Titel:
Erfolgloser Eilantrag, Nachweis eines ausreichenden Masernschutzes bei Schülern, Verfassungswidrigkeit von § 20 Abs. 8 ff. IfSG nicht evident
Normenketten:
VwGO § 80 Abs. 5
IfSG § 20 Abs. 9 S. 1 Nr. 2
IfSG § 20 Abs. 12 S. 1 Nr.1
IfSG § 20 Abs. 13
GG Art. 2 Abs. 2 S. 1
GG Art. 6 Abs. 2
GG Art. 3
Schlagworte:
Erfolgloser Eilantrag, Nachweis eines ausreichenden Masernschutzes bei Schülern, Verfassungswidrigkeit von § 20 Abs. 8 ff. IfSG nicht evident
Fundstelle:
BeckRS 2023, 18752
Tenor
I. Der Antrag wird abgelehnt.
II. Die Antragsteller haben die Kosten des Verfahrens zu tragen.
III. Der Streitwert wird auf 2.500,00 EUR festgesetzt.
Gründe
1
Die Antragsteller wenden sich im Rahmen des Eilrechtsschutzes gegen die sofortige Vollziehbarkeit einer Anordnung zur Vorlage von Nachweisen nach dem Masernschutzgesetz.
2
Der am … Oktober 2005 geborene Sohn der Antragsteller besucht derzeit die 11. Klasse des S…-F…-Gymnasiums in R… und wurde dort vor dem 1. März 2020 aufgenommen.
3
Mit Schreiben vom 5. August 2022 teilte die Schule dem Antragsgegner mit, dass kein Nachweis über einen ausreichenden Masernschutz gemäß § 20 Abs. 9 ff. Infektionsschutzgesetz (IfSG) erbracht wurde.
4
Mit Schreiben des Antragsgegners vom 25. August 2022 wurden die Antragsteller als Sorgeberechtigte gebeten, bis zum 27. September 2022 eine Impfbescheinigung oder einen Immunitätsnachweis gegen Masern oder ein ärztliches Zeugnis über eine medizinische Kontraindikation gegen die Masernimpfung oder eine Bestätigung der Schule vorzulegen, dass der Nachweis dort bereits vorgelegt wurde. In diesem Zusammenhang bot der Antragsgegner auch ein Beratungsgespräch an.
5
Die Antragsteller baten mit E-Mail vom … September 2022 um einen Beratungstermin zur Masernimpfung. Dieser wurde von den Antragstellern am … November 2022 wahrgenommen. Ergänzend beantwortete der Antragsgegner am 12. Dezember 2022 verschiedene Rückfragen der Antragsteller.
6
Mit Schreiben vom 12. Dezember 2022 wurden die Antragsteller mit Möglichkeit zur Stellungnahme bis zum 29. Dezember 2022 dazu angehört, dass der Antragsgegner beabsichtige, die Anforderung des Nachweises förmlich anzuordnen.
7
Mit Schreiben vom 28. Dezember 2022 beantragten die Antragsteller eine Verlängerung der Frist bis Ende März 2023. Der geforderte Nachweis wurde von den Antragstellern nicht vorgelegt.
8
Mit Ziffer 1 des streitgegenständlichen Bescheids vom 4. Januar 2023, zugestellt am 7. Januar 2023, forderte der Antragsgegner die Antragsteller auf, einen der folgenden Nachweise innerhalb eines Monats nach Bekanntgabe des Bescheides vorzulegen:
9
̶ Impfausweis bzw. Impfbescheinigung nach § 22 IfSG (§ 26 Abs. 2 S. 4 SGB V) mit Nachweis von insgesamt 2 Masern-Schutzimpfungen
10
̶ ärztliches Zeugnis über eine Immunität gegen Masern
11
̶ ärztliches Zeugnis darüber, dass das Kind aus medizinischen Gründen nicht oder erst später geimpft werden kann (Kontraindikation mit Angabe der Dauer)
12
̶ Bestätigung von einer zuvor besuchten, nach § 20 Abs. 8 IfSG betroffenen Einrichtung (z.B. Kindertagesstätte, Schule), dass der Nachweis dort bereits vorgelegt wurde.
13
Mit Schriftsatz vom 7. Februar 2023 erhob der Bevollmächtigte der Antragsteller Klage zum Bayerischen Verwaltungsgericht München (Az. M 26b K 23.563) gegen den Bescheid vom 4. Januar 2023 und beantragt zugleich im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes,
14
die aufschiebende Wirkung der Klage gegen den Bescheid vom 4. Januar 2023 anzuordnen.
