Inhalt

VG Würzburg, Urteil v. 27.04.2023 – W 3 K 21.1485
Titel:

Kinder- und Jugendhilfe, Verpflegungskosten, Ferienaufenthalte bei ehemaligen Pflegeeltern, Eingliederungshilfe, Besuchshilfe, fehlende Ermessensausübung

Normenketten:
VwGO § 113 Abs. 5
SGB VIII § 35a
SGB VIII § 39
SGB IX § 113 Abs. 2 Nr. 9
SGB IX § 115
VwGO § 114
Schlagworte:
Kinder- und Jugendhilfe, Verpflegungskosten, Ferienaufenthalte bei ehemaligen Pflegeeltern, Eingliederungshilfe, Besuchshilfe, fehlende Ermessensausübung
Fundstelle:
BeckRS 2023, 18658

Tenor

I. Der Beklagte wird unter Aufhebung des Bescheides vom 3. November 2021 dazu verpflichtet, über den Antrag des Klägers auf Kostenerstattung (Pflegekostensatz) für Aufenthalte in der Pflegefamilie für die Zeiträume
27. März bis 6. April 2021,
29.
Mai bis 6. Juni 2021,
14.
August bis 19. August 2021,
1.
September bis 13. September 2021,
23.
Dezember 2021 bis 9. Januar 2022,
11.
Februar bis 20. Februar 2022,
8.
April bis 18. April 2022,
3.
Juni bis 21. Juni 2022,
1.
August bis 7. August 2022,
18.
August bis 12. September 2022,
23.
Dezember 2022 bis 2. Januar 2023,
6.
April bis 17. April 2023
in Höhe von insgesamt 1.078,56 EUR unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts erneut zu entscheiden.
Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
II.    Die Kosten des Verfahrens haben die Parteien jeweils zur Hälfte zu tragen.
III.    Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Der jeweilige Vollstreckungsschuldner kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe des zu vollstreckenden Betrages abwenden, wenn nicht zuvor der jeweilige Vollstreckungsgläubiger in gleicher Höhe Sicherheit leistet.

Tatbestand

I.
1
Die Beteiligten streiten um die Gewährung von Kostenerstattung des Beklagten (Pflegekostensatz) für die Ferienaufenthalte des Klägers in seiner Pflegefamilie bei stationärer Unterbringung.
2
Der Kläger wurde am ... 2008 geboren. Seine leiblichen Eltern sind unbekannten Aufenthalts.
3
Von August 2009 bis zum 10. November 2009 war der Kläger in der Pflegefamilie H. in A. untergebracht.
4
Am 10. November 2009 wurde der Kläger zu seinen leiblichen Eltern zurückgeführt.
5
Am 14. Dezember 2009 wurde der Kläger erneut in der Pflegefamilie H. untergebracht, bis er im Januar 2010 in die Pflegefamilie der Eheleute R. wechselte.
6
Das Familiengericht entzog den leiblichen Eltern des Klägers mit Beschluss vom 28. Januar 2011 die elterliche Sorge, ordnete die Vormundschaft an und bestimmte die Eheleute R. als Vormünder für den Kläger.
7
Am 8. Juni 2020 beantragten die Vormünder für den Kläger die Gewährung von stationärer Eingliederungshilfe in Form der Unterbringung in einem Heim.
8
Am 16. August 2020 wurde der Kläger in das Jugendhilfezentrum … … in P. aufgenommen.
9
Der Beklagte stellte mit Bescheid vom 27. August 2020 daraufhin die bis zum 16. August 2020 gemäß §§ 27, 33 SGB VIII erbrachten Hilfen zur Erziehung in Form der Vollzeitpflege ein.
10
Mit Bescheid vom 7. September 2020 gewährte der Beklagte dem Kläger ab dem 16. August 2020 stationäre Eingliederungshilfe gemäß § 35a SGB VIII in Form der Heimerziehung im Jugendhilfezentrum P. Der Kläger besuchte seit seiner Unterbringung im Jugendhilfezentrum oftmals seine ehemaligen Pflegeeltern, dies auch in den Ferien. Der Beklagte gewährte den Klägern bzw. seinen Vertretern diesbezüglich Beihilfen in wechselnder Höhe, zuletzt für die Weihnachtsferien 2020. Diese umfassten auch Zugfahrkarten.
11
Am 17. Mai 2021 fand eine Hilfeplankonferenz statt. Auf der Grundlage dieser Konferenz erstellte die Mitarbeiterin des Beklagten, Frau H., am 29. Juli 2021 einen Hilfeplan. Im Rahmen dieser Konferenz wurde die aktuelle stationäre Maßnahme weiterhin als geeignet und notwendig eingestuft, um den Kläger in seiner Entwicklung zu fördern. Die Hilfe solle weiterhin im Jugendhilfezentrum … … in P. stattfinden. Unter der Überschrift „Zusammenarbeit/Mitwirkung:“ wurde zu den Besuchs- und Kontaktregelungen ausgeführt, dass der Kläger alle 14 Tage zu seiner ehemaligen Pflegefamilie Kontakt haben soll.
12
Am 18. Mai 2021 beantragten die Vertreter des Klägers die Gewährung einer Aufwandsentschädigung für den Aufenthalt des Klägers bei ihnen über die Osterferien vom 27. März 2021 bis zum 6. April 2021. Dies wurde im Wesentlichen damit begründet, dass sich der Kläger in dieser Zeit bei den Klägervertretern aufgehalten habe und von diesen verpflegt worden sei. Eine Aufwandsentschädigung sei auch für die vergangenen Weihnachtsferien gewährt worden. Da aufgrund der Dauer der Abwesenheit des Klägers von der Jugendhilfeeinrichtung dieser keine Verpflegungspauschale gewährt werden könne und die Klägervertreter dem Kläger gegenüber nicht unterhaltspflichtig seien, stehe ihm der geltend gemachte Anspruch gegenüber dem Beklagten zu.
13
Diesem Schreiben war eine Bescheinigung der Jugendhilfeeinrichtung beigelegt, aus der hervorgeht, dass sich der Kläger vom 27. März 2021 bis zum 6. April 2021 und vom 9. April 2021 bis zum 11. April 2021 bei den Klägervertretern aufgehalten hat.
14
Mit Schreiben vom 19. Mai 2021 teilte der Beklagte mit, dass es sich bei den begehrten Zahlungen um freiwillige Leistungen handele, auf die kein Rechtsanspruch bestehe. Der Kläger könne sich diesbezüglich weder auf den Rahmenvertrag der kommunalen Spitzenverbände Bayern noch auf den „Laufzettel“ der Jugendhilfeeinrichtung berufen.
15
Mit Schreiben vom 21. Juni 2021 bestellte sich eine Bevollmächtigte für den Kläger und teilte unter anderem mit, dass sich der Kläger auch während der Pfingstferien vom 30. Mai 2021 bis 6. Juni 2021 bei den Klägervertretern aufgehalten habe. Die klägerischen Ansprüche basierten auf den Grundsätzen der ungerechtfertigten Bereicherung, da die Jugendhilfeeinrichtung bei längeren Abwesenheitszeiten des Klägers einen verringerten Tagessatz erhalte. Der Beklagte bereichere sich daher auf Kosten des Klägers und seiner ehemaligen Pflegeeltern und habe diese Bereicherung herauszugeben.
16
Mit Schreiben vom 24. Juni 2021 teilte der Beklagte insbesondere mit, dass es keine „Verpflegungspauschale“ gebe, die dem Kläger zustünde. Überdies gebe es auch keine Rechtsgrundlage für Ausgleichsansprüche bei beendeten Pflegeverhältnissen. Der Beklagte bereichere sich auch nicht auf Kosten des Klägers, da der Beklagte den Lebensunterhalt des Klägers komplett decke und sichere. Der Beklagte kürze auch keine Pauschalen, sondern die Einrichtungen unterlägen einem Rahmenvertrag, in welchem diese Regelungen verbindlich enthalten seien. Wenn die Einrichtung an die ehemaligen Pflegeeltern ein Verpflegungsgeld auslobe, begründe dies keinen Anspruch auf Leistungen durch den Beklagten.
17
Am 19. August 2021 beantragte der Kläger die Kostenübernahme für die Wochenend- und Ferienaufenthalte bei seiner ehemaligen Pflegefamilie. Dies wurde im Wesentlichen damit begründet, dass der nun 14-jährige Kläger von Februar 2010 bis August 2020 als Pflegekind bei den Klägervertretern gelebt habe. Der Kontakt zu den leiblichen Eltern sei nicht möglich. Die leiblichen Eltern seien nicht auffindbar oder befänden sich im Ausland. Die ehemalige Pflegefamilie sei seine psychologische Familie. Durch den Schulwechsel im August/ September 2020 und dem damit verbundenen Wegfall der durch die bisherige Schule ergänzend angebotenen Unterstützung der Pflegeeltern sei eine Betreuung und Erziehung in der Pflegefamilie ohne ergänzendes Setting nicht mehr die passende Hilfe. Da für den Kläger keine andere Familie existiere, seien die Kontakte in die Pflegefamilie die einzigen familiären Kontakte und zwingend erhaltensbedürftig. Unter Bezugnahme auf Seite 3 und 4 des Hilfeplangesprächs vom 30. Juni 2020 sei eine Rückkehroption in die Pflegefamilie als Ziel der stationären Unterbringung formuliert worden. Unter Bezugnahme auf mehrere Kommentare seien Annexleistungen keine freiwilligen Leistungen, sondern Pflichtleistungen. Eine Beschränkung von Pflichtleistungen durch eine angespannte Haushaltslage, wie es der Beklagte vortrage, sei somit nicht möglich. Entsprechend aktueller Rechtsgutachten zum Erhalt der Pflegefamilie als psychologische Familie, so das DIJuF Rechtsgutachten vom 13. November 2018, seien die Besuche bei der Pflegefamilie Bestandteil der Hilfen zur Erziehung und damit bestehe auch die Verpflichtung des Beklagten, die Annexleistungen für die Wochenend- und Ferienaufenthalte nach § 39 SGB VIII zu übernehmen. Die Kosten umfassten Fahrtkosten und Essensaufwendungen. Als Antragsdatum gelte der 14. Mai 2021.
18
Mit Schreiben vom 24. August 2021 wies der Beklagte darauf hin, dass Annexleistungen in Vollzeitpflege in der Pflegefamilie zu gewähren wären, wenn dies der Hilfeplan auswiese. Den Klägervertretern sei bekannt, dass das Pflegeverhältnis zwischen ihnen und dem Kläger ab dem Zeitpunkt der vollstationären Unterbringung nach § 35a SGB VIII beendet sei. Es bestehe weiterhin das Vormundschaftsverhältnis. Der Beklagte finanziere seit Beginn der vollstationären Unterbringung den kompletten Lebensunterhalt des Klägers und gewähre infolgedessen einmal im Monat Heimfahrten zu den Pflegeeltern. Ein Anspruch auf „Verpflegungsgeld“ oder eine solche Pauschale bestehe nicht. Nur wenn das Kind über das normale Maß hinaus Zeit zu Hause verbringen müsse, könne eine Anrechnung in Teilen des Kindergeldes zu gewähren sein. Unter dem normalen Maße seien Aufenthalte während der Ferien und an den Wochenenden zu verstehen. Des Weiteren werde darauf hingewiesen, dass bereits im Jahr 2006 exakt bestimmt worden sei, dass Aufenthalte im Elternhaus an Wochenenden und in Ferienzeiten die stationäre Unterbringung nicht unterbrächen.
19
Mit Schreiben vom 1. September 2021 und vom 19. Oktober 2021 erbaten die Klägervertreter einen rechtsmittelfähigen Bescheid und wiederholten dazu im Wesentlichen ihre Äußerungen vom 19. August 2021.
20
Mit Bescheid vom 3. November 2021 lehnte der Beklagte den klägerischen Antrag auf Gewährung von Unterhaltsleistungen für die Wochenend- und Ferienaufenthalte des Klägers ab. Dies wurde im Wesentlichen damit begründet, dass das Pflegeelternverhältnis zwischen den Klägervertretern und dem Kläger durch die vollstationäre Unterbringung in einer Jugendhilfeeinrichtung nach § 35a SGB VIII geendet habe. Die Hauptaufgabe der Betreuung sei folglich auf die Jugendhilfeeinrichtung übertragen worden. Der Beklagte decke im Zuge der stationären Unterbringung des Klägers den kompletten Unterhalt ab. Des Weiteren übernehme er die Fahrtkosten für Besuche bei den Klägervertretern einmal im Monat. Die Klägervertreter begründeten den Antrag auch mit einem Rechtsgutachten der DIJuF, welches darauf basiere, dass die Besuche in der ehemaligen Pflegefamilie Bestandteil der Hilfe zur Erziehung seien, was im vorliegenden Fall nicht gegeben sei. Die Ausführungen des pädagogischen Fachdienstes der Jugendhilfeeinrichtung könnten zwar nachvollzogen werden, allerdings könne hieraus keine Weiterführung der Hilfe an den Besuchswochenenden konstruiert werden. Sowohl der Hilfeplan als auch der zuständige Fachdienst gingen weiter davon aus, dass die vollstationäre Unterbringung des Klägers bis zu seinem Schulabschluss andauern werde. Eine zeitnahe Rückkehr in seine ehemalige Pflegefamilie sei damit nicht vorgesehen. Ergänzend werde darauf hingewiesen, dass die Klägervertreter dem Kläger gegenüber nicht unterhaltsverpflichtet seien und die Möglichkeit hätten, über das Sozialamt einen entsprechenden Antrag auf Unterstützung zu stellen.
21
Am 8. November 2021 fand erneut eine Hilfeplankonferenz statt. Auf der Grundlage dieser Konferenz erstellte die Mitarbeiterin des Beklagten, Frau H., am 12. Dezember 2021 einen weiteren Hilfeplan. Im Rahmen dieser Hilfeplankonferenz wurde die derzeit geleistete Hilfe weiterhin als geeignet und notwendig eingestuft. Die Ergebnisse stimmen mit denen der Hilfeplankonferenz vom 17. Mai 2021 überein.
22
Zuletzt fand am 23.März 2023 eine Hilfeplankonferenz statt. Auf dieser Grundlage wurde der Hilfeplan vom 13. April 2023 erstellt. In dem Plan wurde unter der Überschrift „Sonstige Zielvereinbarungen“ festgehalten, dass der Kläger im 14-täigen Rhythmus seine ehemaligen Pflegeeltern besuchen darf, wenn er sich an die Regeln der Gruppe hält und einer der Erwachsenen zu Hause ist.
23
II. Am 18. November 2021 wurde klägerseits Klage zum Bayerischen Verwaltungsgericht Würzburg erhoben und zuletzt beantragt,
Der Beklagte wird unter Aufhebung des Bescheides vom 3. November 2021 verpflichtet, dem Kläger Eingliederungshilfe in Form der Kostenerstattung (Pflegekostensatz) für Aufenthalte in der Pflegefamilie für die Zeiträume vom 27. März bis 6. April 2021,
29.
Mai bis 6. Juni 2021,
14.
August bis 19. August 2021,
1.
September bis 13. September 2021,
23.
Dezember bis 9. Januar 2021,
11.
Februar bis 20. Februar 2022,
8.
April bis 18. April 2022,
3.
Juni bis 21. Juni 2022,
1.
August bis 7. August 2022,
18.
August bis 12. September 2022,
23.
Dezember bis 2. Januar 2023,
6.
April bis 17. April 2023
in Höhe von insgesamt 1.078,56 EUR zu gewähren.
Hilfsweise:
Der Beklagte wird unter Aufhebung des Bescheides vom 3. November 2021 dazu verpflichtet, über den Antrag des Klägers auf Kostenerstattung (Pflegekostensatz) für Aufenthalte in der Pflegefamilie für die Zeiträume
27. März bis 6. April 2021,
29.
Mai bis 6. Juni 2021,
14.
August bis 19. August 2021,
1.
September bis 13. September 2021,
23.
Dezember bis 9. Januar 2021,
11.
Februar bis 20. Februar 2022,
8.
April bis 18. April 2022,
3.
Juni bis 21. Juni 2022,
1.
August bis 7. August 2022,
18.
August bis 12. September 2022,
23.
Dezember bis 2. Januar 2023,
6.
April bis 17. April 2023
in Höhe von insgesamt 1.078,56 EUR unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts erneut zu entscheiden.
24
Dies wurde im Wesentlichen damit begründet, dass die Besuche des Klägers bei den Klägervertretern entgegen der Auffassung des Beklagten Bestandteil der Hilfe seien. Im Hilfeplan vom 17. Mai 2021 sei ausdrücklich zu lesen, dass der Kläger alle 14 Tage seine Pflegefamilie besuchen solle. Überdies seien die Klägervertreter dem Kläger gegenüber nicht unterhaltsverpflichtet. Auch sei die Verantwortung des öffentlichen Trägers der Jugendhilfe für die Annexleistung bei den Besuchen bei den ehemaligen Pflegeeltern nicht an eine Rückkehr des Kindes oder Jugendlichen in die Pflegefamilie gebunden. In dem Rechtsgutachten des DIJuF werde deutlich gemacht, dass die ehemalige Pflegefamilie als engeres soziales Umfeld des Klägers in die Gewährung der Hilfe einzubeziehen sei. Die Einbeziehung des sozialen Umfeldes sei in der vorhandenen Kommentarliteratur an keiner Stelle auf „Rückkehr in die Pflegefamilie“ begrenzt. Die Klägervertreter kämen auch ihrer Verpflichtung als Vormünder und ehemaligen Pflegeeltern nach. Diese Verantwortung beziehe sich allerdings nicht auf die Unterhaltssicherung bei längerfristigen Aufenthalten des Klägers in der Pflegefamilie. Auch die Verantwortung, als Vormund regelmäßig Kontakte mit dem Kläger zu halten, schließe nicht die Unterhaltssicherung bei längerfristigen Aufenthalten bei den Klägervertretern ein.
25
Der Beklagte beantragte,
die Klage abzuweisen.
26
Zur Begründung wurde im Wesentlichen ausgeführt, dass dem Kläger der geltend gemachte Anspruch nicht zustehe. Der Kläger begehre einen finanziellen Ausgleich für Betreuungskosten und Kosten der Lebenshaltung für die Zeiten, in denen er sich in den Ferien bei seinen ehemaligen Pflegeeltern aufhalte. Die Leistungen der Jugendhilfe seien fast ausschließlich Dienstleistungen. Lediglich die sogenannten Annexleistungen aus §§ 39, 40 SGB VIII seien Geldleistungen und würden nur in Kombination mit bestimmten anderen Hilfen aus dem Leistungskatalog des § 2 Abs. 2 SGB VIII gewährt werden. Gemäß § 39 Abs. 1 SGB VIII sei der außerhalb des Elternhauses anfallende Unterhalt sicherzustellen. Halte sich das Kind im elterlichen Haushalt auf, habe das Kind keinen Anspruch auf die Erstattung der Kosten seiner dortigen Verpflegung. Nicht übernommen werden könnten ferner die Kosten für monatliche Besuchskontakte. Diese Kosten seien gegebenenfalls nach dem Zweiten oder Zwölften Buch Sozialgesetzbuch zu übernehmen. Wenn für Eltern kein Anspruch auf die Erstattung der Kosten für Verpflegung und Besuchskontakte durch das Jugendamt bestehe, könne auch für ehemalige Pflegeeltern oder Vormünder keine andere Bewertung gelten. Etwas Anderes gelte nur dann, wenn das Pflegeverhältnis auch künftig ausdrücklicher Teil der Hilfe sei. Dies sei im vorliegenden Fall nicht gegeben. Aus dem Hilfeplanprotokoll und dem Aktenvermerk der zuständigen Fachkraft sei zu entnehmen, dass die stationäre Unterbringung für die Dauer der Schulzeit angedacht sei und nicht nur vorübergehend vorgesehen sei. Insbesondere das Scheitern des Pflegeverhältnisses zwischen den Klägervertretern und dem Kläger lasse nicht zweifelsfrei darauf schließen, dass eine Rückkehr nach erfolgreichem Abschluss der Schulzeit zwingend zu erwarten sei. Auch im letzten Hilfeplanprotokoll vom 8. November 2021 werde eine Rückkehr in absehbarer Zeit nicht thematisiert. Die Klägervertreter könnten auch keine Ansprüche aus dem Umstand herleiten, dass der Kontakt des Klägers zu ihnen wichtig sei. Ergänzend werde darauf hingewiesen, dass der Beklagte die Kontakte zu den Klägervertretern mittrage. Daher übernehme er zwei Heimfahrten pro Monat und habe für den ersten Ferienaufenthalt des Klägers bei seinen ehemaligen Pflegeeltern in den Weihnachtsferien 2020 eine einmalige Unterstützung geleistet. Den Beklagten treffe auch kein Anspruch auf „Verpflegungsgeld“, wie das Schreiben der Jugendhilfeeinrichtung suggeriere. Diese Einrichtung unterliege dem Rahmenvertrag gemäß § 78 f SGB VIII. Dort beinhalte § 13 Abs. 1, dass bei vorübergehender Abwesenheit an bis zu drei zusammenhängenden Tagen das volle Entgelt verrechnet werde und dem jungen Menschen ein Betrag in Höhe des anteiligen Regelsatzes oder als Sachleistung gewährt werde. Dieser Anspruch sei nach alledem gegen die Jugendhilfeeinrichtung zu richten. Das durch die Klägervertreter zitierte Gutachten der DIJuF weise einleitend darauf hin, dass dem Jugendhilfeträger keine Verpflichtung zur Gewährung von Unterhaltsleistungen für die Zeit von Besuchskontakte erwachse. Der Beklagte könne sich der in diesem Gutachten empfohlenen Betrachtungsweise der Fortführung der Hilfe durch die Besuchskontakte im vorliegenden Fall nicht anschließen. Die Klägervertreter seien für den Kläger wichtig. Der Förderung der Bindungen werde auch durch das Jugendamt bereits Rechnung getragen, indem es, wie zuvor aufgeführt, die Kosten für Heimfahrten teilweise übernehme und für die Weihnachtsferien 2020 eine einmalige Zuwendung geleistet habe. Da eine zeitnahe Rückkehr und ein Wiederaufleben eines Vollzeitpflegeverhältnisses derzeit nicht absehbar seien, könnten die Besuchskontakte nicht als Bestandteil der stationären Hilfe eingeordnet werden. Überdies seien die Klägervertreter als Vormünder dem Kläger gegenüber dazu verpflichtet, dessen Pflege und Erziehung persönlich zu fördern und zu gewährleisten. Zu diesem Aufgabenbereich gehöre auch, dass regelmäßige persönliche Kontakte stattfänden. Die Klägervertreter könnten für ihr Ehrenamt als Vormünder eine jährliche Aufwandsentschädigung beim zuständigen Amtsgericht beantragen.
27
Eine seitens des Gericht angeregte und angebotene Mediation wurde durch den Beklagten abgelehnt.
28
Im weiteren Verlauf des Verfahrens legten die Klägervertreter weitere Unterlagen vor, insbesondere eine fachärztliche Bescheinigung der Ärztin für Kinder- und Jugendpsychiatrie Dr. med. G. vom 24. November 2022 und eine fachliche Stellungnahme des Diplom – Psychologen F. vom 10. Mai 2022.
29
Im Übrigen wird auf das Protokoll über die mündliche Verhandlung vom 27. April 2023, auf das weitere schriftsätzliche Vorbringen der Parteien sowie auf den Inhalt der einschlägigen Verwaltungsakten des Beklagten, welche Gegenstand des Verfahrens waren, Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

I.
30
Streitgegenständlich ist die Verpflichtung des Beklagten zur Erstattung von Verpflegungskosten, die im Rahmen der im Einzelnen genannten Ferienaufenthalte des Klägers bei seinen ehemaligen Pflegeltern anfielen, unter Aufhebung des Bescheides vom 3. November 2021.
31
Kläger des vorliegenden Verfahrens ist … … Dies hat der Prozessbevollmächtigte der Klägerseite in der mündlichen Verhandlung vom 27. April 2023 klargestellt. Dies ging bis dahin aus dem schriftsätzlichen Vorbringen nicht eindeutig hervor. Eine Auslegung der Klageschrift vor dem Hintergrund des angegriffenen Bescheides war im Hinblick auf die Frage, wer Kläger im vorliegenden Verfahren ist, nicht möglich. Aus dem angegriffenen Bescheid vom 3. November 2021 lässt sich nicht eindeutig der Adressat bestimmen. Der Bescheid ist zwar an die Eheleute … und … R. adressiert, in dem Betreff hingegen heißt es „Heimerziehung § 35 a SGB VIII für … … geb. …; Ihr Antrag auf Annexleistungen bei stationärer Unterbringung von … …“. In der Begründung des Bescheides wird der Adressat nicht weitergehend konkretisiert.
32
Mit dieser erforderlichen Klarstellung durch den Klägerbevollmächtigten ist die Klage hinreichend bestimmt, § 82 Abs. 1 VwGO.
33
Auch den Streitgegenstand hat der Prozessbevollmächtigte des Klägers in der mündlichen Verhandlung vom 27. April 2023 klargestellt und dazu erläuternd ausgeführt, dass für die Wochenendaufenthalte des Klägers bei seinen ehemaligen Pflegeltern eine Verpflegungspauschale durch die Jugendhilfeeinrichtung ausgezahlt werde. Begehrt werden deshalb ausschließlich die pauschalierten Kosten in Höhe von insgesamt 1.078,56 € für die Verpflegung des Klägers während der Ferienaufenthalte bei seinen ehemaligen Pflegeeltern in den Zeiträumen 27. März bis 6. April 2021, 29. Mai bis 6. Juni 2021, 14. August bis 19. August 2021, 1. September bis 13. September 2021, 23. Dezember bis 9. Januar 2021, 11. Februar bis 20. Februar 2022, 8. April bis 18. April 2022, 3. Juni bis 21. Juni 2022, 1. August bis 7. August 2022, 18. August bis 12. September 2022, 23. Dezember bis 2. Januar 2023 und 6. April bis 17. April 2023. Für die Aufenthalte bis einschließlich 17. Juni 2021, also vor Vollendung seines dreizehnten Lebensjahres, begehrt der Kläger einen pauschalierten Tagessatz in Höhe von 6,23 EUR. Ab Vollendung des dreizehnten Lebensjahres, dem 18. Juni 2021, wird ein Tagessatz in Höhe von 7,67 EUR begehrt.
II.
34
Soweit der Kläger mit der Klage die Verpflichtung des Beklagten zur Übernahme der Verpflegungskosten für die im einzelnen aufgezählten Ferienaufenthalte bei seinen ehemaligen Pflegeeltern verfolgt, hat die Klage keinen Erfolg.
35
Die Verpflichtungsklage in Form der Versagungsgegenklage nach § 42 Abs. 1 Alt. 2 Uf. 1 VwGO ist zulässig.
36
Der Kläger ist klagebefugt. Eine Klage ist nur dann zulässig, wenn der Kläger geltend macht, durch die Ablehnung des Verwaltungsaktes in seinen Rechten verletzt zu sein (§ 42 Abs. 2 VwGO). Anders als bei der Anfechtungsklage ist bei der Verpflichtungsklage das als verletzt gerügte Recht identisch mit dem materiellen Anspruch, den der Kläger mit der Klage verfolgt. Der eingeklagte Verpflichtungsanspruch ist das durch die (rechtswidrige) Ablehnung des begehrten Verwaltungsakts verletzte subjektive öffentliche Recht (Wahl/Schütz in Schoch/Schneider, 43. EL August 2022, VwGO § 42 Rn. 53). Der Kläger muss dazu substantiiert behaupten, dass er einen Anspruch auf den Erlass des begehrten Verwaltungsakts hat. Nach seinem Vortrag darf es deshalb nicht ausgeschlossen sein, dass er in eigener Person möglicherweise eine Anspruchsnorm zu aktualisieren vermag (Wahl/Schütz in Schoch/Schneider, 43. EL August 2022, VwGO, § 42 Rn. 71).
37
Ein Anspruch des Klägers auf Erstattung der Verpflegungskosten für die Ferienaufenthalte bei seinen ehemaligen Pflegeeltern aus § 35a SGB VIII i.V.m. § 39 SGB VIII oder § 35a Abs. 3 SGB VIII i.V.m. § 113 Abs. 2 Nr. 9, § 115 SGB IX ist jedenfalls möglich.
38
Die Klage ist hinsichtlich des Hauptantrags unbegründet. Nach § 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO spricht das Gericht die Verpflichtung der Verwaltungsbehörde aus, die beantragte Leistung vorzunehmen, soweit die Ablehnung des Verwaltungsaktes rechtswidrig war und die Sache spruchreif ist. Der angegriffene Bescheid vom 3. November 2021 ist zwar mangels Ermessenausübung des Beklagten rechtswidrig. Die Spruchreife ist jedoch nicht gegeben.
39
Die Rechtsgrundlage für den angegriffenen Bescheid ist in § 35a Abs. 3 Achtes Buch Sozialgesetzbuch, neugefasst durch B.v. 11. September 2012 (BGBl. I S. 2022), zuletzt geändert durch Art. 1 Gesetz vom 21. Dezember 2022 (BGBl. I S. 2824) – SGV VIII – i.V.m. § 113 Abs. 2 Nr. 9, § 115 Neuntes Buch Sozialgesetzbuch i. d. F. d. Artikel 1 Gesetz vom 23. Dezember 2016 (BGBl. I S. 3234, Nr. 66), zuletzt geändert durch Artikel 4 G. vom 20. Dezember 2022 (BGBl. I S. 2560) – SGB IX – zu sehen und nicht in §§ 35a, 39 SGB VIII.
40
1. Der Kläger hat keinen Anspruch auf Grundlage der §§ 35a, 39 SGB VIII. Diese Vorschriften können nur dann Rechtsgrundlage für die Übernahme von Verpflegungskosten sein, wenn die Ferienaufenthalte des Klägers bei seinen ehemaligen Pflegeeltern Bestandteil des Gesamtkonzeptes der gewährten Eingliederungshilfe sind. Das Gericht kommt nach umfassender Würdigung des Vortrages der Parteien und des Inhaltes der beklagtenseits vorgelegten Behördenakte zu dem Ergebnis, dass die Ferienheimfahrten des Klägers nicht Bestandteil des Gesamtkonzeptes der Eingliederungshilfe sind und deshalb die begehrten Verpflegungskosten keine Annex-Leistungen darstellen.
41
Die Eingliederungshilfe nach § 35a SGB VIII ist ein eigenständiger Leistungstatbestand für seelisch behinderte oder von einer solchen Behinderung bedrohte Kinder und Jugendliche. Die Aufgabe der Eingliederungshilfe ist es, den Leistungsberechtigten eine individuelle Lebensführung zu ermöglichen, die der Würde des Menschen entspricht, und die volle, wirksame und gleichberechtigte Teilhabe am Leben in der Gesellschaft zu fördern (von Koppenfels-Spies in Schlege/Voelzke jurisPK-SGB VIII, 3. Auflage 2022, § 35a Rn. 67; Wiesner in Wiesner/Wapler, SGB VIII, 6. Aufl. 2022, § 35a Rn. 108). Auf der Grundlage der jeweiligen Anforderungen im Einzelfall werden Konzepte erarbeitet, um dieser Aufgabe gerecht zu werden. Zum Erreichen einer individuellen Lebensführung und einer gleichberechtigen Teilhabe des Leistungsberechtigen an dem Leben in der Gesellschaft können Fahrten zu Angehörigen oder engen Bezugspersonen zwingend erforderlich sein. Die erforderlichen Fahrten werden in das für den jeweiligen Leistungsberechtigten zu erarbeitende Gesamtkonzept der Eingliederungshilfe eingebunden.
42
Nach § 39 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 Satz 1 SGB VIII ist der gesamte regelmäßig wiederkehrende Bedarf durch laufende Leistungen zu decken. Annex-Leistungen zu § 35a SGB VIII stehen in einem engen Zusammenhang mit dem Eingliederungshilfebedarf des Kindes oder des Jugendlichen. Dies bedeutet, dass derartige Leistungen nicht allgemein der Sicherstellung des notwendigen Lebensunterhalts dienen, sondern dass sie nur deshalb gewährt werden, weil und wenn sie in einem engen und unmittelbaren Zusammenhang mit der pädagogischen Leistung stehen. Der Träger der Jugendhilfe hat im Rahmen des § 35a SGB VIII lediglich dafür einzustehen, dass der Bedarf an Eingliederungshilfe erfüllt wird. Was diesem Bedarf nicht dient, kann deshalb dem Träger der Jugendhilfe nicht aufgebürdet werden (VG Würzburg, U.v. 7.4.2022 – W 3 K 20.1834 – BeckRS 2022, 11121 Rn. 42; Wiesner in Wiesner/Wapler, SGB VIII, 6. Aufl. 2022, § 39 Rn. 9f.; VG des Saarlandes, GB v. 12.1.2011 – 3 K 1193/10 – juris Rn. 7; VG Göttingen, U.v. 11.11.2008 – 2 A 74/07 – juris Rn. 26). Besuchsfahrten im Rahmen von Umgangskontakten mit einem vollstationär untergebrachten Kinde gehören – wenn sie Teil des pädagogischen Konzepts der Eingliederungshilfemaßnahme sind – zu einem solchen regelmäßig wiederkehrenden Bedarf und sind deshalb nicht separat und zusätzlich zu bezahlen (Kunkel /Pattar in LPK-SGB VIII, 8. Aufl. 2022, § 39 Rn. 12 m.w.N.). Dies gilt nicht nur für die Fahrtkosten, sondern auch für weitere, durch regelmäßige Umgänge entstehende Kosten (VG Würzburg, U.v. 7.4.2022, W 3 K 20.1834 – BeckRS 2022, 11121 mit Verweis auf Kunkel /Pattar a.a.O Rn. 12). Soweit Heimfahrten Teil der Eingliederungshilfe sind, können auf der Grundlage von §§ 35a, 39 SGB VIII neben den anfallenden Fahrtkosten auch die Kosten, die im Rahmen der Umgänge für die Verpflegung des Leistungsberechtigten anfallen, von dem Beklagten übernommen werden.
43
Aus Sicht des Gerichts sind die Ferienaufenthalte des Klägers bei seiner ehemaligen Pflegefamilie nicht Bestandteil der Eingliederungshilfe, sondern bewegen sich im Rahmen üblicher Familienheimfahrten zur Aufrechterhaltung familiärer Bindungen, ohne einen besonderen Bestandteil im pädagogischen Gesamtkonzept einzunehmen. Ob dies auch für die Wochenendaufenthalte des Klägers bei seinen ehemaligen Pflegeeltern gilt, kann offenbleiben, weil die Erstattung der Kosten für die Verpflegung des Klägers am Wochenende nicht streitgegenständlich ist.
44
Die Klägervertreterin trägt in der mündlichen Verhandlung vor, dass zwischen den Klägervertretern und der Einrichtung ein enger Kontakt bestehe. Die Einrichtung stelle für die Wochenendaufenthalte Regeln auf, die die Pflegefamilie gemeinsam mit dem Kläger um- und durchsetzten. Hält sich der Kläger nicht an die vereinbarten Regeln während der Wochenendaufenthalte oder verstößt der Kläger gegen die in der Einrichtung geltenden Regeln, finden für einen von der Einrichtung bestimmten Zeitraum keine Heimfahrten statt. Dies gilt insbesondere für die Wochenendaufenthalte des Klägers, die nicht streitgegenständlich sind. Rückschlüsse für die Einordnung der streitgegenständlichen Ferienaufenthalte lassen sich daraus nicht ziehen.
45
Im Rahmen der Einordnung der Ferienheimfahrten spielt es keine Rolle, dass die Klägervertreter als Vormünder auf zivilrechtlicher Grundlage (§ 1793 Abs. 1a BGB) dazu verpflichtet sind, zu dem Kläger persönlichen Kontakt zu halten. Dafür sind die Heimfahrten in den Ferien jedenfalls nicht erforderlich.
46
Weiterhin spielt die Aufwandsentschädigung, die die Klägervertreter für ihre Tätigkeit als Vormünder von dem zuständigen Amtsgericht – Familiengericht – erhalten, keine Rolle.
47
Aus der dem Gericht vorliegenden Behördenakte des Beklagten gehen keine Anhaltspunkte hervor, die darauf hindeuten, dass die Heimfahrten des Klägers in den Ferien originärer Bestandteil der gewährten Eingliederungshilfe sind.
48
In der vorlegten Behördenakte befindet eine Stellungnahme vom 16. Juni 2020, die die Dipl.-Sozialpädagogin S. im Rahmen der Überprüfung der geeigneten Hilfeform für den Kläger nach der Beendigung der Vollzeitpflege durch die Pflegeeltern R. erstellte. Unter „Einschätzung/Empfehlung“ wird darin aufgeführt, dass die Familie R., bestehend aus Herrn und Frau R. sowie den beiden Kindern … und …, zu der Familie des Klägers geworden sei, dies vor dem Hintergrund, dass der Kläger keinen Kontakt mehr zu seinen leiblichen Eltern habe. Der Bezug des Klägers zu der Familie R. solle deshalb aus Sicht der Pädagogin bestehen bleiben, indem der Kläger regelmäßige Heimfahrten an den Wochenenden und in den Ferien mache. Die Schullaufbahn solle der Kläger in der Jugendhilfeeinrichtung beenden, anschließend sei zu prüfen, ob eine Rückkehr in die Familie R. möglich sei, um von dort aus eine Berufsausbildung zu absolvieren. Aus der Einschätzung der Pädagogin ergibt sich aus Sicht des Gerichts, dass durch die Besuche an den Wochenenden und in den Ferien der bestehende familiäre Kontakt des Klägers zu seiner ehemaligen Pflegefamilie aufrecht erhalten bleiben soll. Eine Anregung der Pädagogin, den Heimfahrten im pädagogischen Gesamtkonzept der noch zu gewährenden Hilfe eine besondere Stellung zuzumessen, ist nicht erkennbar.
49
Ausweislich des Protokolls, welches im Rahmen des Vorstellungstermins im Jugendhilfezentrum Pfaffendorf am 16. Juli 2020 erstellt wurde, wurde zwischen den ehemaligen Pflegeeltern und der Jugendhilfeeinrichtung abgestimmt, dass wöchentliche Telefonkontakte der Einrichtung mit den ehemaligen Pflegeeltern des Klägers stattfinden werden und der Kläger sowohl an einzelnen Wochenenden als auch in den Ferien zu seinen ehemaligen Pflegeeltern heimfahre werde. Der Kläger und seine Pflegefamilie könnten sich bei guter Mitarbeit eine zweite Wochenendheimfahrt im Monat verdienen. Im Gegensatz dazu könne die Heimfahrt gestrichen werden, wenn sich der Kläger nicht an die Regeln in der Einrichtung halte. Ob dies ausschließlich für die Wochenendheimfahrten oder auch für die streitgegenständlichen Ferienheimfahrten gilt, geht aus dem Bericht nicht eindeutig hervor. Diese Absprachen, die zwischen der Einrichtung und den ehemaligen Pflegeeltern des Klägers getroffen wurden, binden den Beklagten nicht.
50
Ausweislich des Berichts der Jugendhilfeeinrichtung Pfaffendorf vom 22. Juli 2021 stellten Herr und Frau R. für den Kläger in seinem Beziehungserleben die Eltern dar, da diese die einzigen Bezugspersonen seien, von welchen der Kläger elterliche Fürsorge erfahren habe. Die ehemaligen Pflegeltern des Klägers seien nicht nur dessen Vormünder, sondern auch Ansprechpartner für die Jugendhilfeeinrichtung in allen Angelegenheiten, wobei für die Einrichtung qualitativ kein Unterschied zu der Elternarbeit mit den (leiblichen) Eltern anderer Klienten bestünde. Aus pädagogischer Sicht der Einrichtung seien regelmäßige Beurlaubungen des Klägers zu der Familie R. wichtig, damit nicht nur der Kontakt erhalten bleibe, sondern die Familie auch das Leben des Klägers weiterhin begleiten könne. Die Beurlaubungen seien grundlegend wichtige Bausteine für die Entwicklung des Klägers und die pädagogische Arbeit der Einrichtung. Weitergehende Erläuterungen werden zu dieser Einschätzung nicht gemacht, sodass sich die grundlegende Bedeutung und die mögliche Rolle, die die Heimfahrten im Gesamtkonzept der Eingliederungshilfe haben, nicht erschließen lässt.
51
Anhaltspunkte dafür, ob Heimfahrten Bestandteil des Konzeptes der Eingliederungshilfe sind, können regelmäßig dem Hilfeplan, der der gewährten Hilfe zugrunde liegt, entnommen werden. Der Hilfeplan ist ein Instrument der Bedarfsfeststellung und enthält deshalb Elemente, die die Entscheidung über die geeignete und notwendige Hilfe vorbereiten (Gallep in Wiesner/Wapler, SGB VIII, 6. Aufl. 2022, § 36 Rn. 78). Zugleich konkretisiert der Hilfeplan die Entscheidung über die zu gewährende Eingliederungshilfe, indem er die im Einzelnen erforderlichen pädagogischen und therapeutischen Leistungen konkretisiert und die Verhaltenspflichten der verschiedenen, an dem Hilfeprozess beteiligten Personen und Institutionen fixiert (Gallep in Wiesner/Wapler, SGB VIII, 6. Aufl. 2022, § 36 Rn. 78; BayVGH, B.v. 26.1.2000 – 12 CE 98.2498 – BeckRS 2000,23426, Rn. 47). Ein Hilfeplan nach § 36 Abs. 2 SGB VIII, der Feststellungen über den Bedarf, die zu gewährende Art der Hilfe und die notwendigen Leistungen enthält, dient somit als Grundlage für die Ausgestaltung der zu gewährenden Hilfe.
52
Im vorliegenden Fall wurden am 29. Juli 2021, 12. Dezember 2021 und 23. März 2023 Hilfepläne aufgestellt. Diese zieht das Gericht zu der Einordnung der Heimfahrten des Klägers in den Ferien zu seinen ehemaligen Pflegeeltern heran.
53
Der Inhalt der Hilfepläne kann bei der vorliegenden Entscheidung berücksichtigt werden. Die Hilfepläne sind entgegen der Auffassung des Klägerbevollmächtigen nicht wegen fehlender Zuziehung eines Facharztes mangelhaft. Voraussetzung für die Gewährung von Eingliederungshilfe zugunsten eines Kindes oder Jugendlichen ist gemäß § 35a Abs. 1a SGB VIII die Einholung eines ärztlichen oder psychotherapeutischen Gutachtens (Bohnert in BeckOK, SGB VIII, Stand 1.1.23, § 36 Rn. 46; Kunkel/Kepert in Kunkel/Kepert/Pattar, SGB VIII, 8. Aufl. 2022, § 36 Rn. 50). Am Hilfeplanverfahren selbst soll nach § 36 Abs. 4 SGB VIII die Person, die eine Stellungnahme nach § 35a Abs. 1a SGB VIII abgegeben hat, beteiligt werden. Das Jugendamt muss in der Regel („soll“) die mit der Stellungnahme befassten Ärzte bzw. Psychotherapeuten am Hilfeplanverfahren beteiligen. Ob die mit der Stellungnahme befassten Personen von ihrem Recht auf Beteiligung Gebrauch machen, steht ihnen frei (von Koppenfels-Spies in Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB VIII, 3. Aufl. 2022, § 36 SGB VIII, Rn. 56). Es ergibt sich insbesondere aus § 36 Abs. 4 SGB VIII nicht die Pflicht der Person, die die Stellungnahme nach § 35a Abs. 1a SGB VIII abgegeben hat, zu einer Beteiligung an dem Gespräch (Bohnert in BeckOK SGB VIII, Stand 1.1.2023, § 36 Rn. 46ff.; Gallep in Wiesner/Wapler, SGB VIII, 6. Aufl. 2022, § 36 Rn. 56ff.).
54
Im Hilfeplan vom 29. Juli 2021 wird unter „Familiärer Bereich“ ausgeführt, dass zwischen dem Kläger und seiner langjährigen Pflegefamilie guter Kontakt bestehe und wöchentlich Telefonate stattfänden. Seit der Aufnahme des Klägers in die Einrichtung habe sich das Verhältnis zwischen dem Kläger und seinen ehemaligen Pflegeeltern entspannt. Die Beurlaubungen des Klägers zu der Familie R. seien durchwachsen. Zu Beginn der Wochenenden gebe sich der Kläger noch viel Mühe, gegen Ende nähmen die problematischen Verhaltensweisen zu. Ein Verstärkerplan und eine Zielvereinbarung für die Beurlaubungen konnten ausweislich des Hilfeplanes bereits Erfolge erzielen.
55
Das Gericht geht davon aus, dass es sich bei den angesprochenen Beurlaubungen nicht um die Ferienheimfahrten, sondern um Heimfahrten an den Wochenenden handelt, dies vor dem Hintergrund, dass anschließend ein Vergleich zwischen der Situation zu Beginn und am Ende des Wochenendes gezogen wird.
56
Aus den vorliegenden Hilfeplänen ergibt sich darüber hinaus, dass die Erziehung und die Förderung des Klägers schwerpunktmäßig in der Einrichtung selbst stattfindet.
57
Insgesamt ergibt sich somit aus der Behördenakte, dass die Heimfahrten für die Aufrechterhaltung der bestehenden familiären Bindung zwischen dem Kläger und der Familie R. eine wichtige Bedeutung haben, im Rahmen des Gesamtkonzeptes der gewährten Eingliederungshilfe hingegen keine Rolle spielen. Ziel der Ferienheimfahrten ist ausweislich der in der Behördenakte enthaltenen Protokolle und Stellungnahmen – wie dies auch üblicherweise bei Heimfahrten eines vollstationär untergebrachten Jugendlichen zu seiner leiblichen Familie der Fall ist – die Aufrechterhaltung und Förderung der familiären Bindung. Hierfür ist regelmäßiger Kontakt, der über wöchentliche (Video-)Telefonate hinausgeht, maßgeblich.
58
Die Beklagtenvertreter berichten in der mündlichen Verhandlung, dass nach der Einschätzung der zuständigen Pädagogin des Beklagten die Familienheimfahrten an den Wochenenden nicht originärer Bestandteil der Eingliederungshilfe sind.
59
Die zwingende Erforderlichkeit der Heimfahrten für die Eingliederung des Klägers ergibt sich auch nicht aus den klägerseits vorgelegten Stellungnahmen. Die Diplom-Psychologin Dr. med. G., die den Kläger nach eigenen Abgaben in dem Zeitraum vom Februar 2016 bis August 2019 behandelt hat, fasst in ihrer Stellungnahme vom 24. November 2022 im Wesentlichen die wichtigsten Ereignisse im Leben des Klägers und die gestellten Diagnosen zusammen. Sie geht davon aus, dass die Finanzierung der Besuchskontakte zwingend erforderlich ist, um dem Wunsch des Klägers nachzukommen, die familiären Bindungen aufrecht zu halten und zu stärken. Dies spricht aus Sicht des Gerichts dafür, dass die Heimfahrten sowohl an den Wochenenden als auch in den Ferien nicht notwendig sind, um die Ziele der Eingliederungshilfe zu erreichen.
60
Aus der Stellungnahme des Dipl.-Psych. F. ergibt sich, dass die Aufrechterhaltung der langjährigen Beziehung des Klägers zu seinen Pflegeeltern neben der Betreuungseinrichtung eine fördernde Umgebung darstellt, die neben einer kontinuierlichen, einfühlenden Betreuung dazu beitragen kann, die Verhaltensauffälligkeiten des Klägers zurückzubilden. Der Psychologe hält deshalb die regelmäßigen Kontakte des Klägers zu seiner ehemaligen Pflegefamilie für förderlich. Aus dieser Stellungnahme lässt sich nicht entnehmen, dass die Besuchskontakte Bestandteil des pädagogischen Gesamtkonzeptes der Eingliederungshilfe sind. Insbesondere geht aus der Stellungnahme nicht hervor, dass die Besuchskontakte für den Kläger eine Bedeutung haben, die über die Bedeutung der üblichen Familienheimfahrten hinausgeht.
61
Insgesamt besteht zwischen den Klägervertretern und dem Beklagten Einigkeit darüber, dass die Verbindung zwischen dem Kläger und den Klägervertretern erhaltensbedürftig ist, dies vor dem Hintergrund, dass der Kläger keinen Kontakt zu seiner leiblichen Familie hat und die Klägervertreter in die Rolle der Familie eintreten. Zum Erhalt dieser Bindung sind die Heimfahrten sowohl an den Wochenenden als auch in den Ferien förderlich. Die Klägervertreter bemühen sich sehr darum, diesen Kontakt zu dem Kläger aufrecht zu erhalten. Zu diesem Zwecke halten sie dem Kläger bei sich zu Hause ein eigenes Zimmer vor, nehmen den Kläger mit in Urlaube und bemühen sich darum, dass der Kläger an wichtigen Familienfesten teilnehmen kann. Die Heimfahrten des Klägers an den Wochenenden und insbesondere in den Ferien gehen dabei nicht über das übliche Maß vom Familienheimfahrten vollstationär untergebrachter Kinder und Jugendlicher hinaus. Die Ferienheimfahrten liegen fast ausnahmslos in dem Zeitraum der Schulferien, wobei der Kläger nicht immer für die gesamte Ferienzeit nach Hause fährt.
62
Vor dem Hintergrund der geschilderten Aspekte ist davon auszugehen, dass der Zweck der Heimfahrten des Klägers nicht über das Aufrechterhalten der bestehenden familiären Bindung zu seiner ehemaligen Pflegefamilie hinausgeht. Insbesondere nimmt die Heimfahrt des Klägers in den Ferien keine besondere Rolle im Rahmen der gewährten Eingliederungshilfe ein. Anspruchsgrundlage für die begehrten Verpflegungskosten ist damit nicht §§ 35a, 39 SGB VIII.
63
2. Der Kläger kann sich mit seinem Begehren auf §§ 35a Abs. 3 SGB VIII i.V.m. § 113 Abs. 2 Nr. 9, § 115 SGB IX stützen. Allerdings besteht auf dieser Grundlage kein gebundener Anspruch des Klägers auf die Übernahme der Verpflegungskosten der im Einzelnen aufgeführten Ferienaufenthalte bei seiner ehemaligen Pflegefamilie.
64
a) Die Heimfahrten des Klägers in den Ferien dienen zur Aufrechterhaltung familiärer oder sonstiger enger Bindungen, sodass die Anspruchsgrundlage für die Erstattung von Kosten, die mit diesen Fahrten im Zusammenhang stehen, in § 35a Abs. 3 SGB VIII i.V.m. § 113 Abs. 2 Nr. 9, § 115 SGB IX zu sehen ist.
65
Nach § 35a Abs. 3 SGB VIII richten sich die Art und Form der Leistungen nach Kapitel 6 des Teil 1 des Neunten Buches sowie § 90 und den Kapiteln 3 bis 6 des Teils 2 des Neunten Buches, soweit diese Bestimmungen auf seelisch behinderte oder von einer solchen Behinderung bedrohten Personen Anwendung finden und sich aus diesem Buch nichts Anderes ergibt.
66
Im Rahmen der Verweisung in § 35a Abs. 3 SGB VIII können Leistungen aus dem gesamten Leistungskatalog der vier in § 5 Nrn. 1, 2, 4 und 5 SGB IX genannten Leistungsgruppen in Betracht kommen. Davon umfasst sind auch Leistungen zur sozialen Teilhabe wie beispielsweise Besuchshilfen.
67
Nach § 115 SGB IX können den Leistungsberechtigten oder ihren Angehörigen zum gegenseitigen Besuch Beihilfen geleistet werden, wenn Leistungen über Tag und Nacht erbracht werden und soweit die Besuchshilfen im Einzelfall erforderlich sind. Durch Besuchsbeihilfen können die Kosten, die durch den Besuch des Leistungsberechtigen bei seinen Angehörigen entstehen, im Einzelfall übernommen werden (§ 113 Abs. 2 Nr. 9, § 115 SGB IX). Die Besuchsbeihilfen gehören zu den Leistungen zur sozialen Teilhabe.
68
Die Besuchsbeihilfen umfassen neben den Fahrtkosten, die von dem Beklagten bereits übernommen werden, auch die Verpflegungskosten und ggf. die Unterkunftskosten (BVerwG, U. v. 11.3.1970 – V C 112.69 – BVerwGE 25, 28). Nach dem Wortlaut des § 115 SGB IX sind Beihilfen nur für Besuchsfahrten der Leistungsberechtigten und naher Angehöriger zu leisten. Der Wortlaut dieser Norm ist zu eng gefasst. Sinn und Zweck der Vorschrift ist es, den leistungsberechtigten Kindern und Jugendlichen die Aufrechterhaltung des Kontaktes zu ihren Eltern und sonstigen Bezugspersonen zu ermöglichen (Wiesner in Wiesner/Wapler, 6. Aufl. 2022, SGB VIII § 35a Rn. 140; Bohnert in BeckOK SGB VIII, Stand 1.1.2023, § 35a Rn. 105).
69
Gegenüber dem Gesamtziel der Eingliederung ist ein wichtiges Teilziel der Eingliederungshilfe die Teilnahme des Hilfeempfängers am Leben in der Gemeinschaft. Die Leistungen zur sozialen Teilhabe tragen zum Erreichen dieses Teilziels bei. Zu den Leistungen zur sozialen Teilhabe gehört die Förderung umfassender Kontakte des Leistungsempfängers zu seiner Umwelt. Dies bezieht sich auch auf die Kontakte zu Familie und Freunden. (Stähr in Hauck/ Noftz SGB VIII, Werkstand: Juni 2020, § 35a Rn. 52f.; Wiesner in Wapler/Wiesner, 6. Aufl. 2022, SGB VIII § 35a Rn. 135).
70
Wenn die Einrichtung nicht in der Nähe des Wohnortes des Leistungsberechtigten und seiner Angehörigen liegt, kann die Aufrechterhaltung des Kontaktes zu den Eltern oder vergleichbaren Bezugspersonen für die Entwicklung des Jugendlichen von großer Bedeutung sein, sodass die Leistung von Besuchsbeihilfe erforderlich ist (Stähr in Hauck/ Noftz SGB VIII, Werkstand: Juni 2020, § 35a Rn. 52f.). Nicht erforderlich ist in diesem Zusammenhang, dass die Besuchsfahrt für die Eingliederung des Jugendlichen notwendig ist, vielmehr ist ausreichend, wenn die Besuchsfahrt zumindest nützlich ist (von Koppenfels-Spies in Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB VIII, 3. Aufl. 2022, § 35a SGB VIII, Rn. 87 mit Verweis auf BVerwG, U.v. 11.3.1970 – V C 112.69 – BVerwGE 35, 99).
71
Deshalb sind auch die Ferienheimfahrten des Klägers zu seiner ehemaligen Pflegefamilie, die für den Kläger die psychologische Familie ist, unter die Norm zu subsumieren.
72
Anspruchsinhaber der Besuchshilfen nach § 35a Abs. 3 SGB VIII i.V.m. § 113 Abs. 2 Nr. 9, § 115 SGB IX ist jedenfalls der Kläger selbst. Nicht entscheidend ist, ob neben dem Kläger selbst auch seinen Vertretern ein Anspruch auf Besuchshilfen zusteht (so beispielsweise Kaiser in BeckOK Sozialrecht SGB IX, 68. Ed. 1.3.2023, SGB IX § 115 Rn. 1).
73
Damit kann sich der Kläger auf § 35a Abs. 3 SGB VIII i.V.m. § 113 Abs. 2 Nr. 9, § 115 SGB IX stützen.
74
b) Allerdings gewährt ihm diese Anspruchsgrundlage keinen gebundenen Anspruch auf Gewährung der begehrten Leistung. Die Entscheidung über die Gewährung einer Besuchshilfe nach § 35a Abs. 3 SGB VIII i.V.m. § 113 Abs. 2 Nr. 9, § 115 SGB IX ermöglicht dem Beklagten das Recht und die Pflicht, ermessensfehlerfrei über den Antrag zu entscheiden. Dabei hat er sein Ermessen entsprechend dem Zweck der Ermächtigung auszuüben und die gesetzlichen Grenzen des Ermessens einzuhalten (vgl. Art. 40 BayVwVfG bzw. § 40 VwVfG, welche im Zehntes Buch Sozialgesetzbuch allerdings keine Entsprechung haben). Da die Ermessensausübung des Beklagten fehlerhaft ist, ist der angegriffene Bescheid vom 3. November 2021 rechtswidrig.
75
Ein Ermessensfehler liegt dann vor, wenn die Behörde überhaupt kein Ermessen ausgeübt hat (sog. Ermessensausfall), wenn sie die gesetzlichen Grenzen des Ermessens überschritten hat (sog. Ermessensüberschreitung) oder wenn sie die Bandbreite ihrer Handlungsmöglichkeiten unterschätzt, also irrtümlich bestimmte Anordnungen für unzulässig gehalten hat (Ermessensunterschreitung). Ein Ermessensfehler liegt zudem dann vor, wenn die Behörde nicht alle nach Lage des Falles betroffenen Belange in ihre Entscheidung eingestellt, sie ihre Entscheidung also auf einer unzureichenden Tatsachengrundlage getroffen hat und schließlich, wenn von dem durch die Befugnisnorm eingeräumten Ermessen nicht in einer dem Zweck der Ermächtigung entsprechenden Weise Gebrauch gemacht worden ist, die Behörde sich also von sachfremden Erwägungen hat leiten lassen oder ein Belang willkürlich falsch gewichtet (sog. Ermessenfehlgebrauch) worden ist (vgl. Ruthig in Kopp/Schenke, VwGO, 28. Aufl. 2022, § 114 Rn. 14 ff., Schübel-Pfister in Eyermann, VwGO, 16. Aufl. 2022, § 114 Rn. 16ff.).
76
Ob die Ermessensausübung im Einzelfall pflichtgemäß oder fehlerhaft erfolgt, lässt sich nur anhand der nach § 35 Abs. 1 Satz 3 SGB X erforderlichen Begründung ermitteln (Ruthig, a.a.O., § 114 Rn. 14 ff.; Decker in Posser/Wolff, VwGO, 2. Aufl. 2014, § 114 Rn. 10 m.w.N.). Eine bezüglich der Ermessensausübung fehlende oder unzureichende Begründung indiziert einen Ermessensnicht- oder -fehlgebrauch, sofern sich nicht aus den Umständen anderes ergibt. Fehlt in einer gegebenen Begründung ein wesentlicher Gesichtspunkt, so spricht dies für die Annahme, dass dieser Punkt auch tatsächlich übersehen wurde (Schübel-Pfister, a.a.O., § 114 Rn. 23).
77
Ist eine Ermessensausübung im angefochtenen Bescheid vorhanden, ist sie allerdings defizitär, kann die Verwaltungsbehörde gemäß § 114 Satz 2 VwGO ihre Ermessenserwägungen hinsichtlich des Verwaltungsakts auch noch im verwaltungsgerichtlichen Verfahren ergänzen. Voraussetzung für ein derartiges Nachschieben von Ermessenserwägungen im Gerichtsverfahren ist, dass die nachgeschobenen Erwägungen, die bereits bei Bescheidserlass vorlagen, den Verwaltungsakt nicht in seinem Wesen verändern und dass durch die Berücksichtigung der nachgeschobenen Erwägungen im Prozess die Rechtsverteidigung des Betroffenen nicht beeinträchtigt wird (Schübel-Pfister, a.a.O., § 114 Rn. 89 m.w.N.).
78
In dem angegriffenen Bescheid vom 3. November 2021 geht der Beklagte davon aus, dass die Besuche des Klägers bei seinen ehemaligen Pflegeeltern kein Bestandteil von Hilfe zur Erziehung sind und stellt darauf ab, dass eine zeitnahe Rückkehr des Klägers in seine ehemalige Pflegefamilie nicht in Betracht kommt. Der Beklagte erkennt weder, dass neben der gewährten Eingliederungshilfe nach § 35a Abs. 3 SGB VIII i.V.m. § 113 Abs. 2 Nr. 9, § 115 SGB IX Besuchshilfen gewährt werden können, noch, dass die Entscheidung über die Gewährung von Besuchshilfen nach pflichtgemäßem Ermessen getroffen werden muss. Der Beklagte hat seinen Ermessenspielraum nicht erkannt und infolge dessen überhaupt kein Ermessen ausgeübt. Es liegt ein Ermessensfehler in Form des Ermessensausfalls vor. Unabhängig davon, ob das Nachschieben von Ermessenserwägungen im gerichtlichen Verfahren vorliegend möglich wäre, hat der Beklagte keine Ermessenserwägungen nachgeschoben.
79
Da der Beklagte jedoch zur Ausübung seines Ermessens nicht nur berechtigt, sondern auch verpflichtet ist, handelt er grundsätzlich rechtswidrig, wenn er dies verkennt (Schübel-Pfister, a.a.O., § 114 Rn. 17).
80
Der Beklagte kann zum Erlass des begehrten Verwaltungsaktes nur dann verpflichtet werden, wenn die Sache spruchreif ist (§ 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO). Dies ist aufgrund des Ermessensspielraumes, welcher dem Beklagten zusteht, nur dann der Fall, wenn dieser Ermessensspielraum im Einzelfall ausnahmsweise auf Null reduziert ist (Schübel-Pfister, a.a.O., § 114 Rn. 19 m.w.N.; Decker in Posser/Wolff, VwGO, 2. Aufl. 2014, § 114 Rn. 18). Eine solche Ermessensreduzierung liegt vor, wenn von den grundsätzlich eröffneten Handlungsmöglichkeiten im Einzelfall alle bis auf eine ermessensfehlerhaft und damit rechtswidrig sind. Der gesetzlich eingeräumte behördliche Ermessensspielraum schrumpft damit auf Null, sodass die Behörde strikt verpflichtet ist, im Sinne der verbleibenden Handlungsmöglichkeit tätig zu werden. Jede andere Entscheidung wäre im konkreten Einzelfall als rechtswidrig anzusehen. Die Annahme einer solchen Ermessensreduktion ist insgesamt restriktiv zu handhaben und kann nur ausnahmsweise angenommen werden. Eine Reduzierung des Ermessens auf Null setzt deshalb grundsätzlich außergewöhnliche Umstände, die Gefährdung eines hohen Rechtsguts oder eine besondere Intensität der Störung voraus (Geis in Schoch/Schneider, Verwaltungsrecht, Werkstand: 1. EL August 2021, § 40 Rn. 37, Sachs in Stelkens/Bonk/Sachs, VwVfG, 9. Aufl. 2018, § 40 Rn. 102a, 102b m.w.N.; Aschke in Bader/Ronellenfitsch, BeckOK VwVfG, 54. Edition, Stand: 1.1.2022, § 40 Rn. 73 m.w.N.). Für derart außergewöhnliche Umstände sind im vorliegenden Fall keine Anhaltspunkte erkennbar.
81
Mangels Spruchreife kann der Beklagte von dem Gericht zur Übernahme der Verpflegungskosten für die im Einzelnen aufgeführten Ferienaufenthalte des Klägers bei seinen ehemaligen Pflegeeltern nicht verpflichtet werden. Die Klage hat daher in ihrem Hauptantrag keinen Erfolg.
III.
82
Der Hilfsantrag hat Erfolg. Der Kläger hat einen Anspruch darauf, den Beklagten zu verpflichten, unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts erneut über die Übernahme der Verpflegungskosten für die im Einzelnen aufgeführten Ferienaufenthalte des Klägers bei seinen ehemaligen Pflegeeltern zu entscheiden.
83
Die Klage ist im Hinblick auf den hilfsweise gestellten Verbescheidungsantrag zulässig und begründet. Das Gericht spricht nach § 113 Abs. 5 Satz 2 VwGO die Verpflichtung des Beklagten aus, unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts erneut zu entscheiden, weil der angegriffene Bescheid vom 3. November 2021 ermessensfehlerhaft, die Sache aber nicht spruchreif ist.
84
Die Rechtsgrundlage für die Übernahme der Verpflegungskosten für die Ferienaufenthalte des Klägers bei seinen ehemaligen Pflegeeltern ist, wie oben im Einzelnen ausgeführt, § 35a Abs. 3 SGB VIII i.V.m. § 113 Abs. 2 Nr. 9, § 115 SGB IX. Diese Vorschrift räumt dem Beklagten das Recht und die Pflicht ein, ermessenfehlerfrei über die klägerseits beantragten Verpflegungskosten zu entscheiden. Im Rahmen der Entscheidung über die beantragten Kosten hat der Beklagte bislang kein Ermessen ausgeübt. Dies ergibt sich im Einzelnen aus den obigen Ausführungen. Damit ist der Beklagte zu verpflichten, erneut unter fehlerfreier Ermessenausübung über die begehrten Verpflegungskosten zu entscheiden.
IV.
85
Die Kostenfolge ergibt sich aus § 155 Abs. 1 Satz 1 Alt. 2 VwGO. Der Kläger unterliegt hinsichtlich des Hauptantrages und obsiegt im Hinblick auf den hilfsweise gestellten Verbescheidungsantrag, sodass die Kosten hälftig aufzuteilen sind. Gerichtskosten werden gemäß § 188 Satz 2 VwGO nicht erhoben.