Titel:
Anordnung eines zehnjährigen Einreise- und Aufenthaltsverbots und Feststellung des Nichtbestehens eines Aufenthaltsrechts
Normenketten:
VwGO § 60 Abs. 1 S. 1, § 166 Abs. 1 S. 1
ZPO § 114 Abs. 1 S. 1
AufenthG § 5 Abs. 1 Nr. 2, § 11 Abs. 1, Abs. 3, Abs. 5 S. 1, § 53 Abs. 1
BayVwVfG Art. 37 Abs. 1
Leitsätze:
1. In der Rechtsprechung ist geklärt, dass die Anordnung eines (zu befristenden) Einreise- und Aufenthaltsverbots ein gegenüber der Ausweisung eigenständiger Verwaltungsakt ist, der mit der Anfechtungsklage anzugreifen ist und dessen Rechtswidrigkeit zur Aufhebung des Einreise und Aufenthaltsverbots insgesamt führt (wie BVerwG BeckRS 2021, 32526). (Rn. 9) (redaktioneller Leitsatz)
2. Das Einreiseverbot soll zwar im Zusammenhang mit einer Rückkehrentscheidung angeordnet werden; gleichwohl stellen die Rückkehrentscheidung und das befristete Einreiseverbot jeweils eigenständige, gesondert anfechtbare Entscheidungen dar. (Rn. 21) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Prozesskostenhilfebeschwerde, Wiedereinsetzung in versäumte Beschwerdefrist, hinreichende Erfolgsaussichten (nur teilweise), Ausweisung, befristetes Einreise- und Aufenthaltsverbot, Ermessensfehler bei der Befristungsentscheidung, (fehlende) Bestimmtheit eines feststellenden Verwaltungsakts, Wiedereinsetzung in die Beschwerdefrist, hinreichende Erfolgsaussichten, Ermessensfehler bei Befristungsentscheidung, feststellender Verwaltungsakt, fehlende Bestimmtheit, Straftaten, familiäre Bindungen
Vorinstanz:
VG Augsburg, Beschluss vom 31.05.2023 – Au 6 K 23.345
Fundstelle:
BeckRS 2023, 18935
Tenor
I. In teilweiser Abänderung des Beschlusses des Bayerischen Verwaltungsgerichts Augsburg vom 31. Mai 2023 wird dem Kläger Prozesskostenhilfe unter Beiordnung von Rechtsanwalt H. J. B. …, O. …, zu den Bedingungen eines im Gerichtsbezirk ansässigen Anwalts bewilligt, soweit sich die Klage gegen die Anordnung eines zehnjährigen Einreise- und Aufenthaltsverbots (Nr. 2 des angegriffenen Bescheids vom 31. Januar 2023) und die Feststellung des Nichtbestehens eines Aufenthaltsrechts (Nr. 3 des Bescheids) richtet. Im Übrigen wird die Beschwerde zurückgewiesen.
II. Der Kläger trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens, soweit die Beschwerde zurückgewiesen wird. Die Gebühr wird auf zwei Drittel ermäßigt.
Gründe
1
Mit seiner Beschwerde verfolgt der Kläger seinen in erster Instanz erfolglosen Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe für seine beim Verwaltungsgericht Augsburg anhängige Klage weiter. Mit dieser Klage begehrt er die Aufhebung des Bescheids des Beklagten vom 31. Januar 2023, mit dem er aus dem Bundesgebiet ausgewiesen (Nr. 1 des Bescheids), ein auf zehn Jahr befristetes Einreise- und Aufenthaltsverbot angeordnet (Nr. 2), das Nichtbestehen eines Aufenthaltsrechts festgestellt (Nr. 3) und die Abschiebung nach Bosnien und Herzegowina angeordnet bzw. angedroht wurde (Nr. 4), sowie die Verpflichtung des Beklagten, ihm eine Aufenthaltserlaubnis zu erteilen.
2
Die zulässige Beschwerde hat im tenorierten Umfang Erfolg.
3
1. Die Beschwerde ist zulässig. Insbesondere steht der Zulässigkeit die Versäumung der Beschwerdefrist nicht entgegen, da dem Kläger insoweit Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren ist (§ 60 Abs. 1 Satz 1 VwGO). Der Kläger bzw. sein Bevollmächtigter haben glaubhaft gemacht, dass die Fristversäumnis nicht auf eigenem Verschulden beruht.
4
2. Die Beschwerde ist teilweise begründet.
5
Das Verwaltungsgericht hätte die Bewilligung von Prozesskostenhilfe nicht in vollem Umfang ablehnen dürfen, weil zum maßgeblichen Zeitpunkt der Bewilligungsreife des Prozesskostenhilfeantrags, hier nach Vorlage der vollständigen Prozesskostenhilfeunterlagen im Beschwerdeverfahren sowie Anhörung der Gegenseite mit angemessener Frist zur Stellungnahme (vgl. BVerwG, B.v. 12.9.2007 – 10 C 39.07 u.a. – juris Rn. 1 m.w.N.; BayVGH, B.v. 27.2.2019 – 10 C 18.2522 – juris Rn. 17; B.v. 3.6.2019 – 10 C 19.616 – juris Rn. 4 m.w.N.), die Klage zumindest teilweise hinreichende Erfolgsaussichten hat (§ 166 Abs. 1 Satz 1 VwGO i.V.m. § 114 Abs. 1 Satz 1 ZPO).
6
Hinsichtlich der Erfolgsaussichten dürfen die Anforderungen nicht überspannt werden. Eine überwiegende Wahrscheinlichkeit in dem Sinn, dass der Prozesserfolg schon gewiss sein muss, ist nicht erforderlich, sondern es genügt bereits eine sich bei summarischer Überprüfung ergebende Offenheit des Erfolgs. Die Prüfung der Erfolgsaussichten soll nicht dazu dienen, die Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung selbst in das summarische Verfahren der Prozesskostenhilfe zu verlagern und dieses an die Stelle des Hauptsacheverfahrens treten lassen. Das Prozesskostenhilfeverfahren will den Rechtsschutz, den der Rechtsstaatsgrundsatz erfordert, nämlich nicht selbst bieten, sondern ihn erst zugänglich machen (stRspr d. BVerfG, vgl. z.B. B.v. 4.8.2016 – 1 BvR 380/16 – juris Rn. 12; B.v. 28.7.2016 – 1 BvR 1695/15 – juris Rn. 16 f.; B.v. 13.7.2016 – 1 BvR 826/13 – juris Rn. 11 f.; B.v. 20.6.2016 – 2 BvR 748/13 – juris Rn. 12).
7
a) Gegenstand der Klage ist nicht nur – wie das Verwaltungsgericht offenbar meint – das Anfechtungsbegehren des Antragstellers gegen den Bescheid der Beklagten vom 31. Januar 2023, sondern auch das Begehren, den Beklagten zur Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis zu verpflichten (vgl. S. 2 der Klageschrift: „Es wird begehrt, den Bescheid aufzuheben und den Beklagten zu verpflichten, dem Kläger eine Aufenthaltserlaubnis (…) zu erteilen).
8
b) Hinreichende Erfolgsaussichten bestehen zunächst im Hinblick auf die Anordnung eines zehnjährigen Aufenthalts- und Einreiseverbots in Nr. 2 des angegriffenen Bescheids. Ungeachtet der missglückten Tenorierung und unabhängig von der Frage der Rechtmäßigkeit der Ausweisung (dazu sogleich) erweist sich diese Anordnung voraussichtlich als ermessenfehlerhaft.
9
In der Rechtsprechung ist geklärt, dass die Anordnung eines (zu befristenden) Einreise- und Aufenthaltsverbots ein gegenüber der Ausweisung eigenständiger Verwaltungsakt ist, der mit der Anfechtungsklage anzugreifen ist und dessen Rechtswidrigkeit zur Aufhebung des Einreise- und Aufenthaltsverbots insgesamt führt (BVerwG, U.v. 7.9.2021 – 1 C 47.20 – juris Rn. 10 m.w.N.; BayVGH, B.v. 6.2.2023 – 10 ZB 23.18 – juris Rn. 9).
10
Über die Länge der Frist wird nach Ermessen entschieden (§ 11 Abs. 3 Satz 1 AufenthG). Die Befristung vollzieht sich in zwei Schritten. In einem ersten Schritt bedarf es der prognostischen Einschätzung, wie lange das Verhalten des Betroffenen, welches der die Anordnung des Einreise- und Aufenthaltsverbots veranlassenden Ausweisung zugrunde liegt, das öffentliche Interesse an einer Gefahrenabwehr durch Fernhaltung des Ausländers von dem Bundesgebiet zu tragen vermag. Dem sind in einem zweiten Schritt die Folgen des Einreise- und Aufenthaltsverbots für die private Lebensführung des Ausländers gegenüberzustellen. Dieser zweite Prüfungsschritt zielt im Lichte von Art. 6 und Art. 2 Abs. 1 GG, Art. 8 Abs. 1 EMRK und Art. 7 GRC sowie des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit auf eine Begrenzung der einschneidenden Folgen eines Einreise- und Aufenthaltsverbots für das Familien- und Privatleben des Betroffenen (vgl. BVerwG, U.v. 7.9.2021 – 1 C 47.20 – BVerwGE 173, 201 – juris Rn. 15 ff.).
11
Gemessen daran erweist sich die Festsetzung einer zehnjährigen Frist durch den Beklagten als ermessenfehlerhaft. Abgesehen davon, dass damit die regelmäßige Höchstfrist (vgl. § 11 Abs. 5 Satz 1 AufenthG) ausgeschöpft wird, was an sich schon in besonderem Maße begründungsbedürftig wäre, berücksichtigt diese Festsetzung den Umstand, dass der Kläger wesentliche Teile seines Lebens um Bundesgebiet verbracht hat ebenso wenig, wie seine familiären Bindungen im Bundesgebiet. Die Ermessenserwägungen im angegriffenen Bescheid bestehen ganz überwiegend aus Bausteinen ohne konkreten Bezug zum Fall des Klägers. Die wenigen Erwägungen zum Fall des Klägers beschränken sich auf Feststellungen zu seiner Straffälligkeit sowie zu der von ihm ausgehenden Wiederholungsgefahr und lassen sämtliche zu seinen Gunsten sprechenden Gesichtspunkte unerwähnt. Diesen Ermessenfehler konnte das Verwaltungsgericht auch durch eigene Erwägungen nicht heilen, zumal auch diese die Ausschöpfung der gesetzlichen Regelhöchstfrist nicht tragen.
12
c) Hinreichende Erfolgsaussichten bestehen auch im Hinblick auf die Anfechtungsklage gegen Nr. 3 des angegriffenen Bescheids, mit dem der Beklagte festgestellt hat, dass im Falle des Klägers „kein Aufenthaltsrecht“ besteht. Auch diese Feststellung wird sich im Hauptsacheverfahren mit hinreichender Wahrscheinlichkeit als rechtswidrig erweisen. Ungeachtet der Frage, ob und unter welchen Voraussetzungen Ausländerbehörden feststellende Verwaltungsakte erlassen dürfen (vgl. zur Erforderlichkeit einer gegebenenfalls durch Auslegung zu ermittelnden Rechtgrundlage BVerwG, U.v. 23.2.2011 – 8 C 51.09 – juris Rn. 30; U.v. 9.5.2001 – 3 C 2.01 – juris Rn. 13, B.v. 2.7.1991 – 1 B 64.91 – juris Rn. 3), erweist sich die konkrete Feststellung zum maßgeblichen Zeitpunkt der Bewilligungsreife voraussichtlich als zu unbestimmt (vgl. § 37 Abs. 1 BayVwVfG).
13
Nach Art. 37 Abs. 1 BayVwVfG muss ein Verwaltungsakt inhaltlich hinreichend bestimmt sein. Das Bestimmtheitsgebot verlangt, dass für den Adressaten des Verwaltungsakts aus der Verfügung selbst – wenn auch gegebenenfalls erst im Zusammenhang mit den Gründen des Bescheids und den zugrundeliegenden Umständen – die Regelung, die den Zweck, Sinn und Inhalt des Verwaltungsakts ausmacht, vollständig, klar und unzweideutig erkennbar wird. Maßgeblich ist insofern die am objektiven Empfängerhorizont orientierte Auslegung der behördlichen Anordnung (BayVGH, B.v. 17.10.2018 – 10 CS 18.1717 – juris Rn. 17; B.v. 10.3.2017 – 10 ZB 17.136 – juris Rn. 7). Bei ausländerrechtlichen Statusentscheidungen sind insofern besonders hohe Anforderungen zu stellen (vgl. BayVGH, B.v. 14.10.2021 – 10 ZB 21.2260 – juris Rn. 9).
14
Diesen Anforderungen wird Nr. 3 des streitgegenständlichen Verwaltungsakts nicht gerecht. Was der Beklagte mit einem Aufenthaltsrecht meint, dessen Nichtbestehen er feststellt, bleibt unklar. Die Gründe des Bescheids erläutern nur, dass „(K)ein Anspruch auf Erteilung eines Aufenthaltstitels“ besteht und prüfen hierzu die allgemeinen und besonderen Erteilungsvoraussetzungen einer Aufenthaltserlaubnis zum Zeitpunkt der Behördenentscheidung. Das Bestehen eines Aufenthaltsrechts ist jedoch nicht identisch mit dem Bestehen eines Anspruchs auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis (vgl. etwa zur Tatbestandswirkung eines rechtswidrig erteilten Aufenthaltstitels im Hinblick auf die Rechtmäßigkeit des Aufenthalts BayVGH, U.v. 10.6.2022 – 10 B 22.244 – juris Rn. 33 m.w.N.). So ist zwischen den Parteien aufgrund der Unauffindbarkeit der ursprünglichen Ausländerakte auch streitig, ob der Kläger rechtzeitig einen Antrag auf die Verlängerung seiner Aufenthaltserlaubnis gestellt hat und deshalb – unabhängig von einem Anspruch auf die (Neu-)Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis – aufgrund der Fiktionswirkung des § 81 Abs. 4 Satz 1 AufenthG ein Aufenthaltsrecht hat bzw. hatte. Der Beklagte scheint diese Frage auch vom Feststellungstenor seines Bescheids umfasst zu sehen (vgl. Schriftsatz an das Verwaltungsgericht vom 6.4.2023), führt aber auch aus, dass selbst bei einem rechtzeitigen Verlängerungsantrag kein Aufenthaltsrecht bestehe, was ausführlich begründet worden sei (vgl. Schriftsatz an das Verwaltungsgericht vom 8.5.2023). Es ist deshalb auch denkbar, dass die Feststellung als Ablehnung eines Antrags auf Verlängerung oder Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis verstanden werden sollte (die Möglichkeit einer solchen Auslegung ablehnend OVG NRW, B.v. 18.1.2022 – 18 B 815/20 – juris Rn. 6). Schließlich steht zwischen dem Kläger und dem Beklagten auch die Frage im Raum, ob die dem Kläger zuletzt erteilte Aufenthaltserlaubnis durch seine Ausreise gem. § 51 Abs. 1 Nr. 6 oder Nr. 7 AufenthG erloschen ist. Wenn sich die Feststellung des Beklagten auch auf diese, einen Sachverhalt in der Vergangenheit betreffende Frage erstrecken sollte, fehlt es hierfür jedenfalls derzeit an jeder Begründung durch den Beklagten. Ist damit unklar, was mit Nr. 3 des angegriffenen Bescheids alles geregelt bzw. festgestellt wird, sind die Erfolgsaussichten der Klage insoweit zumindest offen.
15
d) Die Klage bietet allerdings keine hinreichenden Erfolgsaussichten, soweit sie sich gegen die Ausweisung des Klägers aus dem Bundesgebiet richtet. Auch unter Berücksichtigung des Beschwerdevorbringen ist das Verwaltungsgericht zu Recht davon ausgegangen, dass die Ausweisung sich als rechtmäßig erweisen wird, weil der Aufenthalt des Klägers im Bundesgebiet die öffentliche Sicherheit und Ordnung gefährdet und das öffentliche Ausweisungsinteresse das Bleibeinteresse des Klägers überwiegt (§ 53 Abs. 1 AufenthG).
16
Das Verwaltungsgericht hat im Ergebnis zu Recht angenommen, dass im Falle des 1996 im Bundesgebiet geborenen Klägers, der seit 2013 vielfach wegen Gewalt-, Vermögens- und Betäubungsmitteldelikten (jugend-)strafrechtlich belangt und zuletzt mit Urteil des Amtsgerichts Würzburg vom 3. August 2022 unter Einbeziehung einer Vorverurteilung wegen vorsätzlicher Köperverletzung in vier tatmehrheitlichen Fällen zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren und fünf Monaten verurteilt wurde, sowohl ein spezialpräventives als auch ein aktuelles generalpräventives Ausweisungsinteresse besteht. Insbesondere die Gefahrenprognose des Verwaltungsgerichts zieht das knappe Beschwerdevorbringen nicht durchgreifend in Zweifel. Dabei hat das Verwaltungsgericht noch nicht einmal berücksichtigt, dass die Straftaten des Klägers nach den Feststellungen der Strafgerichte ihre Ursache auch in einer Betäubungsmittelabhängigkeit des Klägers hatten. In solchen Fällen kann nach der ständigen Rechtsprechung des Senats (vgl. etwa BayVGH, B.v. 2.2.2022 – 10 ZB 21.3030 – juris Rn. 3; B.v. 1.3.2021 – 10 ZB 21.251 – juris Rn. 4) von einem Entfallen der Wiederholungsgefahr nicht ausgegangen werden, solange eine entsprechende Therapie nicht (vollständig) abgeschlossen ist und sich der Betreffende nach Therapieende hinreichend in Freiheit bewährt hat. Hiervon kann im Falle des Klägers keine Rede sein.
17
Auch die Annahme des Verwaltungsgerichts, bei der erforderlichen Abwägung überwiege das Ausweisungsinteresse das Bleibeinteresse des Klägers, ist nicht zu beanstanden. Der ledige und kinderlose Kläger hat durch sein Untertauchen und seine Ausreise aus dem Bundesgebiet (zumindest auch) nach Kroatien selbst belegt, dass er in Deutschland nicht derart verwurzelt ist, dass ihm eine Rückkehr in das Land seiner Staatsangehörigkeit unzumutbar wäre. Die von ihm angeführten Bindungen an seine Schwester und seine Mutter sind nicht von einem solchen Gewicht, dass sie die Abwägung entscheidungserheblich beeinflussen könnten, zumal Mutter und Schwester seit dem Untertauchen des Klägers im Jahr 2018 und der Inhaftierung im Jahr 2020 kaum mehr persönlichen Kontakt zum Kläger pflegen konnten. Bei der entsprechenden Abwägung kann dahinstehen, ob die dem Kläger zuletzt erteilte Aufenthaltserlaubnis mit der Ausreise aus dem Bundesgebiet gem. § 51 Abs. 1 Nr. 6 oder Nr. 7 AufenthG erloschen ist, ob der Kläger vor oder während der Zeit seines Untertauchens noch rechtzeitig die Verlängerung seiner Aufenthaltserlaubnis beantragt hat und ob die Feststellung in Nr. 3 des angegriffenen Bescheids als Ablehnung eines Verlängerungsantrags ausgelegt werden kann. Selbst wenn man annähme, der Kläger könne sich noch auf eine nach § 81 Abs. 4 Satz 1 AufenthG fiktiv fortgeltende Aufenthaltserlaubnis berufen, fiele die Abwägung zwischen Ausweisungs- und Bleibeinteresse unter den gegebenen Umständen des Einzelfalls zu seinen Lasten aus.
18
Die Ausweisung ist auch nicht deswegen rechtswidrig, weil die Ausländerbehörde der Stadt Würzburg den Kläger mit Schreiben vom 13. Januar 2021 ausländerrechtlich verwarnt hatte. Ein „Verbrauch“ von Ausweisungsgründen liegt nur dann vor, wenn die Ausländerbehörde einen ihr zurechenbaren Vertrauenstatbestand geschaffen hat, aufgrund dessen der Ausländer annehmen kann, ihm werde ein bestimmtes Verhalten im Rahmen einer Ausweisung oder einer sonstigen aufenthaltsbeendenden Maßnahme nicht (mehr) entgegengehalten; zudem muss ein hierauf gegründetes Vertrauen des Ausländers schützenswert sein (BVerwG, U.v. 22.2.2017 – 1 C 31.16 – juris Rn. 39; BayVGH, B.v. 26.5.2023 – 10 ZB 22.2550 – juris Rn. 12). Der Kläger durfte angesichts des Formulierung des Schreibens allenfalls darauf vertrauen, dass ihm die im Schreiben vom 13. Januar 2021 genannten Verurteilungen bis einschließlich Januar 2021 und die zugrundeliegenden Straftaten nicht mehr entgegengehalten werden würden. Einen Vertrauenstatbestand hinsichtlich anderer Straftaten, die der Ausländerbehörde noch gar nicht bekannt waren (hier die Straftaten, die der Verurteilung vom 3. August 2022 zu Grunde lagen), hat das Schreiben jedenfalls nicht gesetzt.
19
Die Ausweisung ist schließlich nicht deswegen rechtswidrig, weil sie mit einer rechtswidrigen Entscheidung über ein befristetes Einreise- und Aufenthaltsverbot einhergeht (s.o.). Zwischen der Ausweisung und dem Einreise- und Aufenthaltsverbot sowie seiner Befristung gibt es keinen Rechtswidrigkeitszusammenhang (BayVGH, B.v. 6.2.2023 – 10 ZB 23.18 – juris Rn. 9 m.w.N.).
20
e) Keine hinreichenden Erfolgsaussichten hat auch die Verpflichtungsklage des Klägers. Einen Anspruch auf die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis hat der Kläger nicht. Ihm kann auch im Ermessenswege keine Aufenthaltserlaubnis erteilt werden. Abgesehen davon, dass schon die besonderen Erteilungsvoraussetzungen für einen Aufenthaltstitel aus familiären, humanitären oder sonstigen Gründen nicht ansatzweise dargelegt sind, steht der Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis derzeit nach § 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG ein bestehendes Ausweisungsinteresse entgegen. Dass hiervon ausnahmsweise abzusehen wäre, ist weder dargelegt noch sonst ersichtlich.
21
f) Erweist sich die Ausweisung des Klägers aller Voraussicht nach als rechtmäßig und hat er auch keinen Anspruch auf die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis, erweist sich auch die Abschiebungsandrohung in Nr. 4 des angegriffenen Bescheids als rechtmäßig, sodass auch insoweit keine hinreichenden Erfolgsaussichten der Klage bestehen. Insbesondere wird die Abschiebungsandrohung nicht deswegen rechtswidrig, weil sie nicht mit der rechtmäßigen Anordnung eines Einreise- und Aufenthaltsverbots einhergeht (s.o.). Aus der Rückführungsrichtlinie ergibt sich kein Rechtswidrigkeitszusammenhang zwischen der Rückkehrentscheidung, die hier in der Abschiebungsandrohung liegt, und deren Vollzug (Art. 3 Nr. 4 und 5 RL 2008/115/EG) einerseits und dem Einreiseverbot und dessen Befristung (Art. 3 Nr. 6 RL 2008/115/EG) andererseits (hierzu und zum Folgenden BVerwG, U.v. 21.8.2018 – 1 C 21.17 – BVerwGE 162, 382 juris Rn. 22 f. unter Verweis auf BVerwG, U.v. 27.3.2018 – 1 A 4.17 – juris Rn. 87; U.v. 22.8.2017 – 1 A 2.17 – juris Rn. 46; U.v. 22.8.2017 – 1 A 3.17 – BVerwGE 159, 296 – juris Rn. 36). Das Einreiseverbot soll zwar im Zusammenhang mit einer Rückkehrentscheidung angeordnet werden (vgl. Art. 11 Abs. 1 RL 2008/115/EG: „gehen … einher“). Gleichwohl stellen die Rückkehrentscheidung und das befristete Einreiseverbot jeweils eigenständige Entscheidungen dar, die gesondert anfechtbar sind. Eine Rechtswidrigkeit der Entscheidung über das Einreiseverbot „schlägt“ mithin nicht auf die zugrunde liegende Rückführungsentscheidung und deren Vollstreckung „durch“.
22
Die wirtschaftlichen Voraussetzungen für die Bewilligung von Prozesskostenhilfe liegen beim Kläger ausweislich seiner Erklärung zu den persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen vor. Da die Vertretung durch einen Rechtsanwalt erforderlich erscheint, war ihm, soweit seine Beschwerde erfolgreich war, sein Bevollmächtigter beizuordnen (§ 166 Abs. 1 Satz 1 VwGO i.V.m. § 121 Abs. 2 ZPO).
23
Soweit die Beschwerde zurückgewiesen worden ist, beruht die Kostenentscheidung auf § 154 Abs. 2 ZPO. Soweit sie Erfolg hatte, bedarf es keiner Kostenentscheidung, denn die Kosten des Beschwerdeverfahrens werden nicht erstattet (§ 166 Abs. 1 Satz 1 VwGO i.V.m. § 127 Abs. 4 ZPO).
24
Einer Streitwertfestsetzung bedarf es nicht, weil die nach Nr. 5502 des Kostenverzeichnisses zum Gerichtskostengesetz (Anlage 1 zu § 3 Abs. 2 GKG) anfallende Gebühr streitwertunabhängig ist. Da die Beschwerde nur teilweise zurückgewiesen worden ist, hat der Senat die Gebühr nach billigem Ermessen auf zwei Drittel ermäßigt.
25
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO).