Inhalt

VGH München, Beschluss v. 10.07.2023 – 12 C 23.30311
Titel:

Zur nachträglichen Festsetzung von Unterbringungsgebühren gegen anerkannte mittellose Flüchtlinge

Normenketten:
GG Art. 1 Abs. 1, Art. 20 Abs. 1
DVAsyl § 22, § 23
SGB II § 34
SGB XII § 103
SGB I § 53 Abs. 2 Nr. 1
Leitsätze:
1. Werden anerkannten (teilweise) mittellosen Flüchtlingen (nachträglich) Unterkunftsgebühren oder -kosten auferlegt, so muss im Lichte des Sozialstaatsgebots und der verfassungsrechtlichen Garantie der Sicherung des Existenzminimums (Art. 1 Abs. 1 i.V.m. Art. 20 Abs. 1 GG) gewährleistet sein, dass sie als zum Bezug von Leistungen nach dem SGB-II Berechtigte – zumindest teilweise – Befreiung über das Sozialleistungssystem erhalten (Bestätigung von BayVGH, B.v. 02.12.2020 – 12 C 20.32011 – juris, Rn. 18; B.v. 20.04.2023 – 12 C 23.563 – juris, Rn. 5). (Rn. 5)
2. Das deutsche Sozialleistungsrecht sieht eine (Rück-)Erstattung rechtmäßig gewährter Hilfen nur in Fällen „sozialwidrigen Verhaltens“ – §§ 34 Abs. 1 SGB II, § 103 Abs. 1 SGB XII – vor. Ein solches liegt in den Fällen der Inanspruchnahme einer das Existenzminimum sichernden Unterbringung durch anerkannte (teilweise) mittellose Flüchtlinge von vornherein fern (Bestätigung von BayVGH, B.v. 02.12.2020 – 12 C 20.32011 – juris, Rn. 20; B.v. 20.04.2023 – 12 C 23.563 – juris, Rn. 7). (Rn. 7)
3. Anerkannte (teilweise) mittellose Flüchtlinge können daher durch eine (nachträgliche) Festsetzung von Unterbringungsgebühren oder -kosten im Umfang ihrer fortbestehenden Bedürftigkeit nicht in einer Art fortwährenden (persönlichen) „Nachhaftung“ für rechtmäßig in Anspruch genommene existenzsichernde Fürsorgeleistungen gehalten werden (Bestätigung von BayVGH, B.v. 02.12.2020 – 12 C 20.32011 – juris, Rn. 22; B.v. 20.04.2023 – 12 C 23.563 – juris, Rn. 9). (Rn. 9)
4. Anerkannte (teilweise) mittellose Flüchtlinge können sich deshalb gegenüber einer Gebühren- oder Kostenfestsetzung des Kostengläubigers im Umfang ihrer Leistungsunfähigkeit zumindest teilweise auf die bereits von Amts wegen zu berücksichtigende rechtsvernichtende Einwendung der Existenzgefährdung berufen, indem sie ihre Forderung auf Übernahme der Kosten der Unterkunft gegen den zuständigen Sozialträger an Erfüllungs statt an den Kostengläubiger abtreten, wodurch die Gebühren- bzw. Kostenschuld – zumindest zum Teil – erlischt (Bestätigung von BayVGH, B.v. 02.12.2020 – 12 C 20.32011 – juris, Rn. 28; B.v. 20.04.2023 – 12 C 23.563 – juris, Rn. 11). (Rn. 16 – 17)
5. Die (gegebenenfalls auch gerichtliche) Durchsetzung der abgetretenen Ansprüche gegenüber dem jeweiligen Sozialleistungsträger ist sodann alleinige Angelegenheit des Kostengläubigers (Bestätigung von BayVGH, B.v. 02.12.2020 – 12 C 20.32011 – juris, Rn. 33; B.v. 20.04.2023 – 12 C 23.563 – juris, Rn. 19 u. 23). In diesem Zusammenhang ist zugleich auch die Frage der Angemessenheit der Aufwendungen für die Unterkunft (Höhe der Gebührenfestsetzung) zu klären (vgl. BSG, U.v. 19.05.2021 – B14 AS 19/20 R – juris, Rn. 31). (Rn. 23 und 25)
6. Scheitert – aus welchen Gründen auch immer – die Durchsetzung der abgetretenen Ansprüche gegenüber dem Sozialleistungsträger, so lebt das Schuldverhältnis des ursprünglichen Kostenschuldners mit dem Kostengläubiger – dem Freistaat Bayern – im Umfang der abgetretenen Ansprüche nicht von selbst wieder auf; die Abtretung ist „an Erfüllungs statt“ und nicht lediglich „erfüllungshalber“ erfolgt. Das Ausfallrisiko trägt insoweit allein der Kostengläubiger (Bestätigung von BayVGH, B.v. 20.04.2023 – 12 C 23.563 – juris, Rn. 23). (Rn. 17 und 21)
Schlagworte:
Prozesskostenhilfe, Unterbringung anerkannter (teilweise) mittelloser Flüchtlinge in (staatl.) Unterkünften, Kostenfeststellung, Sozialstaatsprinzip und Gewährleistung des Existenzminimums, Ausschluss der Rückforderung rechtmäßig gewährter Sozialleistungen, Abtretung von Ansprüchen auf Erstattung von Kosten der Unterkunft an, Erfüllungs statt, Selbstbindung der Verwaltung (Art. 3 Abs. 1 GG), Unterbringung, Unterkunft, Flüchtling, mittellos, Kosten, nachträglich, Abtretung, Sozialleistung, an Erfüllung statt, Existenzminimum
Vorinstanz:
VG Würzburg, Beschluss vom 18.04.2023 – W 7 K 22.1632 u.a.
