Inhalt

VGH München, Beschluss v. 14.07.2023 – 10 CS 23.1236
Titel:

Untersagung der Verwendung von Bildmaterial abgetriebener Föten, welches über das Format DIN A4 hinausgeht, im Rahmen einer Versammlung

Normenketten:
GG Art. 2 Abs. 2 S. 1, Art. 8 Abs. 1
VwGO § 80 Abs. 5 S. 2
BayVersG Art. 15 Abs. 1
BayVwVfG Art. 37 Abs. 1
Leitsätze:
1. Nach § 80 Abs. 5 S. 2 VwGO ist der Antrag auf Anordnung bzw. Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung schon vor Erhebung der Anfechtungsklage  zulässig (vgl. zuletzt VGH München BeckRS 2020, 32689; BeckRS 2020, 24844). (Rn. 19) (redaktioneller Leitsatz)
2. Der Bestimmtheitsgrundsatz nach Art. 37 Abs. 1 BayVwVfG verlangt, dass für den Adressaten des Verwaltungsakts aus der Verfügung selbst – wenn auch ggf. erst im Zusammenhang mit den Gründen des Bescheids und den zugrundeliegenden Umständen – die Regelung, die den Zweck, Sinn und Inhalt des Verwaltungsakts ausmacht, vollständig, klar und unzweideutig erkennbar wird. Maßgeblich ist insofern die am objektiven Empfängerhorizont orientierte Auslegung der behördlichen Anordnung. (VGH München BeckRS 2018, 28749; BeckRS 2017, 105419). (Rn. 25) (redaktioneller Leitsatz)
3. Die Verwendung von Bildmaterial abgetriebener Föten, welches über das Format DIN A4 hinausgeht, im Rahmen einer Versammlung kann zum Schutz der "öffentlichen Sicherheit" iSv Art. 15 Abs. 1 BayVersG, insbes. zum Schutz der psychischen Gesundheit von Kindern und Jugendlichen, untersagt werden. (Rn. 29 – 40) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Versammlungsrecht, Beschränkung der Kundgebungsmittel, Protest gegen Abtreibung, Bildmaterial mit Abbildung abgetriebener Föten, Größe des Bildmaterials, Bestimmtheit der Anordnung, Abwägung bei offenen Erfolgsaussichten, Schutz der psychischen Gesundheit von Kindern und Jugendlichen
Vorinstanz:
VG Augsburg, Beschluss vom 13.07.2023 – Au 8 S 23.1090
Fundstelle:
BeckRS 2023, 18929

Tenor

I. Die Beschwerde wird zurückgewiesen.
II. Der Antragsteller trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.
III. Der Streitwert für das Beschwerdeverfahren wird auf 5.000,- Euro festgesetzt.

Gründe

I.
1
Mit der Beschwerde verfolgt der Antragsteller seinen in erster Instanz erfolglosen Antrag weiter, die aufschiebende Wirkung seiner (mittlerweile erhobenen) Klage gegen die Beschränkung in Nr. 2.1. des Bescheids der Antragsgegnerin vom 11. Juli 2023 (Beschränkung der Kundgebungsmittel) anzuordnen.
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Der Antragsteller ist nach eigenen Angaben ein eingetragener Verein, der sich für das ungeborene Leben und insbesondere gegen die Abtreibung von ungeborenen Kindern und für Familien, Mütter, Schwangere und Kinder einsetzt. Er ließ am 30. Mai 2023 eine Versammlung unter freiem Himmel für Samstag, den 15. Juli 2023 von 14:00 bis 16:00 Uhr im Stadtgebiet der Antragsgegnerin anzeigen. Die Teilnehmerzahl wurde mit 5 bis 10 Personen angegeben. Als Kundgebungsmittel wurden zwei großformatige Messewände mit Bildmaterial (zu Abtreibungen), Flyer, Beachflag und Hinweisaufsteller im Umkreis angegeben. Als Thema wurde benannt: „Die Wahrheit von Abtreibung“. Die Bilderinstallation sei in der Vergangenheit bereits zweimal am K.platz problemlos durchgeführt worden. Es sei geplant, nach dem Aufbau zwei Stunden mit den Passanten ins Gespräch zu kommen und sie zu fragen, was sie davon hielten, was auf den Bildern zu sehen sei. Das Bildmaterial werde mitgeschickt. Passanten würden durch Hinweisschilder auf die Aktion vorbereitet.