15
Zur Begründung wird mit weiterem Schriftsatz vom 1. März 2023 im Wesentlichen ausgeführt, dass die Aufforderung zur Vorlage der Nachweise rechtswidrig sei. Die vom Antragsgegner zitierte Ermächtigungsgrundlage sei verfassungswidrig. Sie verletze die Antragsteller in ihrem Elternrecht aus Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG und den Sohn der Antragsteller in seinem Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG. Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 21. Juli 2022 (Az. 1 BvR 469/20), welche sich auf Kinder in Kindertageseinrichtungen beziehe, sei auf die Beurteilung von Nachweispflichten im Schulkontext nicht anwendbar. Aufgrund der allgemeinen Schulpflicht könnten sorgeberechtigte Eltern von Schülern im Gegensatz zu Eltern von Kindergartenkindern gerade nicht frei entscheiden, ob ihr Kind am Schulunterricht teilnimmt bzw. in einer Einrichtung betreut wird, sodass die Masernimpfungsnachweispflicht bei Schülern einen erheblich schwerwiegenderen Eingriff in die genannten Grundrechte darstelle als bei Kindergartenkindern. Die Nachweispflicht hinsichtlich schulpflichtiger Kinder verstoße deshalb gegen den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz. Im Hinblick auf beim Bundesverfassungsgericht anhängige Verfassungsbeschwerden von Eltern nachweispflichtiger Schüler (Az. 1 BvR 2700/20 und 1 BvR 438/21) werde beantragt, das Verfahren bis zu einer Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts auszusetzen. Das Interesse der Antragsteller an der Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage überwiege das Vollzugsinteresse des Antragsgegners. In diesem Zusammenhang sei zu berücksichtigen, dass sich der Sohn der Antragsteller in der unmittelbaren Vorbereitungsphase auf das Abitur befinde und dieses Jahr volljährig werde. Er werde daher nur noch kurze Zeit zur Schule gehen. Zudem sei seine schulische Entwicklung bereits durch die Corona-Pandemie und die hiermit verbundenen Maßnahmen bzw. den Online-Unterricht beeinträchtigt worden. Kleinkinder würden nicht in seiner Schule beschult. Auch eine Häufung von nicht geimpften Schwangeren sei in seiner Schule nicht zu erwarten. Das Risiko eines Kontakts mit Masern an der Schule des Sohnes der Antragsteller, einer Ansteckung und damit einer möglichen Verbreitung der Masern sei als gering einzustufen und müsse hinter dem erheblichen Risiko einer gesundheitsgefährdenden Nebenwirkung der Masernimpfung mit schwerwiegenden Folgen, zum Beispiel einer bisher nicht erkannten Allergie gegen Neomycin, Hühnereiweiß oder eines der im Beipackzettel benannten örtlichen Betäubungsmittel zurücktreten. Außerdem sei zu berücksichtigen, dass es keinen wissenschaftlichen Nachweis für die behauptete Schutzwirkung der Impfung gäbe. Das Ziel einer 95-prozentigen Immunisierung der Bevölkerung sei mit dem Impfstoff „Priorix“, den der Antragsgegner empfehle, nicht einmal theoretisch erreichbar, weil nach klinischen Studien mit Kindern im Alter von 12 Monaten bis zwei Jahren die Serokonversionsrate für Masern zwei Jahre nach der Grundimmunisierung lediglich 93,4% betrage. Für Jugendliche gebe es für diesen Impfstoff zudem keine speziellen Sicherheits- oder Schutzwirkungsstudien.
16
Der Antragsgegner äußerte sich mit Telefax vom 22. Februar 2023, stellte jedoch keinen Antrag.
17
Nach Hinweis des Gerichts auf die Formvorschrift des § 55d VwGO beantragte der Antragsgegner mit Schriftsatz vom 2. Mai 2023,
18
den Antrag abzulehnen.
