Titel:
Untersagung der Verwendung von Bildmaterial abgetriebener Föten, welches über das Format DIN A4 hinausgeht, im Rahmen einer Versammlung
Normenketten:
Art. 8 Abs. 1 GG
VwGO § 80 Abs. 5
BayVersG Art. 15 Abs. 1
Leitsätze:
1. Die Zulässigkeit des Antrags nach § 80 Abs. 5 VwGO setzt voraus, dass jedenfalls bis zum Ergehen der gerichtlichen Entscheidung ein Rechtsbehelf eingelegt ist, dessen aufschiebende Wirkung angeordnet bzw. wiederhergestellt werden kann. (Rn. 19) (redaktioneller Leitsatz)
2. Die Verwendung von Bildmaterial abgetriebener Föten, welches über das Format DIN A4 hinausgeht, als Kundgebungsmittel im Rahmen einer Versammlung kann nach Art. 15 Abs. 1 BayVersG untersagt werden. (Rn. 25 – 31) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
einstweiliger Rechtsschutz, Beschränkung einer Versammlung, Kundgebungsmittel (Bildmaterial abgetriebener Föten auf Messewänden), Versammlungsfreiheit, Kundgebungsmittel, unmittelbare Gefährdung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung, Bildmaterial abgetriebener Föten auf Messewänden, Abtreibungen, psychische Beeinträchtigung von Jugendlichen, kindes- bzw. jugendgefährdende Inhalte
Rechtsmittelinstanz:
VGH München, Beschluss vom 14.07.2023 – 10 CS 23.1236
Fundstelle:
BeckRS 2023, 18930
Tenor
I. Der Antrag wird abgelehnt.
II. Der Antragsteller trägt die Kosten des Verfahrens.
III. Der Streitwert wird auf 5.000,00 EUR festgesetzt.
Gründe
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Der Antragsteller wendet sich im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes gegen eine versammlungsrechtliche Anordnung zu (un-)zulässigen Kundgebungsmitteln.
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Der Antragsteller ist eigenen Angaben nach ein eingetragener Verein, der sich für das ungeborene Leben und insbesondere gegen die Abtreibung von ungeborenen Kindern und für Familien, Mütter, Schwangere und Kinder einsetzt. Der Antragsteller ließ am 30. Mai 2023 eine Versammlung unter freiem Himmel für Samstag, den 15. Juli 2023 von 14:00 bis 16:00 Uhr im Stadtgebiet der Antragsgegnerin anzeigen. Die Teilnehmerzahl wurde mit 5 bis 10 Personen angegeben. Als Kundgebungsmittel wurden zwei großformatige Messewände mit Bildmaterial (zu Abtreibungen), Flyer, Beachflag und Hinweisaufsteller im Umkreis angegeben. Als Thema wurde benannt: „Die Wahrheit von Abtreibung“. Die Bilderinstallation sei in der Vergangenheit bereits zweimal am *platz problemlos durchgeführt worden. Es sei geplant, nach dem Aufbau zwei Stunden mit den Passanten ins Gespräch zu kommen und sie zu fragen, was sie davon hielten, was auf den Bildern zu sehen sei. Das Bildmaterial werde mitgeschickt. Passanten würden durch Hinweisschilder auf die Aktion vorbereitet.
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Auf die Anzeige der geplanten Versammlung wird im Einzelnen Bezug genommen.
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Mit Bescheid vom 11. Juli 2023 bestätigte die Antragsgegnerin nach vorherigen Kooperationsgesprächen die angezeigte Versammlung und traf diverse Anordnungen. In Ziffer 2.1 des Bescheids wurde angeordnet: „Alle Äußerungen in Wort- und Redebeiträgen, Schrift, Liedgut oder künstlerischen Darstellungen sowie Kundgebungsmittel dürfen die öffentliche Sicherheit und Ordnung nicht beeinträchtigen sowie nicht bewusst eine verängstigende, einschüchternde oder verstörende Wirkung auf Dritte, insbesondere Kinder, in Kauf nehmen. In diesem Zusammenhang wird die Verwendung von Bildmaterial abgetriebener Föten, welches über das Format DIN A4 hinausgeht, insbesondere die Verwendung des angezeigten und beigefügten Bildmaterials untersagt. Die beigefügten Fotos sind Bestandteil des Bescheids“.
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Die Kundgebung stelle im Hinblick auf die Thematik, den Versammlungsort und die Kundgebungsmittel eine unmittelbare Gefahr für die Sicherheit und Leichtigkeit des (Fußgänger-)Verkehrs sowie für die Rechtspositionen der Anwohnenden, Gewerbetreibenden und unbeteiligten Dritten dar. Die Anordnung in Ziffer 2.1 dieses Bescheids stütze sich auf Art. 15 Abs. 1 BayVersG. Das Bildmaterial, das verwendet werden solle, zeige einen 8, 10 bzw. 11 Wochen alten abgetriebenen Fötus. Es werde eine sehr blutige und realistische Darstellung gewählt, keine Karikaturen oder Zeichnungen. Die einzelnen, teilweise abgetrennten Gliedmaßen und Organe ließen sich sehr genau erkennen. Eine Zurückführung auf ein menschliches Wesen sei für Dritte, auch für Kinder, eindeutig ersichtlich. Die Versammlung finde an einem Samstagnachmittag von 14:00 bis 16:00 Uhr auf einem Platz unmittelbar vor einem belebten und sehr gut besuchten Einkaufszentrum und einem Kino statt. Der Platz werde von vielen Familien frequentiert. In unmittelbarer Nähe befänden sich (Indoor-)Spielplätze. Vor dem Einkaufszentrum würden sich regelmäßig Jugendgruppen (Minderjährige von 12 bis 17 Jahren) aufhalten. Die etwa 2 x 3 Meter großen Messewände mit den darin gespannten Fotos würden aus weiter Entfernung sehr gut ersichtlich sein und sofort ins Auge springen. Selbst Kinder und Personen, die den Platz ohne an der Versammlung teilzunehmen nur überqueren wollten, würde es nicht gelingen, die Messewände zu passieren ohne Notiz von ihnen zu erlangen. Erfahrungsgemäß führten, wie hier, besonders blutige und drastisch gewählte Aufnahmen dazu, dass diese genauer und länger betrachtet würden als andere Fotos. Dieser menschliche Automatismus gelte auch für Kinder. Neben Kindern und Jugendlichen könnten sich auch Personen, die eine Abtreibung vollzogen hätten oder schwanger seien und über diesen Schritt nachdächten, auf dem Platz der Versammlung aufhalten und negativ von dem Bildmaterial tangiert werden. Auf der Homepage des Antragstellers seien weitere drastische und äußerst verstörende Bilder. Es sei davon auszugehen, dass bei einer Untersagung der eingereichten und beigefügten Bilder andere Fotos bei einer Durchführung verwendet würden, die dieselben Schäden der o.g. besonders gefährdeten Personengruppen bewirken würden. Filme oder Videospiele hätten oftmals eine bestimmte Altersfreigabe. Dies beruhe auf wissenschaftlichen Erkenntnissen zu z.B. gewalttätigen Darstellungen in den Medien und deren Auswirkungen auf die psychische Entwicklung von Kindern und Jugendlichen. Blutige und gewaltvolle Bilder könnten einen hohen psychischen Schaden bei Heranwachsenden auslösen, u.a. Schlafstörungen oder Panikattacken seien die Folge. Personen, die bereits einen Schwangerschaftsabbruch vollzogen hätten oder dies in Erwägung zögen, bekämen ernsthafte psychische Auswirkungen zu spüren. B. Platz der Versammlung sei kaum Bebauung bzw. Bepflanzung vorhanden. Das Bildmaterial sei aufgrund der Größe und des Platzes sehr schnell und aus weiter Entfernung erkennbar. Eine Ausweichmöglichkeit sei nicht ersichtlich.
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Die Anordnung sei in Ausübung pflichtgemäßen Ermessens erfolgt. Hinweisschilder oder ein Abhängen des Bildmaterials seien keine geeigneten mildere Mittel. Überdies sei die Verfügung angemessen. Dies ergebe eine Abwägung zwischen Art. 8 GG und dem Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG. Die Beschränkung räume konkrete Gefahren für die Gesundheit unbeteiligter Dritter aus. Vor allem der Umstand, dass psychische Langzeitfolgen bewirkt und nicht nur kurzfristige negative gesundheitliche Folgen ausgelöst werden könnten, rechtfertige die Anordnung. Ein Sachbezug zwischen dem Protestgegenstand und der breiten Öffentlichkeit werde durch das mögliche Zeigen des Bildmaterials in der maximalen Größe DIN A4 an einem Samstagnachmittag auf dem Platz der Versammlung gewährleistet.
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Auf die Begründung des Bescheids wird im Einzelnen Bezug genommen.
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Dagegen ließ der Antragsteller im Wege einer einstweiligen Anordnung beantragen,
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die aufschiebende Wirkung einer noch zu erhebenden Klage gegen die Ziffer 2.1 des Bescheides der Antragsgegnerin vom 11. Juli 2023 anzuordnen.
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Zur Begründung wird im Wesentlichen angeführt: Der Antrag nach § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO sei zulässig und begründet. Im Interesse effektiven Rechtschutzes könne es geboten sein, die Hauptsache vorwegzunehmen, sofern eine Versagung vorläufigen Rechtsschutzes den Antragsteller schwer und unzumutbar oder irreparabel belasten würde. Dem Antragsteller drohe eine erhebliche und nicht über Randbereiche hinausgehende Verletzung in seinen Rechten. Der angefochtene Bescheid erweise sich bei summarischer Prüfung mit überwiegender Wahrscheinlichkeit als rechtswidrig. Das durch Art. 8 GG eingeräumte Selbstbestimmungsrecht über Ort, Zeitpunkt sowie Art und Inhalt der Veranstaltung sei zwar durch den Schutz der Rechtsgüter Dritter und der Allgemeinheit begrenzt. Vorliegend seien jedoch die schutzwürdigen Belange auch von Kindern nicht und erst recht nicht unverhältnismäßig durch die vom Antragsteller gewählten Kundgebungsmittel beeinträchtigt. Nicht jede Wahrnehmung von verstörenden Bildern stelle eine Verletzung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts dar. Es sei zu berücksichtigen, dass der Antragsteller bereits wiederholt stationäre Versammlungen mit entsprechend großformatigen Bildern abgehalten habe, diese vollumfänglich genehmigt worden seien und zu keinerlei bekannten Beschwerden Dritter geführt hätten. Die pauschal geltend gemachten Schlafstörungen und Panikattacken von Kindern seien an den Haaren herbeigezogen. Kinder seien hochgradig verstörenden Bildern an jeder Supermarktkasse (Zigarettenpackungen) bzw. im Geschichtsunterricht (Konzentrationslager; getötete Juden) ausgesetzt. Dahinter stecke der Gedanke, dass Abschreckung notwendig sei. Dies sei auf vorliegende Thematik übertragbar. Das eigentliche Verbrechen sei die Abtreibung. Die Bilder auf der Versammlung würden nicht die Gesundheit Dritter beeinträchtigen, sondern diese fördern. Es bedürfe einer intensiven gesellschaftlichen Diskussion und Meinungsbildung. Zu berücksichtigen sei, dass Kinder bis zu einem gewissen Alter überhaupt nicht in der Lage seien, die Darstellung auf den Bildern zu erfassen und entsprechend zu verwerten. Im Alter von 7 bis 12 Jahren seien sie bereits willensgesteuert und könnten sich durch Anweisung der Eltern oder aufgrund eigenen Willens der Darstellung entziehen. Von 12 bis 17 Jahren verkenne die Antragsgegnerin das Aufklärungsinteresse und die Notwendigkeit der Meinungsbildung bei schulisch bereits vorgebildeten Heranwachsenden. Aus dem Bescheid ergebe sich die Vermutung, dass die Antragsgegnerin politisch werte und die Meinungs- und Versammlungsfreiheit aufgrund Unerwünschtheit der Äußerungen zu beeinträchtigen versuche. Bei der gewählten Form und den Bildern selbst würden sich keine Bedenken ergeben. Es handele sich nicht um animierte Bilder. Der schwarze Hintergrund betone die Ernsthaftigkeit der Thematik. Aufsteller würden vor der Dramatik der Bilder warnen. Jedem Vorübergehenden stehe es frei, sich dem Blick auf die Plakatwände durch einfaches Wegschauen zu entziehen. Dies gelte auch und insbesondere für Kinder, die nur in Begleitung ihrer Eltern auftauchen würden. Die Bilder seien nicht sonderlich verstörend. Es handele sich nicht um Bilder von Spätabtreibungen. Durch die Begrenzung auf die ersten drei Monate handele es sich um sachlich orientierte Bilder. Ziffer 2.1 des Bescheids sei auch nicht hinreichend konkretisiert. Aus der Regelung werde nicht deutlich, ob die vorab beigebrachten Bilder generell verboten seien oder nur insoweit sie über das Format DIN A4 hinausgingen. Die Regelung sei unverhältnismäßig. Es komme auf den Inhalt und nur sekundär auf die Form an. Es sei das Ziel, mittels großformatiger Bilder Emotionen hervorzurufen und etwaige Passanten anzusprechen. Keine blutigen Embryonen zu nehmen oder die Größe der Bilder auf DIN A4 zu beschränken, konterkariere dies. Ein Verdecken der Bilder stelle keine Lösung dar.
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Auf die Antragsbegründung wird im Einzelnen Bezug genommen.
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Die Antragsgegnerin beantragt,
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den Antrag abzulehnen.
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Der Antrag sei unbegründet. Zur Begründung wird im Wesentlichen das Vorbringen im streitgegenständlichen Bescheid wiederholt und vertieft. Ergänzend wird vorgebracht: Korrekt sei, dass der Antragsteller bereits zwei Versammlungen mit den hier in Streit stehenden Kundgebungsmitteln durchgeführt habe, diese jedoch vorab nicht bei der Versammlungsbehörde oder Polizei angezeigt gewesen seien (die Fotos). Klarstellend sei Ziffer 2.1 des streitgegenständlichen Bescheids dahingehend zu verstehen, dass die dem Bescheid als Anlage beigefügten Bilder nicht auf den Messewänden, jedoch in Größe DIN A4 gezeigt werden dürften. Eine vollständige Untersagung des Bildmaterials abgetriebener Föten enthalte der Bescheid nicht, dem Antragsteller werde lediglich die Verwendung des Bildmaterials hinsichtlich der Größe beschränkt.
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Auf die Antragserwiderung wird im Einzelnen Bezug genommen.
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Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und der beigezogenen Behördenakte verwiesen.
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Der Antrag keinen Erfolg.
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1. Da die von dem Antragsteller noch nicht erhobene Klage ausweislich § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 VwGO i.V.m. Art. 25 BayVersG keine aufschiebende Wirkung hat, ist sein Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung zwar statthaft, § 80 Abs. 5 Satz 1 1. Alt. VwGO.
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Allerdings fehlt dem Antragsteller ein Rechtsschutzbedürfnis für seinen Antrag, da er im maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung (noch) keine Klage erhoben hat. Die Zulässigkeit des Antrags nach § 80 Abs. 5 VwGO setzt voraus, dass jedenfalls bis zum Ergehen der gerichtlichen Entscheidung ein Rechtsbehelf eingelegt ist, dessen aufschiebende Wirkung angeordnet bzw. wiederhergestellt werden kann (vgl. Eyermann, VwGO, 16. Aufl. 2022, § 80 Rn. 81 m.w.N. auch zur Gegenansicht). Ein Eilantrag gemäß § 80 Abs. 5 VwGO ohne, wie hier, eingelegten Hauptsacherechtsbehelf ist mit dem Wortlaut der Vorschrift nicht vereinbar und systematisch zu § 80 Abs. 1 VwGO ausgeschlossen. Auch nach dem Sinn und Zweck des vorläufigen Rechtsschutzes gemäß § 80 Abs. 5 VwGO fehlt es an einem der Sicherung offenzuhaltenden Hauptsacheverfahren. Aus Art. 19 Abs. 4 GG ergibt sich nichts Anderes, zumal nicht erkennbar ist, dass dem Antragsteller die Einlegung eines Hauptsacherechtsbehelfs unzumutbar oder unmöglich gewesen wäre (zum Ganzen Eyermann, a.a.O.; Schoch/Schneider, VwGO, 43. EL. August 2022, § 80 Rn. 460 f. m.w.N.).
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2. Jedenfalls in der Sache bleibt der Antrag erfolglos, da bei summarischer Prüfung die von der Antragsgegnerin verfügte Beschränkung der Versammlung in Ziffer 2.1 des streitgegenständlichen Bescheids voraussichtlich rechtmäßig ist und den Antragsteller dadurch nicht in seinen Rechten verletzt, § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO.