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Mit Bescheid vom 11. Juli 2023 bestätigte die Antragsgegnerin die angezeigte Versammlung und traf diverse Anordnungen.
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In Nr. 2.1 des Bescheids wurde angeordnet: „Alle Äußerungen in Wort- und Redebeiträgen, Schrift, Liedgut oder künstlerischen Darstellungen sowie Kundgebungsmittel dürfen die öffentliche Sicherheit und Ordnung nicht beeinträchtigen sowie nicht bewusst eine verängstigende, einschüchternde oder verstörende Wirkung auf Dritte, insbesondere Kinder, in Kauf nehmen. In diesem Zusammenhang wird die Verwendung von Bildmaterial abgetriebener Föten, welches über das Format DIN A4 hinausgeht, insbesondere die Verwendung des angezeigten und beigefügten Bildmaterials untersagt. Die beigefügten Fotos sind Bestandteil des Bescheids“.
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Auf die Begründung in dem Bescheid wird Bezug genommen.
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Den gegen die Beschränkung in Nr. 2.1 des Bescheids gerichteten Eilantrag des Antragstellers nach § 80 Abs. 5 VwGO hat das Verwaltungsgericht mit dem angefochtenen Beschluss vom 13. Juli 2023 abgelehnt.
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In der Sache wird im Wesentlichen ausgeführt, die Anordnung in Nr. 2.1 des Bescheids erweise sich voraussichtlich als angemessener Eingriff in die Versammlungsfreiheit des Antragstellers bzw. der Versammlungsteilnehmer. Der Einwand fehlender Bestimmtheit treffe nicht zu. Sowohl aus der Tenorierung als auch aus der näheren Begründung gehe hinreichend bestimmt hervor, dass die Verwendung von Bildmaterial abgetriebener Föten, welches über das Format DIN A4 hinausgehe, untersagt sei.
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Die Gefahrprognose der Antragsgegnerin, welche der Beschränkung der Versammlung in Ziffer 2.1 zu den (un-)zulässigen Kundgebungsmitteln im streitigen Bescheid zugrunde liege, sei nicht zu beanstanden. Obgleich das Versammlungsthema und die Kundgebungsmittel einen engen Bezug zueinander aufweisen bzw. konkret auch die Thematik „Abtreibungen“ angesprochen werden, ergebe sich unter Gesamtwürdigung aller Umstände des konkreten Einzelfalls bei einer Abwägung der Versammlungsfreiheit und der Belange der öffentlichen Sicherheit und Ordnung ein Überwiegen der Letztgenannten. Das Selbstbestimmungsrecht einer Versammlung, u.a. über die Art bzw. Inhalt, sei nicht schrankenlos, es umfasse nicht die Entscheidung, welche Beeinträchtigungen die Träger kollidierender Rechtsgüter hinzunehmen hätten. Mit der Antragsgegnerin gehe die Kammer davon aus, dass es u.a. für Kinder und Jugendliche, unabhängig von einer etwaigen Begleitung durch Erziehungspersonen, nach den Umständen der angezeigten Versammlung zu einer unausweichlichen Konfrontation mit dem streitgegenständlichen Bildmaterial kommen werde. Die Antragsgegnerin lege in nicht zu beanstandender Weise zugrunde, dass das detailgenaue, drastische und abstoßende Bildmaterial abgetriebener menschlicher Föten, welches u.a. die einzelnen, teils abgetrennten Gliedmaßen bzw. Organe erkennen lasse, zumal ohne pädagogische bzw. erzieherische (und ggf. näher sachlich einordnende) Unterstützung im Umgang damit, kindes- bzw. jugendgefährdende Inhalte darstellten können. Hiervon ausgehend sei die Annahme der Antragsgegnerin, dass mit hinreichend hoher Wahrscheinlichkeit von einer konkreten Gefahr für erhebliche verstörende/ traumatisierende Folgen und damit gesundheitliche (psychische) Beeinträchtigungen (Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG) von Kindern und Jugendlichen auszugehen sei, plausibel. Es werde auf die detaillierte sowie nachvollziehbare Darlegung im Bescheid verwiesen. „Schock-Abbildungen“ wie z.B. auf Zigarettenpackungen seien in ihrer Wirkung wegen der Größe der Darstellung hiermit nicht vergleichbar; Bildmaterial in Geschichtsbüchern sei darüber hinaus gerade auf eine pädagogische Vermittlung hin ausgerichtet.
