Inhalt

VG Würzburg, Beschluss v. 27.04.2023 – W 4 E 23.30232
Titel:

zur Auslegung von § 71 Abs. 1 S. 1 AsylG 

Normenketten:
AsylG § 29 Abs. 1 Nr. 2, § 36 Abs. 4, § 71 Abs. 4, Abs. 5 S. 1, Abs. 6 S. 1
Asylverfahrens-RL Art. 2 lit. e, lit. q
Rückführungs-RL Art. 5, Art. 6 Abs. 1, Abs. 2, Art. 7 Abs. 1
Leitsatz:
§ 71 Abs. 1 S. 1 AsylG ist im Lichte von Art. 2 lit e, lit q Asylverfahrens-RL auszulegen, wonach ein „Folgeantrag“ als weiterer Antrag auf internationalen Schutz bezeichnet wird, mithin zuvor eine (inhaltliche) Sachentscheidung ergangen sein muss oder der erste Asylantrag explizit oder stillschweigend zurückgenommen wurde; wurde indes der erste Asylantrag gem. § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG als unzulässig abgelehnt, ist § 71 AsylG mangels unanfechtbarer (inhaltlicher) Ablehnung dieses ersten Asylantrags nicht einschlägig. (Rn. 26 – 31) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Vorläufiger Rechtsschutz gegen Folgebescheid ohne erneute Abschiebungsandrohung, Anwendbarkeit des § 71 AsylG bei abgelehntem Asylerstantrag nach § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG mit Blick auf die Vorgaben der Asylverfahrens-RL 2013/32/EU, Anwendbarkeit des § 71 Abs. 6 Satz 1 AsylG bei zwischenzeitlichem, zwangsweise durchgesetzten Verlassen des Bundesgebiets aufgrund vorheriger, vollziehbar gewordener Abschiebungsandrohung mit Blick auf die Vorgaben der Rückführungs-RL 2008/115/EG, unzulässiger Erstantrag, Abschiebungsandrohung, unzulässiger Folgeantrag, unanfechtbare Unzulässigkeitsentscheidung, Rückkehrentscheidung, familiäre Bindungen
Fundstelle:
BeckRS 2023, 18691

Tenor

I. Die Antragsgegnerin wird im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, der Regierung von Oberfranken – Zentrale Ausländerbehörde – mitzuteilen, dass der Antragsteller aufgrund der Abschiebungsandrohung aus dem Bescheid des Bundesamts vom 24. Februar 2017 in Verbindung mit dem Bescheid des Bundesamts vom 23. Dezember 2022 vorläufig – bis zu einer Entscheidung in der Hauptsache – nicht abgeschoben werden darf.
II. Die Antragsgegnerin hat die Kosten des Verfahrens zu tragen. Gerichtskosten werden nicht erhoben.

Gründe

I.
1
Der Antragsteller begehrt einstweiligen Rechtsschutz in Zuge der Ablehnung seines weiteren, hier im Bundesgebiet gestellten Asylantrags als unzulässig ohne Erlass einer weiteren Abschiebungsandrohung.
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1. Der Antragsteller ist nach eigenen Angaben somalischer Staatsangehöriger und hat bereits am 1. Februar 2017 in der Bundesrepublik Deutschland einen Asylantrag (BA-Az.: …) gestellt.
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Diesen lehnte das Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt) mit Bescheid vom 24. Februar 2017 als unzulässig ab (Ziffer 1), da dem Antragsteller zuvor bereits internationaler Schutz in Ungarn zuerkannt worden war, wie die ungarischen Behörden mit Schreiben vom 20. Februar 2017 mitgegeilt hatten. Weiter stellte das Bundesamt fest, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG nicht vorlägen (Ziffer 2). Zudem wurde der Antragsteller aufgefordert, die Bundesrepublik Deutschland innerhalb einer Woche nach Bekanntgabe der Entscheidung zu verlassen. Sollte der Antragsteller die Ausreisefrist nicht einhalten, werde er nach Ungarn abgeschoben. Der Antragsteller könne auch in einen anderen Staat abgeschoben werden, in den er einreisen dürfe oder der zu seiner Rückübernahme verpflichtet sei. Der Kläger dürfe nicht nach Somalia abgeschoben werden (Ziffer 3). Das gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot gem. § 11 Abs. 1 AufenthG wurde auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung befristet. Wegen der weiteren Begründung wird auf den vorgenannten Bescheid Bezug genommen.