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In Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes nach § 80 Abs. 5 VwGO hat das Gericht eine eigene Ermessensentscheidung anhand der in § 80 Abs. 2 Satz 1 VwGO niedergelegten Kriterien zu treffen. Es hat zu prüfen, ob das Vollzugsinteresse so gewichtig ist, dass der Verwaltungsakt sofort vollzogen werden darf, oder ob das gegenläufige Interesse des Antragstellers an der Anordnung bzw. Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung seiner Klage (bzw. seines Widerspruchs) überwiegt. Wesentliches Element im Rahmen der insoweit gebotenen Abwägung der widerstreitenden Vollzugs- und Suspensivinteressen ist die Beurteilung der Erfolgsaussichten des Rechtsbehelfs in der Hauptsache, die dem Charakter des Eilverfahrens entsprechend nur aufgrund einer summarischen Prüfung der Sach- und Rechtslage erfolgen kann. Erweist sich der Rechtsbehelf als offensichtlich Erfolg versprechend, so wird das Interesse des Antragstellers an einer Anordnung bzw. Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung der Klage stärker zu gewichten sein, als das gegenläufige Interesse der Antragsgegnerin. Umgekehrt wird eine Anordnung bzw. Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung der Klage grundsätzlich nicht in Frage kommen, wenn sich der Rechtsbehelf als offensichtlich aussichtslos darstellt. Sind die Erfolgsaussichten des Rechtsbehelfs nicht eindeutig zu beurteilen, sondern nur tendenziell abschätzbar, so darf dies bei der Gewichtung der widerstreitenden Interessen – dem Aussetzungsinteresse des Antragstellers einerseits und dem Vollzugsinteresse der Antragsgegnerin andererseits – nicht außer Acht gelassen werden. Lassen sich nach summarischer Überprüfung noch keine Aussagen über die Erfolgsaussichten des Rechtsbehelfs machen, ist also der Ausgang des Hauptsacheverfahrens offen, findet eine allgemeine, von den Erfolgsaussichten des Rechtsbehelfs unabhängige Abwägung der für und gegen den Sofortvollzug sprechenden Interessen statt (vgl. zum Ganzen BVerfG, B.v. 24.2.2009 – 1 BvR 165/09 – NVwZ 2009, 581; BVerwG, B.v. 11.11.2020 – 7 VR 5.20 u.a. – juris Rn. 8; BayVGH, B.v. 17.9.1987 – 26 CS 87.01144 – BayVBl. 1988, 369; Eyermann, VwGO, § 80 Rn. 65 ff. m.w.N.). Auch die Bedeutung des verfassungsrechtlichen Schutzes der Versammlungsfreiheit durch Art. 8 GG ist in diesem Rahmen zu berücksichtigen.
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a) Rechtsgrundlage der Beschränkungen ist Art. 15 Abs. 1 BayVersG. Danach kann die zuständige Behörde eine Versammlung beschränken oder verbieten, wenn nach den zur Zeit des Erlasses der Verfügung erkennbaren Umständen die öffentliche Sicherheit oder Ordnung bei Durchführung der Versammlung unmittelbar gefährdet ist. Das in Art. 8 Abs. 1 GG gewährleistete Grundrecht der Versammlungsfreiheit schützt die Freiheit, mit anderen Personen zum Zwecke der gemeinschaftlichen, auf Teilhabe an der öffentlichen Meinungsbildung gerichteten Erörterung oder Kundgebung örtlich zusammenzukommen (vgl. BVerfG, B.v. 30.8.2020 – 1 BvQ 94/20 – juris Rn. 14 m.w.N.; B.v. 14.10.2001 – 1 BvR 1190/90 u.a. – juris Rn. 39 ff.). Als Freiheit zur kollektiven Meinungskundgabe ist die Versammlungsfreiheit für eine freiheitlich demokratische Staatsordnung konstituierend. In ihrer idealtypischen Ausformung sind Demonstrationen die gemeinsame körperliche Sichtbarmachung von Überzeugungen, bei der die Teilnehmer in der Gemeinschaft mit anderen eine Vergewisserung dieser Überzeugungen erfahren und andererseits nach außen – schon durch die bloße Anwesenheit, die Art des Auftretens und die Wahl des Ortes – im eigentlichen Sinne des Wortes Stellung nehmen und ihren Standpunkt bezeugen. Damit die Bürger selbst entscheiden können, wann, wo und unter welchen Modalitäten sie ihr Anliegen am wirksamsten zur Geltung bringen können, gewährleistet die Regelung in Art. 8 Abs. 1 GG nicht nur die Freiheit, an einer öffentlichen Versammlung teilzunehmen oder ihr fern zu bleiben, sondern umfasst zugleich ein Selbstbestimmungsrecht über die Durchführung der Versammlung als Aufzug, die Auswahl des Ortes und die Bestimmung der sonstigen Modalitäten der Versammlung (stRspr, vgl. etwa BVerfG, B.v. 20.12.2012 – 1 BvR 2794/10 – juris Rn. 16). Hierbei ist dem Grundrechtsträger das Selbstbestimmungsrecht über Ort, Zeitpunkt, Art und Inhalt der Veranstaltung gewährleistet (vgl. BVerfG, B.v. 14.05.1985 – 1 BvR 233/81 u.a. – juris Rn. 61). Soweit Beschränkungen verfügt werden, ist dies nach Art. 8 Abs. 2 GG für Versammlungen unter freiem Himmel durch Gesetz oder aufgrund eines Gesetzes möglich, allerdings nur zum Schutz gleichwertiger anderer Rechtsgüter unter strikter Wahrung der Verhältnismäßigkeit (vgl. hierzu etwa BVerfG, B.v. 21.11.2020 – 1 BvQ 135/20 – juris Rn. 6; B.v. 30.8.2020 – 1 BvQ 94/20 – juris Rn. 14 m.w.N.; BayVGH B.v. 24.1.2021 – n.v. Rn. 12 des BA). Derartige Beschränkungen sind im Lichte der grundlegenden Bedeutung von Art. 8 Abs. 1 GG auszulegen. Rechtsgüterkollisionen ist im Rahmen versammlungsrechtlicher Verfügungen durch Auflagen oder Modifikationen der Durchführung der Versammlung Rechnung zu tragen (vgl. BVerfG, B.v. 24.10.2001 − 1 BvR 1190/90 − BVerfGE 104, 92 – juris Rn. 54, 63). Insoweit gilt die Regel, dass kollektive Meinungsäußerungen in Form einer Versammlung umso schutzwürdiger sind, je mehr es sich bei ihnen um einen Beitrag zum Meinungskampf in einer die Öffentlichkeit wesentlich berührenden Frage handelt (stRspr, vgl. BVerfG, U.v. 11.11.1986 – 1 BvR 713/83 – BVerfGE 73, 206 – juris Rn. 102). Nur soweit eine unmittelbare Gefährdung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung vorliegt, kann von dem Veranstalter nach Art. 15 Abs. 1 BayVersG verlangt werden, dass er den geplanten Ablauf seiner Versammlung ändert, oder kann eine Versammlung gänzlich untersagt werden (BVerfG, B.v. 30.8.2020 – 1 BvQ 94/20 – juris Rn. 14 m.w.N.; SächsOVG, B.v. 11.12.2020 – 6 B 432/20 – juris Rn. 11, B.v. 13.3.2021 – 6 B 96/21 – juris Rn. 6). Mit dem Merkmal der unmittelbaren Gefährdung ist ein hoher Gefahrenmaßstab angesprochen, den nicht schlechterdings jede zu erwartende Beeinträchtigung der öffentlichen Sicherheit erreicht.
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Der Schutz der „öffentlichen Sicherheit“ im Sinne von Art. 15 Abs. 1 BayVersG umfasst neben den individualen Rechtsgütern Dritter, der Integrität der Rechtsordnung auch die Bestand- und Funktionsfähigkeit des Staates und seine Einrichtungen. Kollidiert die Versammlungsfreiheit mit dem Schutz anderer Rechtsgüter, ist eine Abwägung der betroffenen Positionen zur Herstellung praktischer Konkordanz erforderlich. Wichtige Abwägungselemente sind dabei unter anderem die Dauer und Intensität der Aktion, deren vorherige Bekanntgabe, Ausweichmöglichkeiten, die Dringlichkeit der blockierten Tätigkeit Dritter, aber auch der Sachbezug zwischen den beeinträchtigten Dritten und dem Protestgegenstand. Stehen die äußere Gestaltung und die durch sie ausgelösten Behinderungen in einem Zusammenhang mit dem Versammlungsthema oder betrifft das Anliegen auch die von der Demonstration nachteilig Betroffenen, kann die Beeinträchtigung ihrer Freiheitsrechte unter Berücksichtigung der jeweiligen Umstände möglicherweise eher sozial erträglich und dann in größerem Maße hinzunehmen sein, als wenn dies nicht der Fall ist. Demgemäß ist im Rahmen der Abwägung zu berücksichtigen, ob und wie weit die Wahl des Versammlungsortes und die konkrete Ausgestaltung der Versammlung sowie die von ihr betroffenen Personen einen Bezug zum Versammlungsthema haben (zum Ganzen etwa BayVGH, B.v. 12.5.2023 – 10 CS 23.847 – juris; B.v. 13.11.2020 – 10 CS 20.2655 – juris Rn. 22; VGH Hessen, B.v. 30.10.2020 – 2 B 2655/20 – juris Rn. 5 unter Verweis auf BVerfG, B.v. 24.10.2001 − 1 BvR 1190/90 − BVerfGE 104, 92 – juris Rn. 64).