19
Zur Begründung wird im Wesentlichen ausgeführt, dass die Ermächtigungsgrundlage für den erlassenen Bescheid weder offensichtlich rechtswidrig sei noch dass das private Interesse der Antragsteller das öffentliche Interesse an der sofortigen Vollziehung des Verwaltungsaktes überwiege. Die Rechtmäßigkeit der Ermächtigungsgrundlage habe das Bundesverfassungsgericht mit Beschluss vom 21. Juli 2022 (NJW 2022, 2904) entschieden. Aus der Tatsache, dass sich dieser Beschluss primär auf Kindertageseinrichtungen beziehe, könne kein Rückschluss auf eine mögliche Verfassungswidrigkeit der Nachweispflicht für Schulkinder gezogen werden. Insbesondere drohe schulpflichtigen Kindern kein Betreuungs- oder Betretungsverbot. Hinsichtlich des Ansteckungsrisikos im schulischen Bereich müsse berücksichtigt werden, dass es sich bei Masern um eine hochansteckende Viruserkrankung handele. Masernviren könnten noch zwei Stunden nach dem Verlassen der infizierten Person in der Raumluft nachgewiesen werden und so kontaktlos bzw. indirekt übertragen werden. Auch bei lediglich sequenzieller Nutzung derselben Schulräume (z.B. einer Sporthalle) könnten Masernviren zwischen Schülern verschiedener Schulklassen übertragen werden. Hinsichtlich der MMR-Impfung werde darauf hingewiesen, dass diese kein erhebliches Gesundheitsrisiko darstelle. Schwerwiegende Nebenwirkungen, wie zum Beispiel allergische Reaktionen, träten selten auf und häufige Nebenwirkungen, wie eine lokale Reaktion an der Einstichstelle oder Fieber und Müdigkeit, seien von kurzer Dauer und wenig beeinträchtigend. Die Komplikationen einer Maserninfektion seien deutlich häufiger und schwerwiegender als die Nebenwirkungen der Masernschutzimpfung. Die Masernschutzimpfung trage deshalb eher dazu bei, Fehlzeiten in der Schule zu vermeiden als diese zu verursachen. Es bestünden keine Zweifel an der Schutzwirkung und der Sicherheit des MMR-Impfstoffs „Priorix“. Der Impfstoff sei auch zur Erreichung des gesetzgeberischen Ziels, nämlich der Eliminierung von Masern, geeignet. Für die Beurteilung der Masern-Immunität könne nicht allein auf die von den Antragstellern thematisierten Serokonversionsraten abgestellt werden. Durch die Masernimpfung werde eine komplexe Immunantwort ausgebildet, die neben Antikörpern auch zu großen Teilen von T-Zellen getragen werde. Nach zwei Masernimpfungen könne auch bei Fehlen von bzw. grenzwertigen Antikörper-Titern ein Schutz gegen Masern mit hoher Wascheinigkeit angenommen werden und es werde keine dritte Masernimpfung empfohlen. Schließlich hätten die Antragsteller bzw. deren Sohn seit dem Inkrafttreten des Masernschutzgesetzes bzw. seit dem 31. Juli 2022 (Frist für die Vorlage eines Masernschutznachweises in der Schule) genügend Zeit für die Vorlage der Nachweise gehabt, sodass sie sich jetzt nicht mehr auf den verbliebenen Zeitanteil bis zum Abschluss des Gymnasiums ihres Sohnes berufen könnten.
20
Mit Schreiben vom 7. Juli 2023 wies das Gericht darauf hin, dass sich das streitgegenständliche Verfahren und das zugehörige Hauptsacheverfahren erledigt hätten, weil das gemeinsame Kind der Antragsteller mutmaßlich zum … Juni 2023 als Abiturient aus der Schule entlassen worden sei.
21
Mit Schriftsatz vom 12. Juli 2023 teilte der Antragsgegner mit, dass nach Auskunft des S…-F…-Gymnasiums in R… bis dato keine Abmeldung des Sohnes der Antragsteller vorläge und er frühestens im Schuljahr 2023/2024 das Abitur erwerben werde. An der streitgegenständlichen Anordnung vom 4. Januar 2023 werde weiterhin festgehalten.
22
Zu den weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Gerichtsakte (auch im Verfahren M 26b K 23.563) und die Behördenakte Bezug genommen.
23
Der Antrag bleibt ohne Erfolg und ist daher abzulehnen.
24
1. Der Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung gemäß § 80 Abs. 5 der Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) ist zulässig, insbesondere statthaft, weil es sich bei der in Ziffer 1 des Bescheids getroffenen Anordnung um einen gemäß § 80 Abs. 2 Satz 1 Nummer 3 VwGO i.V.m. § 20 Abs. 12 Satz 7 IfSG kraft Gesetzes sofort vollziehbar Verwaltungsakt handelt (vgl. BayVGH, B.v. 7.7.2021 – 25 CS 21.1651 – juris Rn. 9; Gerhardt, IfSG, 6. Aufl. 2022, IfSG § 20 Rn. 124).
25
2. Der Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung hat in der Sache jedoch keinen Erfolg.
26
2.1 Nach § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO kann das Gericht der Hauptsache auf Antrag die aufschiebende Wirkung der Klage im Fall eines gesetzlichen Ausschlusses der aufschiebenden Wirkung (§ 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 VwGO) ganz oder teilweise anordnen. Hierbei hat das Gericht selbst abzuwägen, ob diejenigen Interessen, die für einen gesetzlich angeordneten sofortigen Vollzug des angefochtenen Verwaltungsakts streiten, oder diejenigen, die für die Anordnung der aufschiebenden Wirkung sprechen, höher zu bewerten sind. Im Rahmen dieser Interessenabwägung sind auch die Erfolgsaussichten des Rechtsbehelfs in der Hauptsache als wesentliches, aber nicht als alleiniges Indiz zu berücksichtigen (beispielsweise BVerwG B.v. 25.3.1993 – 1 ER 301/92 – NJW 1993, 3213, juris Rn. 3). Wird der in der Hauptsache erhobene Rechtsbehelf voraussichtlich erfolgreich sein, weil er zulässig und begründet ist, so wird im Regelfall nur die Anordnung der aufschiebenden Wirkung in Betracht kommen. Erweist sich dagegen der angefochtene Bescheid bei summarischer Prüfung als offensichtlich rechtmäßig, besteht ein öffentliches Interesse an seiner sofortigen Vollziehung und der Antrag bleibt voraussichtlich erfolglos. Sind die Erfolgsaussichten bei summarischer Prüfung als offen zu beurteilen, findet eine eigene gerichtliche Abwägung der für und gegen den Sofortvollzug sprechenden Interessen statt.
27
2.2 Nach diesen Maßstäben ist der Antrag, die aufschiebenden Wirkung der Klage anzuordnen, abzulehnen, da die Anordnung in Ziffer 1 des Bescheides vom 4. Januar 2023 voraussichtlich rechtmäßig ist und die Antragsteller nicht in ihren Rechten verletzt (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).
28
2.2.1 Rechtsgrundlage für die Anforderung, einen Nachweis nach § 20 Abs. 9 Satz 1 IfSG vorzulegen, ist § 20 Abs. 12 Satz 1 Nr. 1 i.V.m. § 20 Abs. 13 Satz 1 IfSG.
29
Danach haben Personen, die in Gemeinschaftseinrichtungen nach § 33 Nr. 1 bis 3 IfSG betreut werden, dem Gesundheitsamt, in dessen Bezirk sich die jeweilige Einrichtung befindet, auf Anforderung einen Nachweis nach § 20 Abs. 9 Satz 1 IfSG vorzulegen (§ 20 Abs. 12 Satz 1 Nr. 1 IfSG). Soweit – wie hier – die verpflichtete Person minderjährig ist, hat derjenige für die Einhaltung der diese Person nach den Absätzen 9 bis 12 treffenden Verpflichtungen zu sorgen, dem die Sorge für diese Person zusteht (§ 20 Abs. 13 Satz 1 IfSG). Dabei hat der Gesetzgeber mit § 20 Abs. 13 Satz 1 IfSG nicht nur eine Vertretung des Kindes durch den Personensorgeberechtigten, sondern eine Übertragung der Verpflichtung auf den Sorgeberechtigten statuiert (BayVGH, B.v. 6.10.2021 – 25 CE 21.2383 – juris Rn. 8). Maßgeblicher Zeitpunkt für die Beurteilung der Sach- und Rechtslage ist dabei der Zeitpunkt des Erlasses des streitgegenständlichen Bescheids (BayVGH, B.v. 7.7.2021 – 25 CS 21.1651 – juris Rn. 11).
30
2.2.2 Bei summarischer Prüfung liegen diese Voraussetzungen vor.
31
Der siebzehnjährige Sohn der Antragsteller besucht das S…-F…-Gymnasium in R… und wird daher in einer Gemeinschaftseinrichtung nach § 33 Nr. 3 IfSG (Schulen und sonstige Ausbildungseinrichtungen) im Bezirk des Antragsgegners betreut.
32
Einen Nachweis im Sinne des § 20 Abs. 9 Satz 1 IfSG haben die Antragsteller nicht vorgelegt.
33
2.2.3 Die von den Antragstellern geltend gemachte Verfassungswidrigkeit der geforderten Nachweispflicht nach § 20 Abs. 8 ff. IfSG ist jedenfalls nicht evident, so dass die Nichtanwendung dieser Vorschriften im Eilverfahren nicht in Betracht kommt (ebenso BayVGH, B.v. 7.7.2021 – 25 CS 21.1651 – juris Rn. 10; VG Ansbach, B.v. 5.11.2021 – AN 18 S 21.1884 – juris Rn. 28/29; VG Bayreuth B. v. 14.11.2022 – 7 S 22.1038, juris Rn. 42).
34
Im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes sind an die Nichtanwendung eines formellen Bundesgesetzes mit Blick auf das in Art. 100 Abs. 1 GG normierte Verwerfungsmonopol des Bundesverfassungsgerichts hohe Anforderungen zu stellen. Diese Vorschrift verpflichtet ein Fachgericht, das ein Gesetz, auf dessen Gültigkeit es bei der Entscheidung ankommt, für grundgesetzwidrig hält, dazu, das bei ihm geführte Verfahren auszusetzen und die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts einzuholen. Die Vorlagepflicht des Art. 100 Abs. 1 GG jedoch kann in Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes in Konflikt mit der Gewährung des durch Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG garantierten effektiven Rechtsschutzes geraten, weshalb die Fachgerichte nicht daran gehindert sind, auf der Grundlage ihrer Rechtsauffassung vorläufigen Rechtsschutz zu gewähren, wenn dies nach den Umständen des Falls im Interesse eines effektiven Rechtsschutzes geboten erscheint und die Entscheidung in der Hauptsache dadurch nicht vorweggenommen wird (BVerfG, B.v. 24.6.1992 – 1 BvR 1028/91 – NJW 1992, 2749/2750). Erforderlich für die Nichtanwendung einer als verfassungswidrig erachteten Norm im Eilverfahren ist die Evidenz der Verfassungswidrigkeit (BayVGH, a.a.O.; OVG Lüneburg, B.v. 13.9.2017 – 7 ME 77/17 – juris Rn. 5), die im vorliegenden Fall nicht gegeben ist.
35
Die vom Bundesverfassungsgericht in seiner Entscheidung vom 21. Juli 2022 (1 BvR 470/20, BeckRS 2022, 20406) zur Nachweispflicht für Kinder in Kindertageseinrichtungen im Vorschulalter angeführten Erwägungen lassen sich weitgehend auf den vorliegenden Fall übertragen. In beiden Fällen muss das verfolgte Ziel des Gemeinschaftsschutzes vor Maserninfektionen (BVerfG, a.a.O., Rn. 106) mit dem Recht der Eltern aus Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG (BVerfG, a.a.O. Rn. 66 ff.) in Ausgleich gebracht werden. Zwar kann der Nachweispflicht bei schulpflichtigen Kindern anders als bei Kindern im Vorschulalter nicht dadurch begegnet werden, dass die Kinder die Gemeinschaftseinrichtung nicht besuchen, was einerseits die Eingriffsintensität erhöht. Anderseits dürfen schulpflichtige Kinder die Schule auch bei fehlendem Nachweis – anders als Kinder im Vorschulalter die Kindertageseinrichtungen – besuchen. Durch die bei Schulkindern bestehenbleibende Beschulung und schulische Betreuung fällt der Eingriff in das elterliche Recht auf Pflege und Erziehung (Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG; vgl. hierzu BVerfG, a.a.O, Rn. 66 ff.) damit andererseits aber auch geringer aus als bei Vorschulkindern, bei denen die Beibringung eines Masernschutznachweises grundsätzlich Voraussetzung für die Wahrnehmung des staatlichen Betreuungsangebots ist, so dass die Eingriffsintensität bei Schulkindern in der Summe jedenfalls nicht deutlich höher als bei Vorschulkindern ausfällt. Angesichts des mit dem Masernschutzgesetzes verfolgten Zwecks, durch die Schutzimpfungen eine Infektion mit hochansteckenden Masern sowie die mit schweren Komplikationen bis hin zu Todesfällen verlaufenden Masernerkrankungen zu verhindern (vgl. BT-Drs. 19/13452, S. 16), kann daher bei Schulkindern nicht von einer evidenten Verfassungswidrigkeit der maßgeblichen Vorschriften ausgegangen werden.
36
Dem von den Antragstellern gestellten Antrag auf Aussetzung des Verfahrens bis zu einer Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts der vom Bevollmächtigten der Antragspartei in der Antragsschrift genannten Verfahren wird nicht entsprochen, da dies zu einer nicht absehbaren Verzögerung des Verfahrens führen würde.
37
2.2.4 Der angegriffene Bescheid erweist sich auch im Übrigen als rechtmäßig.
38
Sofern die Antragsteller vortragen lassen, dass das Risiko eines Kontaktes mit Masern an der Schule ihres Sohnes, einer Ansteckung und damit einer möglichen Verbreitung als gering einzustufen sei, so handelt es sich um eine nicht belegte Behauptung, die vom erkennenden Gericht nicht nachvollzogen werden kann. Ob in der Schule des Kindes der Antragsteller wenige oder viele Personen sind, die aufgrund von Kontraindikationen nicht geimpft werden können, dürfte sich ebenfalls der Kenntnis der Antragsteller entziehen.
39
Soweit die Antragsteller sinngemäß argumentieren (E-Mail vom … Dezember 2022 an das Gesundheitsamt), dass die absolute Anzahl an Masern-Infektionen im Landkreis R… bzw. in Deutschland so gering sei, dass eine Impfung ihres Sohnes mit eventuellen Nebenwirkungen nicht gerechtfertigt sei, führt dies ebenfalls zu keinem anderen Ergebnis. Die Antragsteller verkennen hier nämlich, dass die aktuell vergleichsweise geringen Infektionszahlen nicht den Schluss zulassen, dass Impfungen nunmehr überflüssig seien. Vielmehr ist dies das Ergebnis weltweit jahrzehntelang vorgenommener Schutzimpfungen gegen Masern (sogenanntes „Präventionsparadox“). Vor Einführung der Impfungen gegen Masern zu Beginn der 1960er Jahre wurden Masernepidemien alle zwei bis drei Jahre beobachtet. Jährlich traten weltweit geschätzt zwei bis drei Millionen masernbedingte Todesfälle auf. Schätzungen ergaben, dass allein zwischen den Jahren 2002 und 2017 weltweit rund 21 Millionen Todesfälle durch Impfungen gegen Masern verhindert werden konnten (https://www.rki.de/DE/Content/Infekt/EpidBull/Merkblaetter/Ratgeber_Masern.html, Abschnitt „Vorkommen“, abgerufen am 20. Juli 2023).
40
Sofern die Antragsteller in allgemeiner Form Bedenken hinsichtlich der Wirksamkeit und Sicherheit von Impfungen gegen Masern vortragen, teilt das Gericht diese nicht; diesbezüglich wird auf die zutreffenden Ausführungen des Antragsgegners und auf die vom Robert Koch-Institut (RKI) sowie vom Paul-Ehrlich-Institut (PEI) der Öffentlichkeit zur Verfügung gestellten Informationen verwiesen (https://www.rki.de/DE/Content/Infekt/EpidBull/Merkblaetter/Ratgeber_Masern.html, Abschnitt „1. Präventive Maßnahmen“; Mentzer, Meyer, Keller-Stanislawski: „Sicherheit und Verträglichkeit von monovalenten Masern- und kombinierten Masern-, Mumps-, Röteln- und Varizellenimpfstoffen“, Bundesgesundheitsblatt 2013, 56:1253-1259, verfügbar unter https://www.pei.de/SharedDocs/Downloads/wiss-publikationen-volltext/bundesgesundheitsblatt/2013/2013-sicherheit-impfstoffe-masern-mumps-roeteln.pdf; abgerufen am 20. Juli 2023). Das Gericht sieht keinen Anlass, an der Richtigkeit dieser Information zu zweifeln.
41
Auch das Argument der Antragsteller, dass deren Sohn die Schule lediglich noch kurze Zeit besuche, die von ihm ausgehende Infektionsgefahr deshalb gering sei und die Anordnung bereits aus diesem Grund unverhältnismäßig sei, kann nicht überzeugen. Angesichts der verbleibenden Schulzeit von über einem Jahr nach Bescheiderlass besteht sowohl für das Kind der Antragsteller als auch für dessen Mitschüler ein hinreichendes Infektionsrisiko mit Masern. Zum anderen wird verkannt, dass die vom Gesetzgeber erwünschte Schutzwirkung der Masernimpfung nicht mit dem Verlassen der Schule bzw. Gemeinschaftseinrichtung wegfällt, sondern auch zukünftig – im Idealfall lebenslang – anhält und die Weiterverbreitung der Masernviren in der Gesellschaft verhindert. Letzteres gilt umso mehr, als eines der Ziele des Masernschutzgesetzes die vollständige Eliminierung der Masern ist, wofür eine ausreichend große Immunität in der (gesamten) Bevölkerung erforderlich ist (vgl. BT-Drs. 19/13452, Seite 1). Hinsichtlich des individuellen Schutzes des Sohns der Antragsteller ist ergänzend besonders darauf hinzuweisen, dass dessen Schutz mit zunehmendem Alter immer wichtiger wird, weil für Erwachsene ab 20 Jahren ein höheres Risiko besteht, im Rahmen einer Masernerkrankung Komplikationen zu erleiden (https://www.rki.de/DE/Content/Infekt/EpidBull/Merkblaetter/Ratgeber_Masern.html, Abschnitt „klinische Symptomatik“, abgerufen am 20. Juli 2023).
42
Schließlich lässt sich auch mit dem Argument, dass der Sohn der Antragsteller aufgrund möglicher Nebenwirkungen der Impfung in seiner Vorbereitung auf das Abitur beeinträchtigt wäre, die Rechtswidrigkeit der Nachweispflicht nicht herleiten. Dass beim Kind der Antragsteller eine schwere unerwünschte Wirkung der Impfung zu erwarten wäre, wurde bereits nicht substantiiert dargelegt. Da solche schweren Nebenwirkungen zudem sehr selten eintreten, kann ihnen im Rahmen der Abwägung auch nur ein geringes Gewicht zukommen. Hinsichtlich der häufigeren Nebenwirkungen der Impfung (Rötungen, Schwellungen, Schmerzen, Fieber etc.) ist darauf hinzuweisen, dass diese – sofern sie überhaupt eintreten – regelmäßig lediglich für ein bis drei Tage andauern (https://www.rki.de/DE/Content/Infekt/EpidBull/Merkblaetter/Ratgeber_Masern.html, Abschnitt „1. Präventive Maßnahmen“, abgerufen am 20. Juli 2023). Angesichts dessen, dass die verbleibende Zeit von Bescheiderlass bis zum Abitur mehr als ein Jahr beträgt und dass die Antragsteller durch entsprechende Terminierung der Impfung – insbesondere in der schulfreien Zeit – mögliche Ausfallzeiten des Sohnes in der Schule minimieren können, führt auch nicht die individuelle Situation der Antragsteller und ihres Sohnes zur Rechtswidrigkeit der behördlichen Maßnahme.
43
Eine Verletzung des Sohnes der Antragsteller in seinen Grundrechten aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG oder Art. 3 Abs. 1 GG ist vorliegend nicht zu beurteilen, da der Sohn der Antragsteller nicht Antragspartei ist.
44
2.2.5 Auch gegen die Frist zur Vorlage eines Nachweises innerhalb von einem Monat ab Bekanntgabe des Bescheides bestehen angesichts der mehrfach erfolgten Aufforderung zur Vorlage eines entsprechenden Nachweises im vorangegangenen Verwaltungsverfahren keine rechtlichen Bedenken.
45
Nach alledem war der Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der erhobenen Anfechtungsklage abzulehnen.
46
3. Die Kostenentscheidung ergibt sich aus §§ 154 Abs. 1, 159 VwGO.
47
4. Die Streitwertfestsetzung beruht auf §§ 53 Abs. 2 Nr. 1, 52 Abs. 2 GKG i.V.m. Nr. 1.1.3 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit. Im Hinblick darauf, dass die Antragsteller untereinander familiär verbunden sind und den streitgegenständlichen Bescheid, der beide Antragsteller als Adressaten ausweist, als Rechtsgemeinschaft bekämpfen, ist der für den Streitgegenstand angemessene Streitwert von 2.500,00 EUR nur einmal zu berücksichtigten (vgl. hierzu BayVGH, B.v. 28.10.2021 – 25 CE 21.2628 – juris Rn. 4).