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Die Anordnung sei auch nicht unverhältnismäßig. Die Kammer nehme – insbesondere im Hinblick auf die Örtlichkeit der Versammlung (Vorplatz) – mit der Antragsgegnerin an, dass mildere, gleich geeignete Mittel nicht ersichtlich seien. Insbesondere Hinweisschilder auf das Bildmaterial oder ein Abhängen des Bildmaterials kämen nicht in Betracht. Es werde auf die ausführliche und nachvollziehbare Darlegung im Bescheid verwiesen. Schließlich sei zu berücksichtigen, dass der Versammlungszweck durch die angeordnete Beschränkung nicht vereitelt werde. Ein Sachbezug zwischen dem Thema der Versammlung und der breiten Öffentlichkeit werde durch das mögliche Zeigen des streitigen Bildmaterials in der maximalen Größe DIN A4 sichergestellt. Interessierten könne dieses individuell gezeigt werden. Dem Antragsteller sei es im Übrigen möglich, Fotos von nicht-abgetriebenen Föten im Mutterleib im großen Format mittels seiner Messewände als Kundgebungsmittel zu verwenden.
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Ausgehend von der plausiblen Darlegung im Bescheid, dass unausweichlich mit einer Konfrontation von u.a. Kindern/ Jugendlichen mit dem streitigen Bildmaterial zu rechnen sei und sich hierdurch mit hinreichend hoher Wahrscheinlichkeit konkrete Gefahren für deren Gesundheit ergeben würden, führe die angezeigte Durchführung der Versammlung zu einer unverhältnismäßigen, nicht mehr vom Grundrecht der Versammlungsfreiheit zu rechtfertigenden Beeinträchtigung der schutzwürdigen Belange unbeteiligter Dritter. Nach alledem entspreche es der praktischen Konkordanz zwischen der Versammlungsfreiheit und der durch die Versammlung u.a. beeinträchtigten Belange von Kindern/Jugendlichen, die (un-)zulässigen Kundgebungsmittel der Versammlung zu beschränken.
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Mit seiner Beschwerde beanstandet der Antragsteller, dass die streitgegenständliche Anordnung unbestimmt und widersprüchlich sei. Widersprüchlich sei auch, dass großformatige Bilder nicht erlaubt sein sollten, Bilder in DIN A4-Größe jedoch sehr wohl. Das Format der Bilder spiele im Hinblick auf die Inhalte der Bilder im Ergebnis keine Rolle.