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b) Gemessen an diesen verfassungsrechtlichen und einfachgesetzlichen Vorgaben erweist sich in Würdigung aller Gesamtumstände des Einzelfalls die Anordnung in Ziffer 2.1 des Bescheids vom 11. Juli 2023 voraussichtlich als angemessener Eingriff in die Versammlungsfreiheit des Antragstellers bzw. der Versammlungsteilnehmer. Etwaige Ermessensfehler sind, zumal bei summarischer Prüfung, ebenso wenig wie eine Unverhältnismäßigkeit der verfügten Beschränkung ersichtlich. Es wird entsprechend Bezug auf die ausführliche Begründung im streitgegenständlichen Bescheid genommen (§§ 122 Abs. 2, 117 Abs. 5 VwGO). Lediglich ergänzend wird ausgeführt:
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aa) Soweit der Antragsteller die fehlende Bestimmtheit der streitigen Anordnung moniert, trifft dies bei summarischer Prüfung nicht zu. Satz 1 der Ziffer 2.1 im Bescheid vom 11. Juli 2023 konkretisiert lediglich Art. 15 Abs. 1 BayVersG auf den konkreten Einzelfall bezogen. Dies ist nicht zu beanstanden. Sowohl aus der Tenorierung als auch aus der näheren Bescheidsbegründung geht zudem hinreichend bestimmt hervor, dass die Verwendung von Bildmaterial abgetriebener Föten, welches über das Format DIN A4 hinausgeht, untersagt wurde (vgl. auch Seite 14 des Bescheids vom 11. Juli 2023). Im Übrigen hat die Antragsgegnerin die Anordnung in ihrer Antragserwiderung klargestellt.
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bb) Die Antragsgegnerin hat die Beschränkung auf eine unmittelbare Gefährdung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung gegründet. Es sei davon auszugehen, dass unausweichlich mit einer Wahrnehmung des Bildmaterials abgetriebener menschlicher Föten insbesondere von vulnerablen Gruppen, wie Kindern, Jugendlichen und Frauen mit bereits vollzogener Abtreibung bzw. dem ernsthaften Gedanken daran, zu rechnen sei und sich hierdurch mit hinreichend hoher Wahrscheinlichkeit konkrete Gefahren für deren Gesundheit ergeben würden.
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Die Gefahrprognose der Antragsgegnerin, welche der Beschränkung der Versammlung in Ziffer 2.1 zu den (un-)zulässigen Kundgebungsmitteln im streitigen Bescheid zugrunde liegt, ist nicht zu beanstanden.
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Obgleich das Versammlungsthema und die Kundgebungsmittel einen engen Bezug zueinander aufweisen bzw. konkret auch die Thematik „Abtreibungen“ angesprochen werden, ergibt sich unter Gesamtwürdigung aller Umstände des konkreten Einzelfalls bei einer Abwägung der Versammlungsfreiheit und der Belange der öffentlichen Sicherheit und Ordnung ein Überwiegen der Letztgenannten. Das Selbstbestimmungsrecht einer Versammlung, u.a. über die Art bzw. Inhalt, ist nicht schrankenlos. Es umfasst nicht die Entscheidung, welche Beeinträchtigungen die Träger kollidierender Rechtsgüter hinzunehmen haben. Mit der Antragsgegnerin geht die Kammer davon aus, dass es u.a. für Kinder und Jugendliche, unabhängig von einer etwaigen Begleitung durch Erziehungspersonen, nach den Umständen der angezeigten Versammlung zu einer unausweichlichen Konfrontation mit dem streitgegenständlichen Bildmaterial kommen wird. Die Antragsgegnerin legt in nicht zu beanstandender Weise zugrunde, dass das detailgenaue, drastische und abstoßende Bildmaterial abgetriebener menschlicher Föten, welches u.a. die einzelnen, teils abgetrennten Gliedmaßen bzw. Organe erkennen lässt, zumal ohne pädagogische bzw. erzieherische (und ggf. näher sachlich einordnende) Unterstützung im Umgang damit, kindes- bzw. jugendgefährdende Inhalte darstellen (können) (vgl. auch VG Köln, U.v. 16.11.2007 – 27 K 1764/07 – juris Rn. 26 zur Indizierungsentscheidung eines Internetauftritts durch die Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Medien, u.a. wegen Abbildungen von abgetriebenen Föten; vgl. auch VG Darmstadt, U.v. 5.6.2018 – 3 K 1937/17.DA – juris Rn. 30 f. im Kontext von § 118 Abs. 1 OWiG). Hiervon ausgehend ist die Annahme der Antragsgegnerin, dass mit hinreichend hoher Wahrscheinlichkeit von einer konkreten Gefahr für erhebliche verstörende/ traumatisierende Folgen und damit gesundheitliche (psychische) Beeinträchtigungen (Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG) von Kindern und Jugendlichen auszugehen sei, plausibel (vgl. von Mangoldt/Klein/Starck, GG, 7. Aufl. 2018, Art. 2 Rn. 193 zur Beeinträchtigung der körperlichen Unversehrtheit z.B. durch einen nachhaltigen Schock; vgl. auch VG Köln, U.v. 16.11.2007 – 27 K 1764/07 – juris Rn. 37). Es wird auf die detaillierte sowie nachvollziehbare Darlegung im Bescheid vom 11. Juli 2023 verwiesen. „Schock-Abbildungen“ wie z.B. auf Zigarettenpackungen sind in ihrer Wirkung wegen der Größe der Darstellung hiermit nicht vergleichbar. Bildmaterial in Geschichtsbüchern ist darüber hinaus gerade auf eine pädagogische Vermittlung hin ausgerichtet.
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Es kann offen bleiben, ob bei der angezeigten Versammlung v.a. im Hinblick auf Frauen, die bereits einen Schwangerschaftsabbruch vollzogen haben bzw. derzeit schwanger sind und eine Abtreibung in Erwägung ziehen, eine – über als (lediglich) sehr unangenehm empfundene Konfrontation mit einer anderen Meinung hinausreichende – (psychische) Druck- oder Belagerungssituation (etwa als „Spießrutenlauf“) einhergeht. Bezogen auf den konkreten Versammlungsort, der – soweit ersichtlich – nicht vor einer Frauenarztpraxis oder Schwangerschaftsberatungsstelle etc. gelegen ist, dürfte dies nicht ohne Weiteres der Fall sein (zu den entlehnten Maßstäben zum allgemeinen Persönlichkeitsrecht bei einer Versammlung von Abtreibungsgegnern nahe einer Schwangerschaftskonfliktberatungsstelle: HessVGH, B.v. 18.3.2022 – 2 B 375/22 – juris; vgl. auch VGH BW, U.v. 25.8.2022 – 1 S 3575/21 – juris).
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Ziffer 2.1 des streitgegenständlichen Bescheids ist auch nicht unverhältnismäßig. Die Kammer nimmt – insbesondere im Hinblick auf die Örtlichkeit der Versammlung (Vorplatz) – mit der Antragsgegnerin an, dass mildere, gleich geeignete Mittel nicht ersichtlich sind. Insbesondere Hinweisschilder auf das Bildmaterial oder ein Abhängen des Bildmaterials kommen nicht in Betracht. Es wird auf die ausführliche und nachvollziehbare Darlegung im Bescheid vom 11. Juli 2023 verwiesen. Schließlich ist zu berücksichtigen, dass der Versammlungszweck durch die angeordnete Beschränkung nicht vereitelt wird. Ein Sachbezug zwischen dem Thema der Versammlung und der breiten Öffentlichkeit wird durch das mögliche Zeigen des streitigen Bildmaterials in der maximalen Größe DIN A4 sichergestellt. Interessierten kann dieses individuell gezeigt werden. Dem Antragsteller ist es im Übrigen möglich, Fotos von nicht-abgetriebenen Föten im Mutterleib im großen Format mittels seiner Messewände als Kundgebungsmittel zu verwenden (vgl. auch Seite 14 des Bescheids vom 11. Juli 2023).
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Ausgehend von der plausiblen Darlegung im Bescheid vom 11. Juli 2023, dass unausweichlich mit einer Konfrontation von u.a. Kindern/ Jugendlichen mit dem streitigen Bildmaterial zu rechnen ist und sich hierdurch mit hinreichend hoher Wahrscheinlichkeit konkrete Gefahren für deren Gesundheit ergeben, führt die angezeigte Durchführung der Versammlung zu einer unverhältnismäßigen, nicht mehr vom Grundrecht der Versammlungsfreiheit zu rechtfertigenden Beeinträchtigung der schutzwürdigen Belange unbeteiligter Dritter. Nach alledem entspricht es der praktischen Konkordanz zwischen der Versammlungsfreiheit und der durch die Versammlung u.a. beeinträchtigten Belange von Kindern/ Jugendlichen die (un-)zulässigen Kundgebungsmittel der Versammlung am 15. Juli 2023 – wie von der Antragsgegnerin auch im Übrigen ermessensfehlerfrei angeordnet – zu beschränken.
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3. Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO.
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4. Die Streitwertfestsetzung ergibt sich aus §§ 53 Abs. 2 Nr. 2, 52 Abs. 2 GKG. Da die Entscheidung die Hauptsache im Wesentlichen vorwegnimmt, sieht das Gericht auch keinen Anlass, den Streitwert gemäß Nr. 1.5 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit zu mindern (BayVGH, B.v. 26.3.2021 – 10 CS 21.903 – juris Rn. 31).