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Die gegen diesen Bescheid erhobene Klage zum Bayerischen Verwaltungsgericht Würzburg (W 4 K 17.31027) wurde mit rechtskräftigem Urteil vom 17. November 2017 abgewiesen. Auf die Entscheidungsgründe dieses Urteils wird verwiesen. Der Kläger war bereits am 28. September 2017 nach Ungarn abgeschoben worden.
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2. Nachdem sich der Antragsteller ausweislich der Eurodac-Datenbank in der Zwischenzeit jedenfalls in Island und Frankreich aufgehalten hatte, reiste er erneut ins Bundesgebiet ein und stellte hier am 14. Dezember 2022 erneut einen Asylantrag. Dabei legte der Antragsteller u.a. einen ungarischen Reiseausweis, gültig bis 23. August 2023, sowie eine ungarische ID-Card für Ausländer, gültig bis 12. August 2026, vor. Seinen weiteren Asylantrag begründete der Antragsteller nachträglich im Wesentlichen damit, dass seine somalische Ehefrau und zwei gemeinsame Kinder hier im Bundesgebiet lebten und er deswegen in Deutschland bleiben möchte.
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Mit Bescheid des Bundesamts vom 23. Dezember 2022 wurde auch dieser Asylantrag als unzulässig abgelehnt (Ziffer 1). Der Antrag auf Abänderung des Bescheides vom 24. Februar 2017 bezüglich der Feststellung zu § 60 Abs. 5 und Abs. 7 AufenthG wurde ebenfalls abgelehnt (Ziffer 2). Der (erneute) Asylantrag wurde dabei als Folgeantrag gem. § 71 AsylG eingestuft und der Erlass einer erneuten Abschiebungsandrohung unter Bezugnahme auf § 71 Abs. 5 Satz 1 AsylG für entbehrlich gehalten. Wegen der Begründung im Einzelnen wird auf die Gründe des Bescheids vom 23. Dezember 2022 Bezug genommen. In der dem Bescheid angefügten Rechtsbehelfsbelehrungist eine Rechtsbehelfsfrist von zwei Wochen angegeben. Der Bescheid wurde laut eines in den Behördenakten befindlichen Aktenvermerks am 13. Januar 2023 als Einschreiben zur Post gegeben.
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3. Gegen den Bescheid vom 23. Dezember 2022 ließ der Kläger mit Schriftsatz seines Bevollmächtigten vom 27. Januar 2023, eingegangen bei Gericht am selben Tag, Klage erheben (W 4 K 23.30069), über die bislang noch nicht entschieden ist.
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Mit Bescheid der Regierung von Oberfranken vom 28. Februar 2023 wurde dem Antragsteller ab dem 8. März 2023 als Wohnsitz die Gemeinschaftsunterkunft in Selb im Landkreis Wunsiedel zugewiesen.
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Mit Schriftsatz seines Bevollmächtigten vom 17. März 2023 ließ der Antragsteller beim Bayerischen Verwaltungsgericht Bayreuth sinngemäß beantragen,
Die Antragsgegnerin wird im Wege der einstweiligen Anordnung nach § 123 VwGO verpflichtet, der ZAB Oberfranken mitzuteilen, dass der Antragsteller aufgrund der Abschiebungsandrohung aus dem Bescheid vom 24.02.2017 in Verbindung mit dem Bescheid vom 23.12.2022 nicht abgeschoben werden darf.
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Zur Begründung wurde auf eine Entscheidung des Bayerischen Verwaltungsgerichts Ansbach Bezug genommen (B.v. 28.9.2022 – AN 17 E 22.50308 – juris), wonach in einer Konstellation wie der vorliegenden – Ablehnung des ersten Asylantrags im Bundesgebiet als unzulässig nach § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG – der weitere Asylantrag nicht als Folgeantrag eingestuft werden könne, da für eine unanfechtbare Ablehnung eines Asylantrags im Sinne des § 71 Abs. 1 Satz 1 AsylG eine inhaltliche Prüfung und Ablehnung des vorangegangenen Asylantrags im Bundesgebiet hätte erfolgen müssen. Dies sei nicht geschehen, so dass auch die Ausnahmeregeln des § 71 Abs. 5 Satz 1 und Abs. 6 Satz 1 AufenthG hier nicht anwendbar seien. Es hätte daher einer erneuten Abschiebungsandrohung bedurft, da die ursprüngliche Abschiebungsandrohung durch die seinerzeit im Anschluss erfolgte Abschiebung verbraucht sei.
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4. Mit Schriftsatz des Bundesamts vom 21. März 2023 beantragt die Antragsgegnerin, den Antrag abzulehnen.
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Hinsichtlich der Begründung wurde auf die angefochtene Entscheidung Bezug genommen.
13
5. Mit Kammerbeschluss vom 12. April 2023 erklärte sich das Bayerische Verwaltungsgericht Bayreuth (B 10 E 23.30280) für unzuständig und verwies die Streitsache an das Bayerische Verwaltungsgericht Würzburg. Begründet wurde der Beschluss damit, dass gem. § 123 Abs. 2 Satz 1 VwGO für den Erlass einstweiliger Anordnungen das Gericht der Hauptsache zuständig sei. Dies sei vorliegend gem. § 52 Nr. 2 Satz 3 VwGO das Bayerische Verwaltungsgericht Würzburg, da der Antragsteller erst nach Erhebung der Klage in der Hauptsache nach Oberfranken umverteilt worden sei.
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6. Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts wird auf die Gerichtsakten im vorliegenden Verfahren und in den Verfahren W 4 K 23.30069 und W 4 K 17.31027 sowie auf die beigezogenen Behördenakten Bezug genommen.
II.
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1. Der Antrag nach § 123 VwGO ist zulässig.
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Das Bayerische Verwaltungsgericht ist für den vorliegenden Rechtsstreit sachlich und örtliche zuständig. Hinsichtlich der örtlichen Zuständigkeit ist das Gericht an den Verweisungsbeschluss des Bayerischen Verwaltungsgerichts Bayreuth vom 12. April 2023 gebunden (vgl. § 83 VwGO i.V.m. § 17a Abs. 2 Satz 3 GVG).
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Der vorliegende Antrag nach § 123 VwGO ist auch statthaft. Da die Antragsgegnerin im streitgegenständlichen Bescheid vom 23. Dezember 2022 keine neue Abschiebungsandrohung erlassen, scheidet ein vorrangiger Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO (vgl. § 123 Abs. 5 VwGO) aus. Auch sonst wird in dieser Fallkonstellation mittlerweile ganz überwiegend ein Antrag nach § 123 VwGO als statthafter Rechtsbehelf angesehen (vgl. hierzu etwa Dickten in BeckOK Ausländerrecht, Stand 1.1.2023, § 71 AsylG Rn. 37 m.w.N. zur diesbezüglichen Rechtsprechung).
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Dem Antrag fehlt auch nicht das Rechtsschutzbedürfnis, da die ZAB Oberfranken auf entsprechende Nachfrage des Gerichts mitgeteilt hat, dass sie weiterhin versucht, den Antragsteller nach Ungarn abzuschieben.
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2. Der Antrag richtet sich auch gegen den richtigen Antragsgegner.
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Denn Fällen, in denen das Bundesamt im Asylfolgeverfahren von einer erneuten Abschiebungsandrohung abgesehen hat, ist der Antrag auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes zur Verhinderung der Abschiebung gegen die Bundesrepublik Deutschland als dessen Rechtsträger zu richten, soweit der Asylfolgeantragsteller Einwendungen geltend macht, die der Prüfung und Entscheidung durch das Bundesamt unterliegen (so auch Bergmann in Ders./Dienelt, AuslR; § 71 AsylG Rn. 48; aus der Rechtsprechung vgl. etwa VG Ansbach B.v. 28.9.2022 – AN 17 E 22.50308 – juris u.a. unter Verweis auf BayVGH, B.v. 9.5.2007 – 19 CE 07.158 – juris). Dies ist vorliegend der Fall, da das Bundesamt der Meinung ist, einer erneuten Abschiebungsandrohung bedürfe es vorliegend nicht. Für eine im Rahmen eines Asylverfahrens erlassene bzw. zu erlassende Abschiebungsandrohung ist allein das Bundesamt zuständig (§ 34 Abs. 1 Satz 1 i.V.m. § 5 Abs. 1 Sat z2 AsylG, die Ausländerbehörde ist hieran gebunden, vgl. § 71 Abs. 4 und 5 sowie § 34 Abs. 1 Satz 3 AsylG; siehe hierzu aus der Literatur etwa Pietzsch in BeckOK AuslR, Stand 1.1.2023, § 34 Rn. 10 u. 12).
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3. Der Antrag ist auch weitestgehend begründet.
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3.1. Gemäß § 123 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 2 Satz 1 VwGO kann das Gericht der Hauptsache auf Antrag eine einstweilige Anordnung in Bezug auf den Streitgegenstand treffen, wenn die Gefahr besteht, dass für die Veränderung des bestehenden Zustandes die Verwirklichung eines Rechts des Antragstellers vereitelt oder wesentlich erschwert werden könnte (sog. Sicherungsanordnung). Einstweilige Anordnungen sind auch zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn diese Regelung, vor allem bei dauernden Rechtsverhältnissen, um wesentliche Nachteile abzuwenden oder drohende Gewalt zu verhindern oder aus anderen Gründen, nötig erscheint (sog. Regelungsanordnung). Gemäß § 123 Abs. 3 VwGO i.V.m. §§ 129 Abs. 2 ZPO sind das Bestehen eines zu sichernden Rechtes (Anordnungsanspruch) und die besondere Eilbedürftigkeit (Anordnungsgrund) glaubhaft zu machen.
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Zudem ergibt sich aus § 71 Abs. 4 AsylG i.V.m. § 36 Abs. 4 Asyl (oder jedenfalls aus § 36 Abs. 4 i.V.m. § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG), dass Maßstab der Prüfung im gerichtlichen Eilverfahren ist, ob ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des angegriffenen Verwaltungsaktes bestehen. Dies verschärft den Maßstab für einen erfolgreichen Eilantrag. Es müssen daher erhebliche Gründe dafürsprechen, dass die angegriffene Maßnahme einer rechtlichen Prüfung nicht standhält (Bergmann in ders./Dienelt, Ausländerrecht, Stand 1.1.2023, § 36 AsylG Rn. 36 ff.).
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3.2. Ein Anordnungsgrund ist vorliegend glaubhaft gemacht. Die ZAB Oberfranken versucht den Antragsteller weiterhin nach Ungarn abzuschieben und sowohl die Antragsgegnerin als auch die (hieran gebundene) ZAB Oberfranken vertreten die Auffassung, dass es einer erneuten Abschiebungsandrohung vorliegend mit Blick auf die Regelungen in § 71 Abs. 5 Satz 1 i.V.m. Abs. 6 Satz 1 AsylG nicht bedürfe.
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3.3. Zudem ist auch ein Anordnungsanspruch glaubhaft gemacht. Denn es bestehen ernstliche Zweifel daran, dass es im vorliegenden Fall keiner erneuten Abschiebungsandrohung bedurfte, wie das Bundesamt annimmt, ohne allerdings auf die hier ebenfalls relevante Regelung des § 71 Abs. 6 Satz 1 AsylG überhaupt einzugehen (vgl. Seite 5 des streitgegenständlichen Bescheids).
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3.3.1. Zwar geht das Gericht davon aus, dass bei eine Auslegung allein der nationalen Rechtslage mit Blick auf den Wortlaut des § 71 Abs. 1 Satz 1 AsylG und dem Telos der Regelung des § 71 AsylG (Beschleunigungszweck, vgl. Hailbronner,AuslR, § 71 AsylG, § 71 Rn. 28) viel dafür spräche, auch eine unanfechtbare Unzulässigkeitsentscheidung nach § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG als „unanfechtbare Ablehnung“ eines früheren Asylantrags anzusehen (in diesem Sinne etwa auch VG Göttingen, U.v. 6.2.2023 – 3 A 81/22 – juris Rn. 25; VG Regensburg, B.v. 10.8.22 – RO 13 S 22.31215). Hierfür würde in systematischer Hinsicht auch § 71a Abs. 5 AsylG sprechen.
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Einer solcher Auslegung der nationalen Vorschriften dürfte vorliegend jedoch das Unionsrecht entgegenstehen. Denn nach Art. 2 q) der RL 2013/32/EU (Asylverfahrens-RL) bezeichnet ein „Folgeantrag“ einen weiteren Antrag auf internationalen Schutz, der nach Erlass einer bestandskräftigen Entscheidung über einen früheren Antrag gestellt wird, auch in Fällen, in denen der Antragsteller seinen Antrag ausdrücklich zurückgenommen hat oder die Asylbehörde den Antrag nach der stillschweigenden Rücknahme durch den Antragsteller gemäß Artikel 28 Absatz 1 abgelehnt hat.
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Eine „bestandskräftige Entscheidung“ ist nach Art. 2 e) Asylverfahrens-RL dabei eine Entscheidung darüber, ob einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen gemäß der RL 2011/95/EU die Flüchtlingseigenschaft oder der subsidiäre Schutzstatus zuzuerkennen ist, und gegen die kein Rechtsbehelf nach Kapitel V der vorliegenden Richtlinie mehr eingelegt werden kann, unabhängig davon, ob ein solcher Rechtsbehelf zur Folge hat, dass Antragsteller sich bis zur Entscheidung über den Rechtsbehelf in dem betreffenden Mitgliedstaat aufhalten dürfen.
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Schon anhand dieser Begriffsbestimmungen aber wird deutlich, dass ein Folgeantrag im Sinne der Asylverfahrens-RL nur dann vorliegend dürfte, wenn zuvor eine (inhaltliche) Sachentscheidung ergangen war oder der erste Asylantrag explizit oder stillschweigend zurückgenommen wurde (so auch VG Sigmaringen, U.v. 16.2.2021 – A 13 K 3481/18 – juris Rn. 32 u. 34; ebenso VG Ansbach, B.v. 28.9.2022 – AN 17 E 22.50308 – juris Rn. 26, mit etwas anderer Begründung sowie VG Magdeburg, B.v. 25.9.2018 – 6 B 291/18, allerdings zu einem etwas anders gelagerten Fall; aus der Literatur im Ergebnis ebenso wohl Funke-Kaiser, GK AsylG, Stand 01/2022, § 71 Rn. 51).
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Dieser Befund wird systematisch durch die Regelungen in Art. 33 Abs. 2 Buchst. d), Art. 40 Abs. 2 und 3 Satz 1 Asylverfahrens-RL sowie Art. 18 Abs. 2 Unterabs. 2 Satz 1 Dublin III-VO bestätigt.
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Nach unionsrechtskonformer Auslegung spricht daher vieles dafür, dass im vorliegenden Fall, in dem der erste Asylantrag des Antragstellers im Bundesgebiet mit Bescheid vom 24. Februar 2017 gem. § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG als unzulässig abgelehnt worden war, § 71 AsylG mangels unanfechtbarer (inhaltlicher) Ablehnung dieses ersten Asylantrags nicht einschlägig ist, mit der Folge, dass eine (erneute) Abschiebungsandrohung vorliegend nicht nach § 71 Abs. 5 Satz 1 AsylG unterbleiben durfte.
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3.3.2. Aber selbst wenn man der Auffassung folgen wollte, dass vorliegend die Regelung des § 71 AsylG grundsätzlich einschlägig bzw. anwendbar ist, so wäre zudem hier zu berücksichtigen, dass der Antragsteller aufgrund der Abschiebungsandrohung im Bescheid vom 24. Februar 2017 am 28. September 2017 bereits nach Ungarn abgeschoben worden war.
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Zwar sieht § 71 Abs. 6 Satz 1 AsylG vor, dass § 71 Abs. 5 AsylG auch gilt, wenn der Ausländer zwischenzeitlich das Bundesgebiet verlassen hatte, so dass ein Verbrauch bzw. eine Erledigung der Abschiebungsandrohung im ersten ablehnenden Asylbescheid durch eine Abschiebung an sich nicht eintreten kann (vgl. BGH, B.v. 16.5.2019 – V ZB 1/19 – BeckRS 2019, 12362; Funke-Kaiser in GK AufenthG, Stand 09/2022, § 59 Rn. 266).
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Allerdings spricht insoweit Überwiegendes dafür, dass die Regelung des § 71 Abs. 6 Satz 1 mit der RL 2008/115/EG über gemeinsame Normen und Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehörige (Rückführungs-RL) nicht vereinbar ist (so auch Funke-Kaiser in GK AsylG, § 71 Rn. 329; offen gelassen von VG Münster, B.v. 20.1.2021 – 8 L 793/20 – juris Rn. 15; kein Fall des § 71 Abs. 6 Satz 1 AsylG lag – soweit ersichtlich – der Entscheidung des VG Minden zugrunde, vgl. B.v. 10.12.2019 – 10 L 336/19.A – juris).
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Die Rückführungs-RL ist mit Blick auf ihren Art. 2 Abs. 1 anwendbar. Ein Fall des Art. 2 Abs. 2 oder 3 Rückführungs-RL ist vorliegend nicht erkennbar. Aus Art. 6 Abs. 2 und 1 Rückführungs-RL wird deutlich, dass auch in Konstellationen wie der vorliegenden eine Rückkehrentscheidung zu ergehen hat. Unter Berücksichtigung des Erwägungsgrundes (6), wonach Entscheidungen gemäß dieser Richtlinie auf Grundlage des Einzelfalls getroffen werden, des Art. 5 Rückführungs-RL, wonach bei der Umsetzung der Richtlinie das Wohl des Kindes, die familiären Bindungen und der Gesundheitszustand des Betroffenen in gebührender Weise zu berücksichtigen sind, sowie des Umstandes, dass gem. Art. 7 Abs. 1 Rückführungs-RL eine Rückkehrentscheidung grundsätzlich eine angemessene Frist zur freiwilligen Ausreise vorzusehen hat, dürfte auch ganz Überwiegendes dafür sprechen, dass eine Rückkehrentscheidung für den jeweiligen illegalen Aufenthalt des Drittstaatsangehörigen zu erfolgen hat. Hierfür spricht neben dem Wortlaut des Art. 3 Nr. 2 auch die Regelung des Art. 13 Abs. 1 Rückführungs-RL, nach der der betroffene Drittstaatsangehörige ein Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf gegen eine ergangene Rückkehrentscheidung hat.
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Diese unionsrechtlichen Vorgaben werden durch die Regelung des § 71 Abs. 6 Satz 1 i.V.m. Abs. 5 Satz 2 AsylG unterlaufen. Die Ausreisefrist der Abschiebungsandrohung im Ausgangsbescheid ist regelmäßig – wie hier – längst abgelaufen. Zudem können sich familiäre und gesundheitliche Umstände in der Zwischenzeit, also seit Erlass der Abschiebungsandrohung im (nationalen) Asylerstverfahren geändert haben, insbesondere wenn seitdem – wie hier – mehrere Jahre vergangen sind. Dieser Aspekt gewinnt zudem noch zusätzliches Gewicht, wenn man berücksichtigt, dass nach der neuesten Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) es Art. 5 Rückführungs-RL einem Mitgliedsstaat verwehrt, eine Rückkehrentscheidung zu erlassen, ohne vorher die relevanten Aspekte des Familienlebens des betreffenden Drittstaatsangehörigen zu berücksichtigen, die er geltend macht, um den Erlass einer solchen Entscheidung zu verhindern (vgl. EuGH, B.v. 15.2.2023 – C-484/22 – juris Rn. 25 zum Vorabentscheidungsersuchen des BVerwG v. 8.6.2022 – 1 C 24/21 – juris, dem die Entscheidung des VG Sigmaringen, U.v. 7.6.2021 – A 4 K 3124/19 – juris, vorausging).
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Dass diese Auslegung des EuGH zu Art. 5 Rückführungs-RL nur auf minderjährige Drittstaatsangehörige anzuwenden wäre, wie der Wortlaut der abschließenden Antwort des EuGH missverstanden werden könnte (vgl. EuGH, a.a.O. a.E.), ist angesichts des Umstandes, dass die Rückführungs-RL allein auf eine Rückkehrentscheidung eines Drittstaatenangehörigen abstellt (vgl. Art. 2 Abs. 1, Art. 3 Nr. 1 sowie Art. 5 Rückführungs-RL) sowie der insoweit eindeutigen Ausführungen in Rn. 25 des Beschlusses des EuGH, nicht anzunehmen. Schließlich wird durch die nach nationalem Recht eingeräumte Möglichkeit, trotz erfolgter zwischenzeitlicher Ausreise, von einer erneuten Abschiebungsandrohung absehen zu können, die nach Art. 13 Abs. 1 Rückführungs-RL vorgesehene Rechtschutzmöglichkeit des Betroffenen umgangen.
38
Diesem Auslegungsergebnis steht auch nicht die Rechtsprechung des EuGH entgegen, mit der dieser die praktische Wirksamkeit der RL 2008/115 betont (vgl. EuGH, U.v. 15.2.2016 – C-601/15 PPU – juris Rn. 75). Denn dieser Entscheidung des EuGH lag eine Sachverhaltskonstellation zugrunde (vgl. EuGH, a.a.O., Rn. 21 ff.), in dem der Drittstaatsangehörige den Mitgliedsstaat zwischenzeitlich nicht verlassen hatte und somit nur „ein“ (langjähriger) illegaler Aufenthalt im selben Mitgliedsstaat vorlag. Dieser Sachverhalt ist daher mit der vorliegenden Konstellation, in der der Antragsteller zum zweiten Mal im Bundesgebiet (illegal) aufhältig ist, nicht vergleichbar.
39
Daher spricht vieles dafür, dass jedenfalls die Regelung des § 71 Abs. 6 Satz 1 i.V.m. § 71 Abs. 5 Satz 1 AsylG mit Unionsrecht nicht vereinbar ist und daher vorliegend unangewendet bleiben muss (so auch Funke-Kaiser in GK AsylG, § 71 Rn. 329 a.E.). Dies dürfte jedenfalls für die Fälle zu fordern sein, bei denen der Erlass der Abschiebungsandrohung im Zuge des (nationalen) Asylerstverfahrens einige Zeit zurückliegt.
40
Aus den genannten Gründen hat das Gericht ernstliche Zweifel (unabhängig davon, ob man diese Vorgabe vorliegend auf § 71 Abs. 4 i.V.m. § 36 Abs. 4 AsylG oder auf § 36 Abs. 4 i.Vm. § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG stützt, wonach der vorliegende Sachverhalt nach der hier vertretenen Auffassung zu behandeln gewesen wäre) an der Rechtmäßigkeit der Entscheidung des Bundesamts, vorliegend von einer erneuten Abschiebungsandrohung abzusehen, womit ein Anordnungsanspruch glaubhaft gemacht ist (in diesem Sinne auch Marx, Aufenthalts-, Asyl- und Flüchtlingsrecht, 6. Auflage 2017, S. 990 Rn. 182; VG Ansbach, B.v. 28.9.2022 – AN 17 E 22.50308 – juris Rn. 21).
41
Der Antragsteller hat zudem jedenfalls einen Anspruch auf ermessensfehlerfreie Neuverbescheidung über den Erlass einer erneuten Abschiebungsandrohung (das insoweit dem Bundesamt eingeräumte Ermessen ergibt sich aus dem Wort „bedarf“ in § 71 Abs. 5 Satz 1 AsylG; vgl. hierzu auch Marx, AsylG, § 71 Rn. 106; Funke-Kaiser, GK AsylG, Stand Dezember 2022, § 71 Rn. 327; Camerer, BeckOK Migrations- und Integrationsrecht, Stand 15.10.2022, § 71 AsylG Rn. 38) glaubhaft gemacht, wobei im vorliegenden Fall aufgrund der unionsrechtlichen Vorgaben der Rückführungs-RL viel für eine Ermessensreduktion auf Null spricht.
42
Eine abschließende Beurteilung der beiden hier in Streit stehenden Rechtsfragen kann im vorliegenden Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes nicht erfolgen und bleibt dem Hauptsacheverfahren vorbehalten.
43
3.4. Aus den vorstehenden Gründen war der Antrag im tenorierten Umfang begründet. Da im Verfahren nach § 123 VwGO die Hauptsache nicht vorweggenommen werden soll und nur bis zur Entscheidung in der Hauptsache eine vorläufige Regelung für erforderlich erscheint (vgl. hierzu etwa Happ in Eyermann, VwGO, 16. Auflage 2022, § 123 Rn. 66a ff.), war die Anordnung in zeitlicher Hinsicht entgegen dem gestellten Antrag zeitlich zu begrenzen.
44
4. Die Kostenentscheidung beruht auf § 155 Abs. 1 Satz 3 VwGO, da der Antragsteller nur zu einem geringfügigen Teil mit Blick auf die zeitliche Dauer der einstweiligen Anordnung unterlegen ist. Gerichtskosten werden nach § 83b AsylG nicht erhoben.