Titel:
Standortbescheinigung für eine Mobilfunksendeanlage
Normenketten:
VwGO § 42 Abs. 2, § 113 Abs. 1 S. 1
VwVfG § 35
BEMFV § 3, § 4, § 5 Abs. 2
BImSchG § 22
Leitsätze:
1. Standortbescheinigung ist nicht als Allgemeinverfügung iSd § 35 S. 2 VwVfG zu qualifizieren und bedarf keiner öffentlichen Bekanntgabe nach § 41 Abs. 3 S. 2, Abs. 4 VwVfG. (Rn. 18 – 22) (redaktioneller Leitsatz)
2. Die nach § 2 der 26. BImSchV einschlägigen Grenzwerte verstoßen nicht gegen höherrangiges Recht in Gestalt einer staatlichen Schutzpflicht (Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG). (Rn. 30 – 37) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Drittanfechtungsklage gegen Standortbescheinigung für ortsfeste Funkanlage (Mobilfunkmast), Standortbescheinigung als Verwaltungsakt mit Drittwirkung, schädliche Umwelteinwirkung, Fortgeltung der Grenzwerte der 26. BImSchV, kein Verstoß gegen höherrangiges Recht, keine Rechtsverletzung durch Standortbescheinigung, Drittanfechtungsklage gegen Standortbescheinigung für ortsfeste Funkanlage, Mobilfunkmast
Rechtsmittelinstanz:
VGH München, Beschluss vom 21.11.2023 – 22 ZB 23.1522
Fundstelle:
BeckRS 2023, 18695
Tenor
I. Die Klage wird abgewiesen.
II. Die Kläger haben gesamtschuldnerisch die Kosten des Verfahrens zu tragen. Die Beigeladene trägt ihre außergerichtlichen Kosten selbst.
III. Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Die Kläger können die Voll- streckung durch Sicherheitsleistung in Höhe des zu vollstreckenden Betrages abwenden, wenn nicht die Beklagte vorher in gleicher Höhe Sicherheit leistet.
Tatbestand
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Die Kläger wenden sich gegen eine der Beigeladenen erteilte Standortbescheinigung für eine Mobilfunksendeanlage.
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1. Die Kläger sind Eigentümer des mit einem Wohnhaus bebauten Grundstücks Fl.Nr. …1/1 der Gemarkung M. (W. 6 E.).
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Mit Formblatt vom 10. August 2021 beantragte die Beigeladene bei der Bundesnetzagentur für Elektrizität, Gas, Telekommunikation, Post und Eisenbahnen (im Folgenden: Bundesnetzagentur) die Erteilung einer Standortbescheinigung für eine 33,85 m hohe, ortsfeste Funkanlage auf dem vom klägerischen Anwesen rund 210 m (Luftlinie) entfernten und im unbeplanten Außenbereich liegenden Grundstück Fl.Nr. …5/2 der Gemarkung M. Hinsichtlich der Einzelheiten des Vorhabens wird auf die mit dem Antrag eingereichten Unterlagen Bezug genommen.
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2. Am 11. August 2021 erteilte die Bundesnetzagentur die begehrte Standortbescheinigung für eine ortsfeste Funkanlage auf dem Grundstück Fl.Nr. …5/2 der Gemarkung M. Hiernach beträgt der standortbezogene Sicherheitsabstand (neben den für jede Systemantenne festgelegten systembezogenen, jeweils geringeren Sicherheitsabständen) bei einer Montagehöhe der Bezugsantenne über Grund von 31,60 m in Hauptstrahlrichtung 19,61 m und vertikal (90°) 5,72 m.
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Gegen die vorgenannte Standortbescheinigung ließen die Kläger mit Schreiben ihres Bevollmächtigten vom 9. August 2022 Widerspruch erheben. Hinsichtlich des Vortrags im Widerspruchsverfahren wird auf die Ausführungen im Schreiben des Klägerbevollmächtigten vom 9. August 2022 sowie auf den Inhalt der diesem beigefügten Anlagen verwiesen.
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Mit Widerspruchsbescheid vom 28. Oktober 2022 wies die Bundesnetzagentur den Widerspruch zurück. Zur Begründung führte sie im Wesentlichen aus, die in der angegriffenen Standortbescheinigung festgelegten Sicherheitsabstände seien auf Grundlage der nach § 3 der Verordnung über das Nachweisverfahren zur Begrenzung elektromagnetischer Felder (BEMFV) einzuhaltenden Grenzwerte, die sich ausweislich der derzeitigen wissenschaftlichen Erkenntnislage zum Schutz der menschlichen Gesundheit eigneten, überprüft worden. Dabei seien keine Fehler festgestellt worden. Eine öffentliche Bekanntgabe der Standortbescheinigung, bei der es sich nicht um eine Allgemeinverfügung handle, sei weder gesetzlich vorgesehen noch notwendig.
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Hinsichtlich des weiteren Inhalts wird auf die vorgenannte Standortbescheinigung vom 11. August 2021 sowie auf den Widerspruchsbescheid der Bundesnetzagentur vom 28. Oktober 2022, welcher dem Klägerbevollmächtigten ausweislich der in der Behördenakte befindlichen Postzustellungsurkunde am 29. Oktober 2022 zugestellt wurde, Bezug genommen.
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3. Mit Schriftsatz ihres Bevollmächtigten vom 28. November 2022, eingegangen bei Gericht am selben Tag, ließen die Kläger gegen die Standortbescheinigung vom 11. August 2021 in der Fassung des Widerspruchsbescheids vom 28. Oktober 2022 Klage erheben und beantragen,
Die Standortbescheinigung für den Standort …6 E. … …, Gemarkung M., Flurstück …5/2, Standortnummer … vom 11. August 2021 und der Widerspruchsbescheid vom 28. Oktober 2022 werden aufgehoben.
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Klagebegründend wurde im Wesentlichen vorgetragen, die Standortbescheinigung sei weder der Baugenehmigungsbehörde noch der Bevölkerung in Erlenbach am Main bekannt gegeben worden. Die Beigeladene habe sie erst im Laufe des gegen die Baugenehmigung gerichteten Klageverfahrens offengelegt. Da die Standortbescheinigung Regelungscharakter in Bezug auf die immissionsschutzrechtliche Zulässigkeit der Inbetriebnahme der Mobilfunkanlage entfalte und als immissionsschutzrechtliche Genehmigung eine unbestimmte Zahl an Nachbarn betreffe, die dadurch Gesundheitsgefahren ausgesetzt würden, stelle sie eine Allgemeinverfügung dar. Die bloße Mitteilung an den Anlagenbetreiber genüge nicht. Entsprechend der Vorgaben des § 41 Abs. 3 Satz 2 und Abs. 4 VwVfG bedürfe es vielmehr einer öffentlichen Bekanntgabe der Standortbescheinigung im Amtsblatt der Stadt Erlenbach am Main. Überdies seien die Sicherheitsabstände zum Schutz vor elektromagnetischen Feldern basierend auf den Grenzwerten des § 3 BEMFV unzureichend. Angesichts vorliegender Studien, welche die Beteiligung hochfrequenter elektromagnetischer Felder an einem beschleunigten Tumorwachstum bestätigten, müsse das Gesundheitsrisiko neu beurteilt werden. Aufgrund jüngst aufgeworfener und offener Fragen aus der Wissenschaft rate auch das Bundesamt für Strahlenschutz ausdrücklich zu einer Verringerung der individuellen Belastung unterhalb der geltenden Grenzwerte. Aus diesen Gründen werde der Gesetz- bzw. Verordnungsgeber mit den derzeit gültigen Grenzwerten seiner gesetzlichen Schutzpflicht nach § 22 BImSchG nicht mehr gerecht.
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4. Mit Schriftsatz ihres Bevollmächtigten vom 13. Dezember 2022 ließ die Beklagte beantragen,
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Zur Begründung wurde im Wesentlichen ausgeführt, die Klage sei unbegründet. Die Standortbescheinigung erweise sich sowohl in formeller als auch in materieller Hinsicht als rechtmäßig. Da diese einen Verwaltungsakt mit Drittwirkung darstelle und sie sich als Genehmigung an den Betreiber der Funkanlage richte, bestehe keine Pflicht zur öffentlichen Bekanntmachung. Die Beklagte habe die Standortbescheinigung erteilen müssen, weil der standortbezogene Sicherheitsabstand innerhalb des kontrollierbaren Bereichs liege (§ 5 Abs. 2 BEMFV) und es sich um eine gebundene Entscheidung handle. Der aktuellen obergerichtlichen Rechtsprechung zufolge eigneten sich die derzeit gültigen Grenzwerte der 26. BImSchV zum Schutz der Gesundheit von Personen vor elektromagnetischer Strahlung. Bei deren Einhaltung seien daher keine schädlichen Umwelteinwirkungen zu befürchten. Die Grenzwerte unterlägen auch einer kontinuierlichen Überwachung durch die Bundesregierung, die unter Beachtung aktueller wissenschaftlicher Erkenntnisse stets eine Pflicht zur Anpassung prüfe. Es bestehe daher kein Verstoß gegen höherrangiges Recht. Selbst wenn man zugunsten der Kläger unterstelle, dass die Grenzwerte zu hoch angesetzt seien, könne deren Rechtsverletzung durch die Standortbescheinigung hier ausgeschlossen werden. Denn diese seien auf ihrem 210 m von der Funkanlage entfernt liegenden Grundstück keinesfalls gesundheitlichen Risiken durch elektromagnetische Felder ausgesetzt.
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5. Mit Beschluss vom 28. November 2022 ist die Inhaberin der Standortbescheinigung zum Verfahren beigeladen worden. Diese hat sich im Verfahren weder schriftsätzlich geäußert noch einen eigenen Sachantrag gestellt.
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6. Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes sowie des Vorbringens der Beteiligten wird auf die Gerichtsakte im hiesigen Verfahren und auf die beigezogene Behördenakte sowie auf das Protokoll über die mündliche Verhandlung am 27. Juni 2023 Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
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Die Klage bleibt ohne Erfolg.
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Obgleich bestehender Zweifel kann vorliegend dahingestellt bleiben, ob die Kläger als Eigentümer des von der Funkanlage ca. 210 m entfernten Grundstücks die für die Zulässigkeit der Klage erforderliche Klagebefugnis nach § 42 Abs. 2 VwGO aufweisen, da die auf die Aufhebung der Standortbescheinigung vom 11. August 2021 in der Fassung des Widerspruchsbescheids vom 28. Oktober 2022 gerichtete statthafte Anfechtungsklage jedenfalls in der Sache unbegründet ist.
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Denn die Kläger werden durch die der Beigeladenen auf Grundlage der § 5 Abs. 1 und 2, § 4 Abs. 1 Satz 1, § 3 BEMFV erteilte Standortbescheinigung der Bundesnetzagentur vom 11. August 2021 in der Fassung des Widerspruchsbescheids vom 28. Oktober 2022 nicht in ihren Rechten verletzt (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).
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Die Kläger können sich vorliegend nicht mit Erfolg auf den gerügten Verfahrensfehler in Form der unterbliebenen öffentlichen Bekanntgabe der Standortbescheinigung berufen (1). Auch mit ihrem Vorbingen, die auf den Grenzwerten des § 3 BEMFV basierenden Sicherheitsabstände seien zum Schutz vor elektromagnetischen Strahlungen unzureichend, mit der Folge, dass der Verordnungsgeber seiner staatlichen Schutzpflicht nicht gerecht werde, dringen sie nicht durch (2.). Schließlich ist auch eine Rechtsverletzung durch die angegriffene Standortbescheinigung im vorliegenden Fall zu verneinen (3.).
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1. Die Standortbescheinigung ist nicht als Allgemeinverfügung im Sinne des § 35 Satz 2 VwVfG zu qualifizieren. Folglich dringen die Kläger mit ihrem Einwand, es liege ein zur formellen Rechtswidrigkeit der Bescheinigung führender Fehler durch eine unterbliebene, aber gemäß § 41 Abs. 3 Satz 2 und Abs. 4 VwVfG erforderliche öffentliche Bekanntgabe vor, nicht durch.
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Nach der Vorschrift des § 35 Satz 2 VwVfG ist eine Allgemeinverfügung ein Verwaltungsakt, der sich an einen nach allgemeinen Merkmalen bestimmten oder bestimmbaren Personenkreis richtet oder die öffentlich-rechtliche Eigenschaft einer Sache oder ihre Benutzung durch die Allgemeinheit betrifft.
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Der Einstufung einer Standortbescheinigung als Allgemeinverfügung im Sinne des § 35 Satz 2 Var. 1 VwVfG steht entgegen, dass diese gerade keine Regelung (verbindliche Rechtsfolge) gegenüber mehreren Personen trifft (vgl. Knauff in Schoch/Schneider, VwGO, 3. EL Stand: 08/2022, § 35 Rn. 201). Sie stellt der Sache nach eine Bescheinigung über die Zulässigkeit des Betriebs einer bestimmten Funkanlage an einem bestimmten Standort dar und hat die Funktion einer Betriebsfreigabe. Demzufolge handelt es sich um einen Verwaltungsakt mit Doppelwirkung (vgl. BayVGH, B.v.11.2.2022 – 1 CS 22.24 – juris Rn. 11; B.v. 19.10.2017 – 1 ZB 15.2081 – juris Rn. 6).
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Die den Betrieb der Funkanlage genehmigende Standortbescheinigung wird daher – anders als dies bei einer Allgemeinverfügung, die die öffentlich-rechtliche Eigenschaft einer Sache oder ihre Benutzung durch die Allgemeinheit betrifft (§ 35 Satz 2 Var. 2 und 3 VwVfG), der Fall sein mag – demjenigen erteilt, der sie beantragt und damit zum Ausdruck gebracht hat, die Funkanlage in Betrieb nehmen zu wollen. Dies zeigt auch die Formulierung des § 5 Abs. 4 Satz 1 BEMFV, wonach „dem Antragsteller“ unter bestimmten Voraussetzungen auch eine vorläufige Standortbescheinigung zu erteilen ist.
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Entgegen der klägerischen Ansicht ist eine öffentliche Bekanntgabe nach § 41 Abs. 3 Satz 2, Abs. 4 VwVfG daher nicht notwendig, zumal nach dem eindeutigen Wortlaut des § 41 Abs. 3 Satz 2 VwVfG („darf“) auch bei Vorliegen einer Allgemeinverfügung keine Pflicht zu einer solchen besteht.
23
Soweit die Kläger monieren, die bloße Mitteilung der Standortbescheinigung an den Anlagenbetreiber ohne deren Bekanntgabe an die betroffene Bevölkerung genüge nicht, berührt dies die Kläger nicht in ihren Rechten (vgl. VG Göttingen, U.v. 6.6.2019 – 4 A 345/17 – juris Rn. 30). Die Kläger haben als Drittbetroffene, denen die sie belastende Genehmigung nicht amtlich bekannt gegeben wurde, von der bestehenden unbefristeten Widerspruchsmöglichkeit Gebrauch gemacht, nachdem sie von der Standortbescheinigung Kenntnis erlangt haben (vgl. hierzu BVerwG, U.v. 12.12.2001 – 8 C 17/01 – juris Rn. 44; Wöckel in Eyermann, VwGO, 16. Aufl. 2022, § 70 Rn. 5). Die Beklagte hat den Widerspruch auch für zulässig erachtet (vgl. S. 3 des Widerspruchsbescheids v. 28.10.2022).
24
Infolgedessen ist eine zum Erfolg der vorliegenden Drittanfechtungsklage führende Rechtsverletzung der Kläger insoweit nicht gegeben.
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2. Auch eine Verletzung der drittschützenden Vorschrift des § 22 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 und Nr. 2 BImSchG, welche die Verhinderung bzw. Beschränkung von schädlichen Umwelteinwirkungen in Form von elektromagnetischen Strahlungen bezweckt (vgl. BayVGH, B.v. 8.12.2021 – 22 CS 21.2284 – juris Rn. 40), durch die streitgegenständliche Standortbescheinigung ist vorliegend nicht gegeben.
26
Zum einen liegen die zur Erteilung der Standortbescheinigung erforderlichen Voraussetzungen vor (2.1.). Zum anderen verstoßen die in § 2 i.V.m. der Anlage 1 der 26. BImSchV festgelegten Grenzwerte nicht gegen höherrangiges Recht, mit der Folge, dass die hierin festgelegten und vorliegend einschlägigen Grenzwerte weiterhin Geltung beanspruchen (2.2.).
27
2.1. Die in § 5 Abs. 2 BEMFV normierten Voraussetzungen für die Erteilung der gemäß § 4 Abs. 1 BEMFV erforderlichen Standortbescheinigung liegen vor.
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Nach § 5 Abs. 2 BEMFV hat die Bundesnetzagentur die Standortbescheinigung zu erteilen, wenn der zur Einhaltung der Grenzwerte nach § 3 BEMFV standortbezogene Sicherheitsabstand, welcher nach § 5 Abs. 1 BEMFV vorzugsweise rechnerisch oder auch messtechnisch nach DIN EN 50413 (Ausgabe August 2009) auf der Grundlage der systembezogenen Sicherheitsabstände ermittelt wird, innerhalb des kontrollierbaren Bereichs im Sinne des § 2 Nr. 7 BEMFV liegt.
29
Die Bundesnetzagentur hat in der nach § 5 Abs. 1 BEMFV vorgesehenen Weise einen standortbezogenen Sicherheitsabstand für den Gesamtstandort von 19,61 m in Hauptstrahlrichtung und von 5,72 m vertikal (90°) bei einer Montagehöhe der Bezugsantenne über Grund von 31,60 m ermittelt. Anhaltspunkte für eine fehlerhafte Berechnung der Sicherheitsabstände sind weder vorgetragen noch ersichtlich. Aufgrund der der Standortbescheinigung innewohnenden Bestätigung, dass außerhalb des vorgenannten standortbezogenen Sicherheitsabstands die für den Antennenbetrieb festgelegten Grenzwerte nach § 2 der 26. BImSchV i.V.m. § 3 BEMFV eingehalten sind, scheidet ein Verstoß gegen § 22 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 und Nr. 2 BImSchG aus, da sich das klägerische Grundstück in einer Entfernung von rund 210 m von der Funkanlage und damit weit außerhalb des standortbezogenen Sicherheitsabstands befindet (vgl. hierzu BayVGH, B.v. 8.12.2021 – 22 CS 21.2284 – juris Rn. 40 f.).
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2.2. Entgegen der klägerischen Ansicht beanspruchen die nach § 2 der 26.BImSchV vorliegend einschlägigen Grenzwerte weiterhin Geltung, da diese nicht gegen höherrangiges Recht in Gestalt einer staatlichen Schutzpflicht (Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG) verstoßen.
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Vorweg gilt es in diesem Zusammenhang zu berücksichtigen, dass dem Verordnungsgeber bei der Erfüllung seiner staatlichen Schutzpflicht aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG gerade vor dem Hintergrund (fortlaufender) wissenschaftlicher Erkenntnisse zu komplexen Gefährdungslagen und der Notwendigkeit der Berücksichtigung konkurrierender öffentlicher und privater Interessen ein weiter Einschätzungs-, Wertungs-, und Gestaltungsbereich zukommt. Infolgedessen kann eine Verletzung der staatlichen Schutzpflicht erst angenommen werden, wenn die öffentliche Gewalt Schutzvorkehrungen überhaupt nicht getroffen hat oder die ergriffenen Maßnahmen zur Erreichung des Schutzziels gänzlich ungeeignet oder völlig unzulänglich sind. Die in Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG wurzelnde Schutzpflicht verlangt von den Gerichten daher nicht, den Verordnungsgeber deshalb auf einer wissenschaftlich ungeklärten Tatsachengrundlage zur Herabsetzung der Grenzwerte zu verpflichten, weil nachteilige Auswirkungen von Immissionen auf die menschliche Gesundheit nicht ausgeschlossen werden können. Es ist vielmehr Sache des Verordnungsgebers, den wissenschaftlichen Erkenntnisfortschritt mit geeigneten Mitteln nach allen Seiten zu beobachten und zu bewerten, um gegebenenfalls weitergehende Schutzmaßnahmen treffen zu können. Folglich kann eine Verletzung seiner Nachbesserungspflicht gerichtlich erst dann festgestellt werden, wenn evident ist, dass eine ursprünglich rechtmäßige Regelung zum Schutz der Gesundheit auf Grund neuer Erkenntnisse oder einer veränderten Situation verfassungsrechtlich untragbar geworden ist (vgl. BVerfG, B.v. 28.2.2002 – 1 BvR 1676/01 – juris Rn. 11 ff.; B.v. 24.1.2007 – 1 BvR 382/05 – juris Rn. 18; BVerwG, U.v. 12.11.2020 – 4 A 13.18 – juris Rn. 44).
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Unter Berücksichtigung dieses vom Bundesverfassungsgericht aufgestellten Maßstabs geht die erkennende Kammer in Übereinstimmung mit der aktuellen obergerichtlichen Rechtsprechung davon aus, dass die im Rahmen der Novellierung der 26. BImSchV am 14. August 2013 festgesetzten Grenzwerte nicht aufgrund neuer verlässlicher wissenschaftlicher Erkenntnisse oder einer veränderten Situation evident untragbar geworden sind (vgl. BVerwG, U.v. 12.11.2020 – 4 A 13/18 – juris Rn. 44; U.v. 17.12.2013 – 4 A 1/13 – juris Rn. 51; BayVGH, B.v. 16.5.2023 – 22 ZB 22.1468 – juris Rn. 16; B.v. 24.5.2022 – 22 CS 22.711 – juris Rn. 30; B.v. 8.12.2021 – 22 CS 21.2284 – juris Rn. 43; NdsOVG, B.v. 17.1.2022 – 1 ME 142/21 – juris Rn. 21; OVG LSH, B.v.19.10.2021 – 1 MB 18/21 – juris Rn. 21).
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Das klägerische Vorbingen rechtfertigt keine hiervon abweichende Beurteilung.
34
Soweit die Kläger monieren, die in der Anlage 1 der 26. BImSchV aufgeführten Grenzwerte berücksichtigten nur thermische Wirkungen und vernachlässigten daher die in der Schweiz anerkannten athermischen Effekte und die damit einhergehenden gesundheitsschädlichen Auswirkungen in Gestalt eines durch elektromagnetische Felder bedingten beschleunigten Tumorwachstums und darüber hinaus im Widerspruchsverfahren unter Bezugnahme auf den der Widerspruchsbegründung beigefügten Bericht „Nichtigkeit der Anlage 1 der 26. BImSchV“, welcher auf einzelne Studien, Reviews und Mitteilungen Bezug nimmt (vgl. Bl. 3 f. der digitalen Behördenakte) vortragen, es gebe auch Hinweise auf Störungen des Immunsystems und des Hormonhaushalts sowie auf Herz-Kreislauferkrankungen, ist dieser Vortrag für die Annahme eines Verstoßes gegen die staatliche Schutzpflicht nicht ausreichend. Denn selbst wenn sich möglicherweise aus einigen von den zitierten, zumal nicht neuen, Studien – unter anderem „Mäusestudie“, „STOA-Studie“ (Health impact of 5G, Panel for the Future of Science and Technology, Juli 2021),“Schweizer Studienreview“ (Manmade Electromagnetic Fields and Oxidative Stress-Biological Effects and Consequences for Health, 6.4.2021) – Anhaltspunkte ableiten ließen, was hier jedoch ausdrücklich offen gelassen wird, dass über den derzeit geltenden Sicherheitsabstand (als Resultat der geltenden Grenzwerte) hinaus konkrete Gefahren für die menschliche Gesundheit durch den streitgegenständlichen Anlagentyp bestehen könnten, reicht dies nicht aus, um schon von einer für die Annahme einer Verletzung der staatlichen Schutzpflicht erforderlichen evidenten Missachtung verlässlicher gesicherter wissenschaftlicher Erkenntnisse durch die Beklagte zu sprechen. Ausschließlich das ist aber der vom Bundesverfassungsgericht aufgezeigte Maßstab. Gerade das Kriterium „gesicherte“ bzw. „verlässliche“ Kenntnisse erfordert letztlich denknotwendigerweise auch einen gewissen (Mindest-)Konsens bzw. einen jedenfalls im Ansatz vorhandenen (überwiegenden) gemeinsamen Nenner, wie er etwa bei thermischen Effekten schon besteht (vgl. BayVGH, B.v. 16.5.2023 – 22 ZB 22.1468 – juris Rn. 16).
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Die in dem der Widerspruchsbegründung beigefügten Bericht zitierten Studien, Warnhinweise und Stellungnahmen rechtfertigen allenfalls die Annahme, dass derzeit keine verlässlichen wissenschaftlichen Erkenntnisse über die seitens der Kläger ins Feld geführten gesundheitlichen Auswirkungen vorliegen. Hiervon gehen auch die Kläger aus, als sie klagebegründend vortragen, dass das Bundesamt für Strahlenschutz wegen „offener“ Fragen, die aus der Wissenschaft aufgeworfen werden, zu einer Verringerung der individuellen Belastung unterhalb der geltenden Grenzwerte rät (vgl. Bl. 3 der Gerichtsakte). Das Bestehen offener und gegebenenfalls klärungsbedürftiger Fragen in diesem Bereich genügt jedoch nicht, um von einer durch das Bundesverfassungsgericht geforderten evidenten Missachtung gesicherter wissenschaftlicher Erkenntnisse auszugehen.
36
Im Übrigen ist anzumerken, dass die Beklagte die Forschung zu gesundheitlichen Auswirkungen von elektromagnetischen Feldern aktiv begleitet und stetig auswertet. So weist sie unter anderem im Neunten Emissionsminderungsbericht der Bundesregierung vom 26. Februar 2021 (BT-Drs. 19/27327) darauf hin, dass auf Basis der neueren wissenschaftlichen Ergebnisse die geltenden Grenzwerte der 26. BImSchV die Bevölkerung ausreichend vor gesundheitlichen Auswirkungen der elektromagnetischen Strahlung schützen (vgl. BT-Drs. 19/27327, S. 14). Dass die Beklagte die über die anerkannten thermischen Wirkungen hinausgehenden athermischen Effekte und etwaige gesundheitliche Auswirkungen negiert, kann ebenfalls nicht angenommen werden. So stellt sie im Bericht über mögliche gesundheitliche Auswirkungen verschiedener Frequenzbereiche elektromagnetischer Felder vom 14. Februar 2023 (BT-Drs.: 20/5646) umfangreich den aktuellen Sachstand zu möglichen gesundheitlichen Risiken durch hochfrequente elektromagnetische Felder unter Auswertung der bestehenden wissenschaftlichen Erkenntnisse dar (vgl. BT-Drs.: 20/5646).
37
Letztlich zeigt der klägerische Vortrag allenfalls, dass hinsichtlich der Gefährlichkeit von elektromagnetischer Strahlung offene Fragen bestehen. Es mangelt jedoch an einem substantiierten Vortrag, der die Annahme rechtfertigt, dass die in § 2 der 26. BImSchV festgelegten Grenzwerte zum Schutz der Bevölkerung vor gesundheitlichen Gefahren durch elektromagnetische Felder auf Grund neuer wissenschaftlicher Erkenntnisse oder einer veränderten Situation verfassungsrechtlich untragbar geworden sind (vgl. BVerwG, U.v. 12.11.2020 – 4 A 13/18 – juris Rn. 44; U.v. 17.12.2013 – 4 A 1/13 – juris Rn. 51; BayVGH, B.v. 16.5.2023 – 22 ZB 22.1468 – juris Rn. 16; B.v. 24.5.2022 – 22 CS 22.711 – juris Rn. 30; B.v. 8.12.2021 – 22 CS 21.2284 – juris Rn. 43; NdsOVG, B.v. 17.1.2022 – 1 ME 142/21 – juris Rn. 21; OVG LSH, B.v.19.10.2021 – 1 MB 18/21 – juris Rn. 21).
38
3. Aber selbst wenn die in § 2 der 26. BImSchV festgelegten Grenzwerte zu hoch angesetzt wären und damit der konkrete standortbezogene Sicherheitsabstand zu gering wäre, so würde hieraus im vorliegenden Fall keine Rechtsverletzung der Kläger folgen.
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Eine solche wäre erst dann gegeben, wenn die Funkanlage zu hohe elektromagnetische Strahlung auf dem klägerischen Grundstück verursachen würde (vgl. BayVGH, B.v. 8.12.2021 – 22 CS 21.2284 – juris Rn. 48; VG Augsburg, U.v. 23.5.2022 – Au 9 K 20.2380 – juris Rn. 56; VG Stuttgart, B.v. 29.6.2021 – 11 K 1585/21 – juris Rn. 23 f. m.V.a. BayVGH, B.v. 30.3.2004 – 21 CS 03.1053 – BayVBl 2004, 660, 662).
40
Der Abstand der Funkanlage zum klägerischen Grundstück beträgt vorliegend jedoch etwa 210 m (siehe Luftbilder BayernAtlas). Berücksichtigt man zusätzlich den physikalischen Effekt, dass die Stärke der elektromagnetischen Strahlung mit zunehmendem Abstand an Gewicht verliert, müsste der derzeit in § 2 der 26. BImSchV festgelegte Grenzwert bezogen auf das ca. 210 m entfernt liegende Grundstück der Kläger um ein Vielfaches zu hoch angesetzt sein (vgl. BayVGH, B.v. 8.12.2021 – 22 CS 21.2284 – juris Rn. 48: keine Rechtsverletzung des Eigentümers eines 152 m von der Funkanlage entfernt liegenden Grundstücks bei einem standortbezogenen Sicherheitsabstand in Hauptstrahlrichtung von 22,08 m).
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Angesichts vorstehender Aspekte ist selbst eine geringe oder entfernte Möglichkeit einer durch elektromagnetische Strahlung verursachten Gesundheitsbeeinträchtigung auf dem klägerischen Grundstück ausgeschlossen und eine Rechtsverletzung durch die streitgegenständliche Standortbescheinigung nicht gegeben. Entgegenstehende sonstige Anhaltspunkte sind weder vorgetragen noch ersichtlich.
42
4. Eine Verletzung sonstiger drittschützender Vorschriften ist weder vorgetragen noch ersichtlich. Die Kläger werden daher durch die der Beigeladenen erteilte Standortbescheinigung vom 11. August 2021 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 28. Oktober 2022 nicht in ihren Rechten verletzt.
43
Nach alldem erweist sich die vorliegende Klage als unbegründet und war daher abzuweisen.
44
5. Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 154 Abs. 1, 159 Satz 2 VwGO. Da sich die Beigeladene nicht durch die Stellung eines eigenen Sachantrags in das Kostenrisiko aus § 154 Abs. 3 VwGO begeben hat, entspricht es vorliegend der Billigkeit, dass diese ihre außergerichtlichen Kosten selbst trägt (vgl. § 162 Abs. 3 VwGO).
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6. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit fußt auf § 167 Abs. 1 VwGO i.V.m. §§ 708 Nr. 11, 711 ZPO.