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Die Annahme von Gefahren für die Gesundheit von abtreibungswilligen Frauen oder jenen, die bereits eine Abtreibung vollzogen hätten oder für Kinder aufgrund der Verwendung der angezeigten Bilder erscheine realitätsfremd und inhaltlich nicht nachvollziehbar. Es sei zwar zuzugeben, dass es sich um drastisches und auch abstoßendes Bildmaterial handle. Ein innerer Unwilligkeits- oder Ekeleffekt bedinge jedoch allein noch keine konkreten Gefahren für eine gesundheitliche Beeinträchtigung von entsprechenden Personengruppen, insbesondere sei nicht erkennbar, wie diese Bilder einen nachhaltigen Schock erzeugen sollten. Dies zeigten auch die bisher beanstandungsfrei durchgeführten Versammlungen mit dem Bildmaterial. Abtreibung und deren Folgen seien ein gesellschaftlich noch immer hoch relevantes Thema, welches in das Licht der Öffentlichkeit gehöre. Es sei als reine Verblendung zu erachten, diese Konsequenzen ausblenden zu wollen und den Schwangerschaftsabbruch damit zu tabuisieren.
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Die Warnung vor den Bildern mit entsprechenden Aufstellern sei als vollkommen ausreichend zu erachten, um den Befindlichkeiten von Kindern oder betroffenen Personen gerecht zu werden. Jedermann könne dann selbst entscheiden, ob eine Aussetzung gegenüber dem Bildmaterial gewünscht sei oder nicht.
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Der Antragsteller beantragt sinngemäß, den Beschluss des Verwaltungsgerichts Augsburg vom 13. Juli 2023 abzuändern und die aufschiebende Wirkung der Anfechtungsklage gegen den Bescheid der Antragsgegnerin vom 11. Juli 2023 hinsichtlich der Anordnung Nr. 2.1 anzuordnen.
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Die Antragsgegnerin beantragt, die Beschwerde zurückzuweisen, und verteidigt den angegriffenen Beschluss. Auf den Schriftsatz vom 14. Juli 2023 wird Bezug genommen.
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Die Landesanwaltschaft Bayern hat sich als Vertreter des öffentlichen Interesses am Verfahren beteiligt, jedoch keinen eigenen Antrag gestellt.
17
Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Gerichtsakte und die vorgelegte Behördenakte Bezug genommen.
II.
18
Die zulässige Beschwerde des Antragstellers ist unbegründet. Die in der Beschwerdebegründung dargelegten Gründe, die der Verwaltungsgerichtshof nach § 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO allein zu prüfen hat, rechtfertigen nicht die beantragte Abänderung des angefochtenen Beschlusses.
19
1. Der Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO war – entgegen der Auffassung des Erstgerichts – nicht bereits wegen fehlenden Rechtsschutzbedürfnisses unzulässig. Nach § 80 Abs. 5 Satz 2 VwGO ist der Antrag auf Anordnung bzw. Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung schon vor Erhebung der Anfechtungsklage zulässig. Die Vorschrift zeigt, dass der Rechtsbehelf, dessen aufschiebende Wirkung angeordnet bzw. wiederhergestellt wird, noch nicht erhoben sein muss. An dieser vom Senat in ständiger Rechtsprechung vertretenen Auffassung (vgl. zuletzt BayVGH, B.v. 16.11.2020 – 10 CS 20.2658 – juris Rn. 3; BayVGH, B.v. 11.9.2020 – 10 CS 20.2064 – juris) wird festgehalten (vgl. auch ausführlich OVG NRW, B.v. 18.9.2020 – 14 B 985/20 – juris Rn. 7 ff. mit zahlreichen Nachweisen zum Streitstand; Gersdorf in Posser/Wolff, VwGO, 2. Aufl. 2014, § 80 Rn. 164; Schenke in Kopp/Schenke, VwGO, 26. Aufl. 2020, § 80 Rn. 139; im Ergebnis auch BayVGH, B.v. 11.4.2013 – 22 CS 13.767 – juris). Insofern kann dahinstehen, ob die Erhebung der Anfechtungsklage nach der erstinstanzlichen Entscheidung einen etwaigen Mangel heilen konnte.
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2. Das Verwaltungsgericht ist im Ergebnis zu Recht davon ausgegangen, dass der Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage unbegründet ist, weil das öffentliche Vollzugsinteresse das private Suspensivinteresse des Antragstellers überwiegt.
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Im einstweiligen Rechtsschutzverfahren nach § 80 Abs. 5 VwGO entscheidet das Gericht auf der Grundlage einer eigenen Abwägung der widerstreitenden Vollzugs- und Suspensivinteressen. Wesentliches Element dieser Interessenabwägung ist die Beurteilung der Erfolgsaussichten des Rechtsbehelfs in der Hauptsache, die dem Charakter des Eilverfahrens entsprechend nur aufgrund einer summarischen Prüfung der Sach- und Rechtslage erfolgen kann (BVerwG, B.v. 22.3.2010 – 7 VR 1.10, 7 VR 1.10 (7 C 21.09) – juris Rn. 13). Dabei ist zu berücksichtigen, dass das verwaltungsgerichtliche Eilverfahren im Bereich des Versammlungsrechts praktisch die Bedeutung des Hauptsacheverfahrens übernehmen kann. Bei Versammlungen, die auf einen einmaligen Anlass bezogen sind, müssen die Verwaltungsgerichte daher schon im Eilverfahren durch eine intensive Prüfung dem Umstand Rechnung tragen, dass der Sofortvollzug der umstrittenen Maßnahme in der Regel zur endgültigen Verhinderung der Versammlung in der beabsichtigten Form führt. Soweit möglich, ist die Rechtmäßigkeit der Maßnahme zu prüfen; im Übrigen kommt es auf eine sorgsame Interessenabwägung an (vgl. BVerfG, B.v. 14.5.1985 – 1 BvR 233/81 – BVerfGE 69, 315 – juris Rn. 96 f.; B.v. 23.3.2004 – 1 BvR 745/01 – juris Rn. 13).
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Gemessen daran überwiegt vorliegend das öffentliche Interesse am sofortigen Vollzug der angegriffenen Versammlungsbeschränkung.
23
a) Die Erfolgsaussichten in der Hauptsache sind bei Ausschöpfung aller im Eilverfahren verfügbaren Erkenntnismöglichkeiten des Senats offen.
24
aa) Die gegenständliche Anordnung Nr. 2.1 ist dabei nicht bereits deswegen rechtswidrig, weil sie zu unbestimmt ist, wie der Antragsteller vorbringt.
25
Nach Art. 37 Abs. 1 BayVwVfG muss ein Verwaltungsakt inhaltlich hinreichend bestimmt sein. Das Bestimmtheitsgebot verlangt, dass für den Adressaten des Verwaltungsakts aus der Verfügung selbst – wenn auch gegebenenfalls erst im Zusammenhang mit den Gründen des Bescheids und den zugrundeliegenden Umständen – die Regelung, die den Zweck, Sinn und Inhalt des Verwaltungsakts ausmacht, vollständig, klar und unzweideutig erkennbar wird. Maßgeblich ist insofern die am objektiven Empfängerhorizont orientierte Auslegung der behördlichen Anordnung (BayVGH, B.v. 17.10.2018 – 10 CS 18.1717 – juris Rn. 17; B.v. 10.3.2017 – 10 ZB 17.136 – juris Rn. 7). Diesen Anforderungen wird die Anordnung gerecht.
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Dabei ist die aus drei Sätzen bestehende Beschränkung Nr. 2.1 im Zusammenhang zu lesen. Die Formulierung „Kundgebungsmittel, … [die] bewusst eine verängstigende, einschüchternde oder verstörende Wirkung auf Dritte, insbesondere Kinder, in Kauf nehmen,“ wird durch die nachfolgende Beschreibung „Bildmaterial abgetriebener Föten, welches über das Format DIN A4 hinausgeht, insbesondere die Verwendung des angezeigten und beigefügten Bildmaterials,“ konkretisiert. Damit ist für den Adressaten erkennbar, dass sich die Anordnung zum einen inhaltlich auf das vom Antragsteller vorgelegte und zum Bestandteil des Bescheids erklärte Bildmaterial bezieht, und zum anderen wird hinreichend deutlich, dass die Verwendung des Bildmaterials nur insoweit untersagt ist, als es die Größe des Formats DIN A4 überschreitet.