Fundstellen:
NVwZ-RR 2023, 1054
LSK 2023, 18920
BeckRS 2023, 18920

Tenor

I. Die Beschlüsse des Verwaltungsgerichts Würzburg vom 18. April 2023 – W 7 K 22.1632 u.a. – werden aufgehoben.
II. Dem Kläger wird jeweils Prozesskostenhilfe für das Verfahren erster Instanz bewilligt und Herr Rechtsanwalt E* … S* … aus S* … beigeordnet.

Gründe

1
Die zulässigen Beschwerden, mit welchen der Kläger sich gegen die Versagung von Prozesskostenhilfe für seine gegen die Kostenbescheide des Beklagten vom 21. September 2022 gerichtete Klage, betreffend die (21) streitgegenständlichen Monate Januar 2018 – September 2019 wendet, haben Erfolg. Das Verwaltungsgericht hat dem Kläger Prozesskostenhilfe unter Anwaltsbeiordnung mit Beschlüssen jeweils vom 18. April 2023 zu Unrecht versagt.
2
1. Nach § 166 VwGO i.V.m. § 114 Abs. 1 Satz 1 ZPO erhält eine Partei, die nach ihren persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen die Kosten der Prozessführung nicht aufbringen kann, auf Antrag Prozesskostenhilfe, wenn die beabsichtigte Rechtsverfolgung hinreichende Aussicht auf Erfolg bietet und nicht mutwillig erscheint. Für die Bewilligung von Prozesskostenhilfe genügt bereits eine gewisse, nicht notwendig überwiegende Wahrscheinlichkeit des Erfolgs (vgl. Kopp/Schenke, VwGO, 28. Aufl. 2022, § 166 Rn. 8 m.w.N.). Mit Blick auf die Rechtsschutzgleichheit von Bemittelten und Unbemittelten dürfen die Anforderungen hinsichtlich der Erfolgsaussichten nicht überspannt werden, vor allem ist es unzulässig, schwierige Rechtsfragen, die in einer vertretbaren Weise auch anders beantwortet werden können, bereits in Vorwegnahme des Hauptsacheverfahrens abschließend im Prozesskostenhilfeverfahren zu erörtern und damit den Zugang zu den Gerichten zu versagen (vgl. BVerfG, B.v. 5.2.2003 – 1 BvR 1526/02 –, NJW 2003, 1857). Gleiches gilt, wenn der vom Kläger eingenommene Standpunkt zumindest vertretbar erscheint und in tatsächlicher Hinsicht die Möglichkeit einer Beweisführung offensteht (vgl. Happ, in: Eyermann, VwGO, 16. Aufl. 2022, § 166 Rn. 26). Ungeachtet dessen entspricht es der ständigen Rechtsprechung des Senats, Prozesskostenhilfe grundsätzlich dann zu bewilligen, wenn im jeweiligen Verfahren eine weitere Sachaufklärung oder gar eine Beweiserhebung in Betracht kommt (vgl. BayVGH, B.v. 2.11.2020 – 12 C 20.32011 – juris, Rn. 15 m.w.N.).
3
2. a) Gemessen an diesem Maßstab können die Beschlüsse des Verwaltungsgerichts vom 18. April 2023 keinen Bestand haben. Dem Klagebegehren kann eine hinreichende Aussicht auf Erfolg nicht abgesprochen werden (§ 166 VwGO i.V.m. § 114 Abs. 1 Satz 1 ZPO).
4
Die Fürsorge für Hilfsbedürftige gehört zu den selbstverständlichen Verpflichtungen des Sozialstaats (vgl. BVerfGE 5, 85 [198]; 35, 202 [236]; 40, 121 [133]; 43, 13 [19]; 45, 376 [387]; 100, 271 [284]). Dem korrespondiert, abgeleitet aus Art. 1 Abs. 1 i.V.m. Art. 20 Abs. 1 GG, das Recht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums (vgl. BVerfGE 113, 88 [108 f.]; 125, 175 [222]; 132, 134 [159] Rn. 62; 152, 68 Rn. 118). Fehlen einem Menschen – wie hier dem Kläger – (zunächst) die zur Gewährleistung eines menschenwürdigen Daseins notwendigen materiellen Mittel, weil er sie weder aus eigener Erwerbstätigkeit noch aus eigenem Vermögen noch durch Zuwendungen Dritter erhalten kann, ist der Staat im Rahmen seines Auftrages zum Schutz der Menschenwürde und in Ausfüllung seines sozialstaatlichen Gestaltungsauftrages verpflichtet, dafür Sorge zu tragen, dass die materiellen Voraussetzungen für dieses menschenwürdige Dasein zur Verfügung stehen (vgl. BVerfGE 40, 121 [133 f.]; 125, 175 [222]; 152, 68 Rn. 120).
5
Dazu gehörte vorliegend auch, dass der zunächst mittellose Kläger nach Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft mit dem Ziel der Vermeidung von Obdachlosigkeit weiterhin kostenfrei in der zugewiesenen Unterkunft verbleiben durfte. Der Beklagte ist insoweit zum Zwecke der Abwendung von Obdachlosigkeit mit einer Fürsorgeleistung in Vorlage getreten. Werden anerkannten (teilweise) mittellosen Flüchtlingen – wie hier – gleichwohl (nachträglich) Unterkunftsgebühren oder -kosten auferlegt, so muss im Lichte des Sozialstaatsgebots und der Garantie der Sicherung des Existenzminimums (Art. 1 Abs. 1 i.V.m. Art. 20 Abs. 1 GG) gewährleistet sein, dass sie als zum Bezug von Leistungen nach dem SGB-II Berechtigte Befreiung über das Sozialleistungssystem im Umfang ihrer Leistungsunfähigkeit erhalten (vgl. bereits BayVGH, B.v. 2.11.2020 – 12 C 20.32011 – juris, Rn. 17 f.; B.v. 20.4.2023 – 12 C 23.563 – juris, Rn. 5).
6
Der Senat hat in diesem Kontext bereits wiederholt entschieden, dass der Beklagte diesem Gesichtspunkt nicht allein dadurch Rechnung tragen kann, dass er für die Betroffenen im Wege der Geschäftsführung ohne Auftrag Anträge auf Kostenübernahme bei den Jobcentern (§§ 6d, 44b SGB II) stellt mit dem Ziel, dass „seine“ Unterkunftsgebühren als Kosten der Unterkunft (KdU) im Rahmen des SGB-II Bezuges (§ 22 SGB II) von dort getragen werden (vgl. BayVGH, B.v. 16.5.2018 – 12 N 18.9 – juris, Rn. 104). Auch Stundung und zeitweilige Niederschlagung der Gebühren- oder Kostenforderungen erweisen sich nicht als taugliche Instrumente einer Verwirklichung der Anforderungen des Sozialstaatsgebots, denn beide lassen das Fortbestehen des Anspruchs unberührt (vgl. BayVGH, B.v. 16.5.2018 – 12 N 18.9 – juris, Rn. 105; B.v. 2.11.2020 – 12 C 20.32011 – juris, Rn. 19; B.v. 20.4.2023 – 12 C 23.563 – juris, Rn. 6).
7
Die (teilweise) mittellosen Betroffenen befänden sich dadurch im Umfang ihrer Leistungsunfähigkeit weiterhin in einer fortwährenden „Schuldknechtschaft“ des Staates (vgl. hierzu bereits BayVGH, B.v. 16.5.2018 – 12 N 18.9 – juris, Rn. 105), obwohl das deutsche Sozialleistungsrecht eine (Rück-) Erstattung rechtmäßig gewährter Hilfen nur in Fällen „sozialwidrigen Verhaltens“ – §§ 34 Abs. 1 SGB II, § 103 Abs. 1 SGB XII – vorsieht. Ein solches indes liegt in den Fällen der Inanspruchnahme einer das Existenzminimum sichernden Unterbringung durch anerkannte (teilweise) mittellose Flüchtlinge von vornherein fern. Die Annahme eines aus der Sicht der Solidargemeinschaft zu missbilligenden Verhaltens (vgl. hierzu näher Klerks, in: Berlit/Conradis/Pattar, Existenzsicherungsrecht, 3. Aufl. 2019, Kapitel 41, Rn. 3 ff.; Silbermann, in: Eicher/Luik, SGB II, 4. Aufl. 2017, § 34 Rn. 27; Bieback, in: Grube/Warendorf/Flint, SGB XII, 7. Aufl. 2020, § 103 Rn. 9) würde jeder Grundlage entbehren (vgl. BayVGH, B.v. 2.11.2020 – 12 C 20.32011 – juris, Rn. 20; B.v. 20.4.2023 – 12 C 23.563 – juris, Rn. 7).
8
Umso weniger kann es im Lichte des Sozialstaatsgebots und der verfassungsrechtlichen Gewährleistung des Existenzminimums (Art. 1 Abs. 1 i.V.m. Art. 20 Abs. 1 GG) in Betracht kommen, anerkannte (teilweise) mittellose Flüchtlinge – noch dazu nachträglich – mit einer Gebühren- oder Kostenforderung für eine existenzsichernde Leistung zu überziehen, ohne dass zugleich sichergestellt wäre, dass die festgesetzten Gebühren bzw. Kosten auch tatsächlich (und nicht nur lediglich theoretisch) vom zuständigen Sozialleistungsträger im Umfang ihrer Leistungsunfähigkeit übernommen werden (vgl. BayVGH, B.v. 2.11.2020 – 12 C 20.32011 – juris, Rn. 21). Der betroffene Personenkreis anerkannter (teilweise) mittelloser Flüchtlinge darf aufgrund der von Bund und Ländern gewählten Konstruktion der Finanzierung der Kosten der Unterbringung über staatliche (oder kommunale) Gebühren- bzw. Kostenfestsetzungen einerseits und eine nachfolgende Übernahme der Kosten durch die Sozialleistungsträger andererseits nicht schlechter stehen, als er stünde, wenn er die Unterkunft unmittelbar vom Beklagten im Rahmen eines privatrechtlichen Rechtsverhältnisses angemietet und vom zuständigen Sozialleistungsträger die Übernahme dieser existenzsichernden Kosten durch unmittelbare Auszahlung des Mietzinses an den Beklagten (vgl. § 22 Abs. 7 Satz 1 SGB II) begehrt hätte (vgl. BayVGH, B.v. 2.11.2020 – 12 C 20.32011 – juris, Rn. 21; B.v. 20.4.2023 – 12 C 23.563 – juris, Rn. 8).
9
In diesem Fall wäre mangels Sozialwidrigkeit der zu Recht in Anspruch genommenen Leistungen eine Rückforderung nach §§ 34 SGB II, 103 SGB XII auch im Falle späterer Überwindung der Bedürftigkeit ausgeschlossen (vgl. statt aller Bieback, in: Grube/ Warendorf/Flint, SGB XII, 7. Aufl. 2020, § 103 Rn. 9); ebenso wenig kann sie in dem von Bund und Ländern stattdessen gewählten Modell der Gebühren- bzw. Kostenerhebung mit nachfolgender Übernahme durch die jeweiligen Sozialleistungsträger in Betracht kommen (vgl. BayVGH, B.v. 2.11.2020 – 12 C 20.32011 – juris, Rn. 22; B.v. 20.4.2023 – 12 C 23.563 – juris, Rn. 9). Andernfalls würden beide Sachverhalte und Personengruppen ohne sachlich-rechtfertigenden Grund unter Verstoß gegen Art. 3 Abs. 1 GG ungleich behandelt. Anerkannte (teilweise) mittellose Flüchtlinge können daher durch eine (nachträgliche) Festsetzung von Unterbringungsgebühren oder -kosten im Umfang ihrer Leistungsunfähigkeit nicht in einer Art fortwährenden (persönlichen) „Nachhaftung“ für rechtmäßig in Anspruch genommene existenzsichernde Fürsorgeleistungen gehalten werden (vgl. BayVGH, B.v. 2.11.2020 – 12 C 20.32011 – juris, Rn. 22; B.v. 20.4.2023 – 12 C 23.563 – juris, Rn. 9).
10
Eine Verteilung der Kosten auf längere Zeiträume kommt nicht in Betracht. Gebührennachforderungen sind im Rahmen des § 22 Abs. 1 Satz 1 SGB II in dem Monat, in dem sie (nachträglich) konkret fällig gestellt werden als Bedarf zu berücksichtigen und anzuerkennen, soweit der Gebührentatbestand durch die frühere Nutzung der Unterkunft entstanden ist und der leistungsberechtigte Schuldner – wie regelmäßig – den davon abweichenden Zeitpunkt der Fälligkeit der Gebührenforderung nicht beeinflussen konnte (vgl. BSG, U.v. 19.5.2021 – B 14 AS 19/20 R – juris, Rn. 21 ff. u. Rn. 29 a.E.; BayVGH, B.v. 20.4.2023 – 12 C 23.563 – juris, Rn. 10).
11
Zu Recht weist der Beklagte stets darauf hin, dass auch Personen, die insbesondere aufgrund von Erwerbstätigkeit grundsätzlich unabhängig von SGB II-Leistungen sind, im Falle der Erhebung von Gebühren Anspruch auf Leistungen des Sozialleistungsträgers (Jobcenters) haben (vgl. Bl. 32, 36, 277 u. 337 d. Behördenakte). Hilfebedürftigkeit im Sinne des SGB II kann sich nicht nur für laufende Gebühren, sondern – gegebenenfalls auch einmalig – im Falle der Erhebung von Gebühren für vergangene Zeiträume ergeben und damit zur (zumindest teilweisen) Übernahme durch das Jobcenter führen.
12
Der seitens der Betroffenen regelmäßig zu Recht erhobene Einwand der Existenzgefährdung ist daher bereits als (potentiell) rechtsvernichtende Einwendung von Amts wegen im Rahmen der Kostenfestsetzung und -fälligstellung zu berücksichtigen (vgl. BayVGH, B.v. 2.11.2020 – 12 C 20.32011 – juris, Rn. 23; B.v. 20.4.2023 – 12 C 23.563 – juris, Rn. 11). Auch das Bayerische Staatsministerium für Arbeit und Sozialordnung, Familie und Integration hat insoweit bereits mit Schreiben vom 21. November 2017 (S. 2) an die betroffenen Gebührenschuldner wegweisend folgendes ausgeführt:
13
„Eine finanzielle Überforderung der Gebührenschuldner, vor allem durch die sukzessive erfolgende Gebührenerhebung für vergangene Zeiträume (und damit hoher Gebührenschulden), ist unbedingt zu vermeiden.“
14
Dieses Schreiben vom 21. November 2017 ist als Anlage 2 Bestandteil des Rundschreibens des Bayerischen Staatsministeriums für Arbeit und Sozialordnung, Familie und Integration vom 23. November 2017 – I3/6074.04-1/391 – betreffend den Vollzug des SGB II – Bedarfe für Unterkunft und Heizung – Allgemeine Anspruchsvoraussetzungen, Leistungsbedingungen und Verfahrensfragen. Bei diesem Rundschreiben und dem ihm als Anlage 2 beigefügten Schreiben vom 21. November 2017 handelt es sich um Verwaltungsvorschriften, die als Ausdruck einer antizipierten Verwaltungspraxis über Art. 3 GG mittelbare rechtliche Außenwirkung entfalten (vgl. BVerwGE 104, 203 [223]; 118, 379 [383]; siehe auch Sachs, in: Stelkens/Bonk/Leonhardt, VwVfG, 9. Aufl. 2018, § 40 Rn. 105 ff.). Beim Schreiben vom 21. November 2017 (Anlage 2) kommt aufgrund der ausdrücklichen Adressierung an die Gebührenschuldner zusätzlich der Gesichtspunkt des Vertrauensschutzes zum Tragen (vgl. BVerwGE 104, 203 [223]; 148, 48 [74] Rn. 55). Dem betroffenen Personenkreis ist im Wege der „Selbstbindung der Verwaltung“ ausdrücklich zugesichert worden, dass eine finanzielle Überforderung – insbesondere für vergangene Zeiträume – „unbedingt vermieden“ wird. An dieser Zusicherung muss sich der Beklagte festhalten lassen. Dass der behördenintern zuständige Fachbereich „Integration“ aufgrund einer späteren Änderung der Geschäftsverteilung der Bayerischen Staatsregierung nicht mehr im Bayerischen Staatsministerium für Arbeit und Soziales, sondern im Bayerischen Staatsministerium des Innern ressortiert, ist insoweit ohne Bedeutung. Die eingetretene Bindungswirkung und das in Anspruch genommene Vertrauen bleiben von internen Zuständigkeitswechseln unberührt (vgl. BayVGH, B.v. 2.11.2020 – 12 C 20.32011 – juris, Rn. 26; B.v. 20.4.2023 – 12 C 23.563 – juris, Rn. 13).
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Ungeachtet dessen sind aufgrund des Sozialstaatsgebots und der verfassungsrechtlichen Garantie der Sicherung des Existenzminimums (Art. 1 Abs. 1 i.V.m. Art. 20 Abs. 1 GG) auch sachlich-rechtfertigende Gründe, die das inzwischen zuständige Bayerische Staatsministerium des Innern, für Sport und Integration in willkürfreier Weise berechtigen könnten (vgl. hierzu BVerwGE 104, 203 [223]), von der im Schreiben vom 21. November 2017 kundgetanen Verwaltungspraxis abzuweichen, nicht ersichtlich (vgl. BayVGH, B.v. 2.11.2020 – 12 C 20.32011 – juris, Rn. 27; B.v. 20.4.2023 – 12 C 23.563 – juris, Rn. 14).
16
Der Kläger kann sich daher – aller Wahrscheinlichkeit nach zumindest teilweise – auf die mit der Beschwerdeschrift erneut erhobene rechtsvernichtende Einwendung der Existenzgefährdung berufen. Der Beklagte hat diese aufgrund der im Schreiben vom 21. November 2017 eingegangenen Selbstbindung bereits von Amts wegen im Rahmen der Kostenfestsetzung und -fälligstellung zu berücksichtigen, indem er dem Kostenschuldner durch ein dem Festsetzungsbescheid beigefügtes Schreiben die ausdrückliche Befugnis einräumt, anstelle der geschuldeten Leistung – der Gebühren- bzw. Kostenforderung – eine andere Leistung – die Abtretung seiner Ansprüche gegenüber dem Sozialleistungsträger auf Übernahme der Kosten der Unterkunft – an Erfüllungs statt (vgl. zur Ersetzungsbefugnis und zur Leistung an Erfüllungs statt allgemein Grüneberg, BGB, 82. Aufl. 2023, § 262 Rn. 6 f. u. § 364 Rn. 1) zu erbringen (vgl. BayVGH, B.v. 2.11.2020 – 12 C 20.32011 – juris, Rn. 28; B.v. 20.4.2023 – 12 C 23.563 – juris, Rn. 15).
17
Das Schuldverhältnis zwischen dem Kläger als Schuldner der Kostenforderung und dem Beklagten als Gläubiger der Unterkunftskosten erlischt dadurch – zumindest zum Teil – bereits unmittelbar mit der Abtretung an Erfüllungs statt (vgl. Grüneberg, BGB, 82. Aufl. 2023, § 364 Rn. 1; Buck-Heeb, in: Erman, BGB, 16. Aufl. 2020, § 364 Rn. 5), nachdem zuvor der Rechtsboden für das Entstehen der Forderung gegenüber dem Sozialleistungsträger durch entsprechende Antragstellung bestellt wurde (vgl. BayVGH, B.v. 2.11.2020 – 12 C 20.32011 – juris, Rn. 29; B.v. 20.4.2023 – 12 C 23.563 – juris, Rn. 16). Dadurch wird dem Petitum des Bayerischen Staatsministeriums für Arbeit und Soziales, Familie und Integration im Schreiben vom 21. November 2017 sowie der dadurch begründeten Selbstbindung unmittelbar Rechnung getragen und zugleich sichergestellt, dass der anerkannte (teilweise) mittellose Flüchtling nicht unter Verletzung des Sozialstaatsprinzips und des verfassungsrechtlich garantierten Existenzminimums (Art. 1 Abs. 1 i.V.m. Art. 20 Abs. 1 GG) nachträglich mit Kosten jenseits seiner Leistungsfähigkeit belastet wird (vgl. BayVGH, B.v. 2.11.2020 – 12 C 20.32011 – juris, Rn. 29; B.v. 20.4.2023 – 12 C 23.563 – juris, Rn. 16).
18
Die Erfüllungswirkung der Abtretung an Erfüllungs statt ist als rechtsvernichtende Einwendung (vgl. hierzu allgemein Seiler, in: Thomas/Putzo, ZPO, 41. Aufl. 2020, Vorb. 253 Rn. 43) bereits anlässlich der Geltendmachung der Kostenfestsetzung zu berücksichtigen (vgl. BayVGH, B.v. 2.11.2020 – 12 C 20.32011 – juris, Rn. 29; B.v. 20.4.2023 – 12 C 23.563 – juris, Rn. 17). Der Beklagte machte sich eines widerrechtlichen Verhaltens schuldig, wenn er dem anerkannten (teilweise) mittellosen Flüchtling nicht die Möglichkeit eröffnete, die aus der nachträglichen Kostenfestsetzung resultierende Forderung – zumindest teilweise – durch Abtretung der ihm gegen den Sozialleistungsträger zustehenden Ansprüche auf Übernahme der Kosten der Unterkunft zu befriedigen (vgl. BayVGH, B.v. 02.11.2020 – 12 C 20.32011 – juris, Rn. 29; B.v. 20.4.2023 – 12 C 23.563 – juris, Rn. 17).
19
Der Senat hat bereits in der Vergangenheit mehrfach ausdrücklich darauf hingewiesen, dass die für mittellose Flüchtlinge in den Entscheidungen vom 2. Dezember 2020 – 12 C 20.32011 – juris – und 20. April 2023 – 12 C 23.563 – juris – aufgestellten Grundsätze für infolge Erwerbstätigkeit bereits (teilweise) leistungsfähige anerkannte Flüchtlinge im Umfang ihrer weiterhin fortbestehenden Leistungsunfähigkeit entsprechend gelten. Dem ist nichts hinzuzufügen.
20
Die Zentrale Gebührenabrechnungsstelle Bayern hat die rechtsunkundigen Betroffenen deshalb sachverständig zu beraten und zu unterstützen (vgl. Art. 25 Abs. 1 und 2 BayVwVfG) und ihnen gegebenenfalls ein Abtretungsformular zu übersenden, nach dessen Unterzeichnung die Gebührenforderung – zumindest teilweise – im Umfang der gemeinsam mit dem jeweils zuständigen Sozialleistungsträger (Jobcenter) auf der Grundlage der Entscheidung des Bundessozialgerichts (U.v. 19.5.2021 – B 14 AS 19/20 R – juris) festzustellenden Bedürftigkeit erlischt.
21
Eine solche Abtretung von Sozialansprüchen ist gemäß § 53 Abs. 2 Nr. 1 SGB I ausdrücklich zulässig. Nach dieser Vorschrift können Ansprüche auf Geldleistungen (Kosten der Unterkunft gegenüber dem Sozialleistungsträger) zur Erfüllung von Ansprüchen auf Erstattung von Aufwendungen (Kostenforderung des Beklagten für die bereits erfolgte Unterbringung) übertragen werden, sofern diese – wie hier – im Vorgriff auf fällig gewordene Sozialleistungen zu einer angemessenen Lebensführung (Vermeidung von Obdachlosigkeit) gewährt wurden (vgl. BayVGH, B.v. 2.11.2020 – 12 C 20.32011 – juris, Rn. 30). Das Ausfallrisiko geht damit entsprechend den Vorgaben des Sozialstaatsprinzips und der verfassungsrechtlichen Gewährleistung des Existenzminimums (Art. 1 Abs. 1 i.V.m. Art. 20 Abs. 1 GG) im Umfang der Leistungsunfähigkeit der Betroffenen unmittelbar mit der Abtretung auf den Beklagten über (vgl. BayVGH, B.v. 2.11.2020 – 12 C 20.32011 – juris, Rn. 30; B.v. 20.4.2023 – 12 C 23.563 – juris, Rn. 18), so wie es den Intentionen des Schreibens des Bayerischen Staatsministeriums für Arbeit und Soziales, Familie und Integration vom 21. November 2017 entspricht: „Eine finanzielle Überforderung der Gebührenschuldner, vor allem durch die sukzessive erfolgende Gebührenerhebung für vergangene Zeiträume (und damit hoher Gebührenschulden), ist unbedingt zu vermeiden.“
22
Sollte sich erweisen, dass bei rechtzeitiger sachverständiger Beratung durch die Gebührenabrechnungsstelle ein zumindest teilweises Eintreten des Sozialleistungsträgers hätte bewirkt werden können, wird regelmäßig von der Erlassregelung des § 23 Abs. 2 DVAsyl Gebrauch zu machen sein. Diese Regelung sieht ausdrücklich vor, dass Gebühren und Auslagen (Kosten) nicht erhoben werden, soweit deren Erhebung unbillig wäre (vgl. im Übrigen auch bereits BayVGH, B.v. 2.11.2020 – 12 C 20.32011 – juris, Rn. 32; B.v. 20.04.2023 – 12 C 23.563 – juris, Rn. 18).
23
Durch die Abtretung des Anspruchs der (teilweise) mittellosen Flüchtlinge gegenüber dem Sozialträger erhält der Beklagte, namentlich die Regierung von Unterfranken – Zentrale Gebührenabrechnungsstelle Bayern – in 97638 Mellrichstadt, Gelegenheit, die Kostenforderung im Umfang der Leistungsunfähigkeit des Kostenschuldners unmittelbar beim zuständigen Sozialleistungsträger geltend zu machen und sich gegebenenfalls mit diesem über die Angemessenheit der Forderung (vgl. § 22 Abs. 1 Satz 1, 2. Hs. SGB II) aus abgetretenem Recht gerichtlich auseinanderzusetzen (vgl. BayVGH, B.v. 2.11.2020 – 12 C 20.32011 – juris, Rn. 33; B.v. 20.4.2023 – 12 C 23.563 – juris, Rn. 19).
24
b) Die Zentrale Gebührenabrechnungsstelle Bayern wird dem rechtsunkundigen Kläger erneut (vgl. bereits Bl. 339 d. Behördenakte) eine Abtretungserklärung übersenden und nach deren Unterzeichnung auf der Grundlage der bereits unter dem 4. Oktober 2022 (vgl. Bl. 331 d. Behördenakte) für den Kläger erfolgten Antragstellung beim Jobcenter des Landkreises H* … in Anwendung der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (vgl. U.v. 19.5.2021 – B 14 AS 19/20 R – juris) gemeinsam mit dem Jobcenter klären, inwieweit eine Kostenübernahme in Betracht kommt.
25
Zu Recht weist die Gebührenabrechnungsstelle darauf hin, dass auch Personen, die – wie der Kläger – aufgrund von Erwerbstätigkeit grundsätzlich unabhängig von SGB II-Leistungen sind, im Falle der Erhebung von Gebühren Anspruch auf Leistungen des Sozialleistungsträgers (Jobcenter) haben (vgl. Bl. 32, 36, 277 u. 337 d. Behördenakte). Aufgrund der dann wirksam vorliegenden Abtretungserklärung des Klägers ist die (gegebenenfalls auch gerichtliche) Durchsetzung der abgetretenen Ansprüche gegenüber dem Jobcenter des Landkreises H* … alleinige Angelegenheit des Kostengläubigers – des Freistaats Bayern – (vgl. BayVGH, B.v. 2.12.2020 – 12 C 20.32011 – juris, Rn. 33; B.v. 20.4.2023 – 12 C 23.563 – juris, Rn. 19 u. 23).
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Hilfebedürftigkeit im Sinne des SGB II kann sich nicht nur für laufende Gebühren, sondern – gegebenenfalls auch einmalig – im Falle der Erhebung von Gebühren für vergangene Zeiträume ergeben und damit zur (zumindest teilweisen) Übernahme durch das Jobcenter führen. Die Klärung dieses Rechtsverhältnisses ist nach Vorliegen der Abtretungserklärung des Klägers aufgrund der mit dieser verbundenen Wirkung als Leistung an Erfüllung statt vorgreiflich, da diese – jedenfalls zumindest teilweise – zum Erlöschen des Gebührenschuldverhältnisses zwischen dem Kläger und dem Beklagten führt.
27
Der vorliegende Rechtsstreit wird deshalb – nach Vorliegen der Abtretungserklärung des Klägers – gemäß § 94 VwGO vorläufig auszusetzen sein, bis die Frage der Kostenübernahme zwischen dem Beklagten und dem Sozialleistungsträger – dem Jobcenter des Landkreises H* … – auf der Grundlage der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (vgl. U.v. 19.5.2021 – B 14 AS 19/20 R – juris) geklärt ist. Insoweit sind bereits Rechtsmittel des Klägers anhängig, in deren weitere Verfolgung der Beklagte nach erfolgter Abtretung im Wege eines Parteibeitritts eintreten kann.
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In diesem Zusammenhang fällt auf, dass zur Entscheidung des Senats gelangende Streitfälle nahezu ausschließlich Sachverhalte betreffen, in welchen der Kosten- und Gebührenschuldner nach einer Erstunterbringung in Bayern inzwischen mit der Folge des Wechsels der Zuständigkeit des Leistungsträgers in andere Bundesländer verzogen ist und die dortigen Jobcenter – anders als die bayerischen – nachträglichen Gebührenforderungen aus abgetretenem Recht „reserviert“ gegenüberstehen. Insoweit erscheint dem Senat eine Kontaktaufnahme mit anderen Bundesländern auf Ministerialebene zur Klärung der Eintrittspflicht außerbayerischer Sozialleistungsträger geboten. Keinesfalls dürfen die rechtsunkundigen Betroffenen durch eine Weigerung außerbayerischer Jobcenter, ihrer Eintrittspflicht zu genügen, „im Regen stehen gelassen werden“.
29
Sollte sich insoweit ergeben, dass bei rechtzeitiger sachverständiger Beratung des Klägers durch die Gebührenabrechnungsstelle bzw. ein entsprechendes zeitnahes Tätigwerden der Ministerialebene ein zumindest teilweises Eintreten des (außerbayerischen) Sozialleistungsträgers hätte bewirkt werden können, dürfte von der Erlassregelung des § 23 Abs. 2 DVAsyl Gebrauch zu machen sein.
30
Der Kläger kann die Kosten der Prozessführung nach seinen persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen unter Berücksichtigung der im Raum stehenden erheblichen Gebührennachforderungen nicht aufbringen; ihm ist deshalb Prozesskostenhilfe unter Anwaltsbeiordnung zu bewilligen (§ 166 Abs. 1 VwGO i.V.m. §§ 114 Abs. 1, 121 Abs. 2 ZPO).
31
3. Einer Kostenentscheidung bedarf es vorliegend nicht, da das Verfahren gemäß § 188 Satz 2 VwGO gerichtskostenfrei ist (vgl. BayVGH, B.v. 14.03.2022 – 12 C 22.170 – juris, Rn. 10) und Kosten im Beschwerdeverfahren nach § 166 VwGO i.V.m. § 127 Abs. 4 ZPO nicht erstattet werden.
32
4. Diese Entscheidung ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO).