Verhältnisse im Iran einwirkenden Regimegegner erscheinen lässt (BayVGH, B.v. 9.8.2012 – 14 ZB 12.30263 – juris Rn. 3 m.w.N.; B.v. 3.12.2021 – 14 ZB 21.30040 – juris Rn. 10 m.w.N.), wobei die Exilszene in Deutschland zwar vom iranischen Geheimdienst überwacht wird, es angesichts der Vielzahl von Iranern, die sich im Bundesgebiet aufhalten, jedoch ausgeschlossen erscheint, dass jeder Iraner hier beobachtet bzw. insbesondere, dass er auch identifiziert wird (BayVGH, B.v. 9.8.2012 a.a.O. Rn. 5 m.w.N.; B.v. 3.12.2021 a.a.O.).
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Diese fehlende Auseinandersetzung mit der Senatsrechtsprechung wird nicht dadurch entbehrlich, dass die Antragsbegründung auszugsweise zitiert aus einem Urteil des Verwaltungsgerichts Halle vom 14. April 2022 – 3 A 177/20 HAL –, das seinerseits auf das Schreiben des Auswärtigen Amts vom 29. November 2021, auf eine Auskunft von Amnesty International vom 18. Juni 2012 und auf den Bundesverfassungsschutzbericht 2020 Bezug nimmt. Die Antragsbegründung befasst sich schon nicht näher damit, dass das Verwaltungsgericht Halle in der von ihr zitierten Urteilspassage die Verfolgungswahrscheinlichkeit von den Gesamtumständen des Einzelfalls abhängig macht und sie damit gerade nicht als allgemeingültig beantwortbar einschätzt.
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Auch soweit die Antragsbegründung (dort S. 13 drittletzter Absatz) auf den Lagebericht vom 5. Februar 2021 und das Schreiben des Auswärtigen Amts vom 29. November 2021 Bezug nimmt, macht dies eine Befassung mit der oben genannten Senatsrechtsprechung nicht entbehrlich. Klägerseits wird nicht dargelegt, welche konkreten Aussagen dem besagten Lagebericht entnommen werden, die für die spezifische Gefährdungslage sprechen sollen, die Gegenstand der aufgeworfenen Frage ist. Im Hinblick auf das Schreiben des Auswärtigen Amts fehlt es an einer Erörterung der Vergleichbarkeit mit dem Fall des Klägers. Im ganz speziellen Fall des Schreibens des Auswärtigen Amts vom 29. November 2021 (dort S. 2 dritter Absatz) hatten nicht nur zahlreiche regimekritische Beiträge auf Instagram, sondern zusätzlich auch eine Vielzahl von seit 2016 auf Facebook eingestellten Beiträgen zum Glaubenswechsel und zur Taufe des damaligen Klägers vorgelegen. Ob hier eine derartige Kumulation von christlicher Konversion und Regimekritik vorliegt, legt die Antragsbegründung entgegen § 78 Abs. 4 Satz 4 AsylG nicht dar. Dafür ist auch nichts ersichtlich (siehe 1.1.2.).
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3. Die Kosten des Berufungszulassungsverfahrens trägt der Kläger, der dieses Rechtsmittel vorliegend ohne Erfolg eingelegt hat (§ 154 Abs. 2 VwGO). Mit der Ablehnung des Zulassungsantrags wird die angegriffene Entscheidung rechtskräftig (§ 78 Abs. 5 Satz 2 AsylG).
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Dieser Beschluss ist nach § 80 AsylG i.V.m. § 152 Abs. 1 VwGO unanfechtbar.