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bb) Ebenso wenig durchgreifend ist der Einwand des Antragstellers, die streitbefangene Beschränkung des als Kundgebungsmittel verwendeten Bildmaterials auf Bilder in DIN A4-Größe sei widersprüchlich und damit auch ungeeignet, den Schutz der öffentlichen Sicherheit und Ordnung zu bewirken. Die Antragsgegnerin hat im Beschwerdeverfahren zu Recht erneut darauf hingewiesen, dass dem Format des präsentierten Bildmaterials (DIN A4 gegenüber 2 × 3 m) durchaus entscheidende Bedeutung zukomme, weil sich bei der angezeigten Größe der Plakatwände vor allem Kinder und Jugendliche in einem weiten Umkreis des Versammlungsgeschehens den abstoßenden Inhalten nicht entziehen könnten; bei der als milderes Mittel zugelassenen Verwendung der Bilder im DIN A4-Format drohten diese Gefahren nicht in gleicher Weise und könnten die Bilder Interessierten individuell gezeigt werden. Mit Blick auf die Gefährdung von Kinder und Jugendlichen ist entgegen dem Beschwerdevorbringen die Verwendung von entsprechenden „Warn-Aufstellern“ kein gleich geeignetes und damit milderes Mittel, „einen adäquaten Umgang mit dem Bildmaterial“ zu bewirken, da derartige Aufsteller entweder schon nicht oder nicht in gleicher Weise wahrgenommen werden können bzw. die damit bewirkte Warnung nicht gelesen und verstanden werden kann.
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cc) Ob die Anordnung in Nr. 2.1 im Übrigen materiell rechtmäßig ist, kann derzeit nicht abschließend beurteilt werden.
29
Gemäß Art. 15 Abs. 1 BayVersG kann die zuständige Behörde eine Versammlung beschränken oder verbieten, wenn nach den zur Zeit des Erlasses der Verfügung erkennbaren Umständen die öffentliche Sicherheit oder Ordnung bei Durchführung der Versammlung unmittelbar gefährdet ist.
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Der Schutz der „öffentlichen Sicherheit“ im Sinne von Art. 15 Abs. 1 BayVersG umfasst die gesamte Rechtsordnung und die in diesem Zusammenhang betroffenen Rechte Dritter. Kollidiert die Versammlungsfreiheit, hier das aus der grundrechtlich verbürgten Versammlungsfreiheit folgende Recht des Antragstellers, selbst über Ort, Zeitpunkt, Art und Inhalt der Versammlung zu bestimmen (stRspr, vgl. z.B. zuletzt BayVGH, B.v. 7.6.2023 – 10 CS 23.1025 – BeckRS 2023, 13679 Rn. 22; BVerwG, B.v. 23.5.2023 – 6 B 33.22 – juris Rn. 17 jeweils m.w.N.) mit Rechten Dritter, ist eine Abwägung der betroffenen Positionen zur Herstellung praktischer Konkordanz erforderlich. Dabei sind die kollidierenden Positionen so in Ausgleich zu bringen, dass sie für alle Beteiligten möglichst weitgehend wirksam werden (vgl. BVerfG, B.v. 11.4.2018 – 1 BvR 3080/09 – juris Rn. 32). Versammlungsrechtliche Beschränkungen wie hier sind dabei ein Mittel, um unter Berücksichtigung der Umstände des jeweiligen Einzelfalls eine praktische Konkordanz zwischen dem Grundrecht der Versammlungsfreiheit und den Rechten Dritter sowie den betroffenen öffentlichen Belangen herzustellen. Bloße Belästigungen Dritter, die sich aus der Gruppenbezogenheit der Grundrechtsausübung ergeben und sich ohne Nachteile für den Versammlungszweck nicht vermeiden lassen, müssen hingenommen werden. Andererseits gibt die Versammlungsfreiheit dem Einzelnen kein Recht zum Übergriff in den geschützten Rechtskreis Dritter. Beschränkungen sind im Lichte der grundlegenden Bedeutung dieses Grundrechts im freiheitlich-demokratischen Staat auf dasjenige zu begrenzen, was zum Schutz gleichwertiger Rechtsgüter unter strikter Wahrung der Verhältnismäßigkeit notwendig ist (BVerwG, B.v. 23.5.2023 – 6 B 33.22 – juris Rn. 16 f.).
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Vorliegend steht der auf Seiten des Antragstellers streitenden Versammlungsfreiheit und – unterstützend – der von Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG gewährleisteten Meinungsfreiheit das durch Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG geschützte Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit insbesondere von durch die Konfrontation mit als Kundgebungsmittel verwendetem „abstoßenden Bildmaterial“ betroffenen Kindern und Jugendlichen gegenüber, das sowohl den Schutz der körperlichen Integrität als auch der psychischen Gesundheit umfasst (vgl. z.B. Lang in BeckOK Grundgesetz, Epping/Hillgruber, Stand 15.5.2023, GG Art. 2 Rn. 185 m.w.N.).
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Die grundrechtliche Beurteilung und Entscheidung dieses Konfliktfalls hängt entscheidend davon ab, ob über die (bloße) Konfrontation mit einem unliebsamen und konfliktbelasteten Thema (Abtreibungen) hinaus durch die als Kundgebungsmittel verwendeten großformatigen, detailgenauen und sehr drastischen Darstellungen abgetriebener menschlicher Föten nach den zur Zeit des Erlasses der angefochtenen Verfügung erkennbaren konkreten Umstände tatsächlich eine konkrete Gefahr erheblich verstörender und traumatisierender Folgen und psychischer Beeinträchtigungen damit konfrontierter Kinder und Jugendlicher droht. Die Antragsgegnerin (s. Bescheid S. 11 f.) und ihr folgend das Verwaltungsgericht (BA. Rn. 28) gehen davon aus, dass Bilder von blutigen und zerstückelten Föten einen psychischen Schaden bei Kindern und Heranwachsenden, unter anderem Schlafstörungen oder Panikattacken, auslösen können.
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Dieser Gefahrenprognose, bei der allerdings eine Beteiligung fachkundiger Stellen wie insbesondere des zuständigen Jugendamts (Ordnungsrechtlicher Jugendschutz) der Antragsgegnerin soweit ersichtlich nicht erfolgt ist (vgl. zur Beteiligung von sachkundigen Fachbehörden Kniesel/Poschner in Lisken/Denninger, PolR-HdB, 7. Aufl. 2021, Versammlungsrecht Rn. 200b), hält die Antragstellerseite auch im Beschwerdeverfahren nachvollziehbar entgegen, dass im Stadtgebiet der Antragsgegnerin bereits derartige Versammlungen mit diesem Bildmaterial „beanstandungsfrei durchgeführt“ worden seien und demgemäß eine gesundheitliche Beeinträchtigung der angeführten Personengruppen nicht naheliege.
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Andererseits räumt die Antragstellerseite auch im Beschwerdeverfahren selbst ein, „dass es sich (bei den als Kundgebungsmittel verwendeten großflächigen Plakatwänden) um drastisches und auch abstoßendes Bildmaterial handelt“ und eine „Warnung vor den Bildern mit entsprechenden Aufstellern“ notwendig, aber auch „vollkommen ausreichend“ sei, „um den Befindlichkeiten von Kindern oder betroffenen Personen gerecht zu werden“. Auch hat das Verwaltungsgericht zutreffend darauf verwiesen, dass entsprechende Abbildungen abgetriebener menschlicher Föten in der Vergangenheit bereits als jugendgefährdend im Sinne des Jugendschutzrechts indiziert worden sind (vgl. VG Darmstadt, U.v. 5.6.2018 – 3 K 1937/17.DA – juris; darüber hinaus VG Köln, U.v. 16.11.2007 – 27 K 1764/07 – juris Rn. 26).
35
Eine weitere Sachaufklärung ist dem Senat im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes und in der Kürze der zur Verfügung stehenden Zeit nicht möglich. Die Rechtmäßigkeit der streitgegenständlichen Beschränkung und damit die Erfolgsaussichten der mittlerweile erhobenen Anfechtungsklage in der Hauptsache sind damit offen.
36
b) Die aufgrund der offenen Erfolgsaussichten erforderliche Interessenabwägung fällt vorliegend zu Lasten des Antragstellers aus.
37
Wenn der Antrag abgelehnt würde, sich jedoch im Hauptsacheverfahren herausstellte, dass die angegriffene Beschränkung rechtswidrig ist, wäre der Antragsteller in seinem Grundrecht auf Versammlungsfreiheit nach Art. 8 Abs. 1 GG verletzt. Im Hinblick auf den hohen Rang des betroffenen Schutzguts wäre die Grundrechtsverletzung von erheblichem Gewicht, zumal es sich bei den hier in Rede stehenden Plakaten um ein zentrales Element zur Erzielung eines Beachtungserfolges handeln dürfte.
38
Würde dem Begehren des Antragstellers demgegenüber entsprochen und würde sich später herausstellen, dass die Beschränkung rechtmäßig ist, wären grundrechtlich durch Art. 2 Abs. 2 GG geschützte Interessen einer unbestimmten Anzahl Dritter, insbesondere Kinder und Jugendlicher, von erheblichem Gewicht betroffen, zumal auch der Jugendschutz jenseits der Abwehr unmittelbarer Gesundheitsgefahren Verfassungsrang besitzt (BVerfG, B.v. 27.11.1990 – 1 BvR 402/87 – BVerfGE 83, 130 – juris Rn. 33 f.).
39
Für ein Überwiegen des öffentlichen Vollzugsinteresses spricht dabei, dass die Versammlung keinen einmaligen Anlass hat. Der Antragsteller hat gleichartige Versammlungen nach eigenem Bekunden bereits in der Vergangenheit durchgeführt und wird dies aller Voraussicht nach auch weiter tun, weil sein kommunikatives Anliegen sich in absehbarer Zeit nicht erledigen dürfte. Eine besondere Bedeutung der hier streitgegenständlichen Versammlung im Rahmen dieser Versammlungsreihe ist weder vorgetragen noch sonst ersichtlich. Zur Unterstreichung seines kommunikativen Anliegens kann der Antragsteller daher die Bilder bzw. Plakate erneut einsetzen, wenn sich im Hauptsacheverfahren oder bei künftigen Versammlungen nach der Einholung einer sachverständigen Äußerung der Fachbehörden, insbesondere des ordnungsrechtlichen Jugendschutzes, die gesundheitliche und jugendschutzrechtliche Vertretbarkeit der Bilder in der konkreten Größe herausstellen sollte. Bis dahin kann der Antragsteller sein kommunikatives Anliegen auf andere Art und Weise weiterverfolgen.
40
Dagegen wären eingetretene Schäden bei dem Schutzgut der psychischen Gesundheit von Kindern und Jugendlichen gegebenenfalls nur schwer zu beseitigen.
41
Insgesamt ist es dem Antragsteller daher zumutbar, bis zur Klärung der hier entscheidungserheblichen Tatsachen auf die Verwendung der streitgegenständlichen Bilder in der gewünschten Plakatwandgröße zu verzichten.
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Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO.
43
Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 63 Abs. 2 Satz 1, § 47 Abs. 1, § 53 Abs. 2 Nr. 2 und § 52 Abs. 2 GKG.
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Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO).