Titel:
Zur Untauglichkeit eines formblattmäßigen Zeugnisses über eine medizinische Kontraindikation betreffend die Masernimpfung und zur Ermessensausübung bei der Anordnung eines Betretungsverbots für eine Kindertageseinrichtung durch das Gesundheitsamt.
Normenketten:
VwGO § 80 Abs. 5
lfSG 20 Abs. 8, Abs. 9 Satz 1, Abs. 12 Satz 4
Schlagwort:
Zur Untauglichkeit eines formblattmäßigen Zeugnisses über eine medizinische Kontraindikation betreffend die Masernimpfung und zur Ermessensausübung bei der Anordnung eines Betretungsverbots für eine Kindertageseinrichtung durch das Gesundheitsamt.
Fundstelle:
BeckRS 2023, 18513
Tenor
I. Die aufschiebende Wirkung der Klage der Antragsteller gegen den Bescheid des Landratsamts Dingolfing-Landau vom 27.6.2023 (Az. …*) wird angeordnet.
II. Die Kosten des Verfahrens hat der Antragsgegner zu tragen.
III. Der Streitwert wird auf 2.500,-- EUR festgesetzt.
Gründe
1
Die Antragsteller begehren die Anordnung der aufschiebenden Wirkung ihrer Klage gegen ein vom Antragsgegner angeordnetes und den Sohn der Antragsteller betreffendes Betretungsverbot für die Räume von Einrichtungen im Sinne des § 20 Abs. 8 Satz 1 des Infektionsschutzgesetzes (IfSG).
2
Der am …2017 geborene Sohn der Antragsteller, …, besucht die Kindertagesstätte in der … in … Anlässlich der am 9.2.2023 durchgeführten Schuleingangsuntersuchung wurde ein ärztliches Zeugnis der „…“ vom 8.2.2021 vorgelegt, das von Dr. med. X* … unterzeichnet ist. Das Attest bescheinigt eine „Freistellung von der Impfpflicht und anderen Maßnahmen der spezifischen Prophylaxe“ für den Sohn der Antragsteller. Die Risiko-Nutzen-Abwägung am heutigen Tage – also am 8.2.2021 – habe ergeben, dass o.g. Patient/-in ohne Gefahr für seine/ihre Gesundheit oder sein/ihr Leben nicht geimpft werden könne und aufgrund medizinischer Kontraindikationen von der Impfpflicht freizustellen sei. Die Freistellung von der Impfung gelte aufgrund medizinischer Kontraindikation für o.g. Person ab sofort und zeitlich unbegrenzt für jede Art von Impfstoff.
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Nachdem das Landratsamt Dingolfing-Landau – Sachgebiet Gesundheitswesen – hiervon Kenntnis erhalten hatte, teilte es den Antragstellern mit Schreiben vom 13.2.2023 mit, dass für den Sohn … kein ausreichender Nachweis gemäß § 20 Abs. 9 IfSG über einen ausreichenden Masernschutz vorliege. Personen, die keinen ausreichenden Nachweis erbrächten, dürften in den betroffenen Einrichtungen nicht betreut werden. Die Antragsteller wurden aufgefordert, eine Impfdokumentation nach § 22 Abs. 1 und 2 (Impfausweis oder Impfbescheinigung) oder ein ärztliches Zeugnis nach § 26 Abs. 2 Satz 4 des Fünften Buches Sozialgesetzbuch (SGB V) darüber vorzulegen, dass bei ihrem Kind ein ausreichender Impfschutz gegen Masern im Sinne des Gesetzes bestehe (zwei Masern-Schutzimpfungen), oder ein ärztliches Zeugnis darüber vorzulegen, dass bei dem Kind eine (labordiagnostizierte) Immunität gegen Masern vorliege oder ein ärztliches Zeugnis darüber vorzulegen, dass aufgrund einer medizinischen Kontraindikationen nicht geimpft werden könne. Ein ärztliches Zeugnis zur Befreiung vom Nachweis der Masernimpfung dürfe sich nicht damit begnügen, den Gesetzeswortlaut zum Bestehen einer medizinischen Kontraindikation zu wiederholen, sondern müsse wenigstens Angaben zur Art der Kontraindikation (mit Angaben der Dauer) enthalten, die das Gesundheitsamt in die Lage versetze, das ärztliche Zeugnis auf seine Plausibilität hin zu überprüfen.
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Da eine Reaktion auf dieses Schreiben ausblieb, wurden die Antragsteller mit Schreiben vom 23.3.2023 nochmals aufgefordert, einen der genannten Nachweise bis zum 12.4.2023 vorzulegen. Auf die Möglichkeit einer Impfberatung bei den Ärzten des Gesundheitsamtes wurde hingewiesen. Werde bis zum genannten Termin kein Nachweis vorgelegt oder ein Beratungsgespräch nicht vereinbart, würden seitens des Landratsamts die nächsten Schritte des Verwaltungsverfahrens eingeleitet werden. An dessen Ende könne die Verhängung eines Bußgeldes bzw. eines Betretungsverbots stehen.
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Mit undatiertem handschriftlichen Schreiben lehnte die Antragstellerin zu 2) das Beratungsangebot ab. Sie habe bereits ein Impfberatungsgespräch beim Arzt ihres Vertrauens geführt, weshalb die Wahrnehmung des Angebots überflüssig sei. In einem weiteren undatierten Schreiben verwies sie auf das bereits vorgelegte Attest, das eine Kontraindikation bescheinige.
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Mit Schreiben vom 14.6.2023 wies das Landratsamt die Antragsteller nochmals darauf hin, dass das vorgelegte Attest nicht ausreiche, eine Kontraindikation nachzuweisen. Den Antragstellern wurde die Möglichkeit gegeben, weitere Unterlagen/Befunde, die für die Beurteilung der Impffähigkeit relevant seien, bis Mittwoch, den 21.6.2023 vorzulegen.
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Mit Bescheid vom 27.6.2023, den Antragstellern zugestellt am 29.6.2023, ordnete das Landratsamt Folgendes an:
1. Für das Kind …, geb. …, wird ein Betretungsverbot für die Räume von Einrichtungen nach § 20 Abs. 8 Satz 1 IfSG (z.B. Kindertageseinrichtungen) angeordnet.
1.1. Das unter Nr. 1 genannte Betretungsverbot beginnt am 10. 07.2023.
1.2. Das unter Nr. 1 genannte Betretungsverbot endet mit der Vorlage eines in § 20 Abs. 9 Satz 1 IfSG genannten Nachweises, der den Anforderungen entspricht.
2. Für diesen Bescheid werden keine Kosten erhoben.
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Nach dem 31.12.1970 geborene Personen müssten nach § 20 Abs. 8 Satz 1 IfSG entweder einen nach den Maßgaben von § 20 Abs. 8 Satz 2 IfSG ausreichenden Impfschutz gegen Masern oder ab der Vollendung des ersten Lebensjahres eine Immunität gegen Masern aufweisen, wenn sie in einer Gemeinschaftseinrichtung nach § 33 Nr. 1 bis 3 IfSG betreut werden. Nach § 33 Nr. 1 IfSG würden hierzu Kindertageseinrichtungen zählen. Das Gesundheitsamt könne einer Person, die trotz der Aufforderung keinen Nachweis nach § 20 Abs. 9 Satz 1 IfSG innerhalb einer angemessenen Frist vorgelegt habe, untersagen, dass sie die Räume einer Einrichtung nach 20 Abs. 8 Satz 1 IfSG betrete. Nach § 20 Abs. 9 Satz 6 IfSG bestehe für derartige Personen ein gesetzliches Betreuungsverbot in Gemeinschaftseinrichtungen nach § 33 Nr. 1 bis 3 IfSG. Der Einhaltung dieses gesetzlichen Betreuungsverbots diene die Anordnung des Betretungsverbots für die Räume der entsprechenden Einrichtung. Die Anordnung des Betretungsverbots sei verhältnismäßig, was sich aus einem Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 21.7.2022 (1BvR 469/20 u.a.) ergebe. Das Betretungsverbot sei geeignet, den Zweck des Masernschutzgesetzes zu erreichen, der darin liege, vulnerable Personen vor einer Masernerkrankung und damit einhergehend schweren Krankheitsverläufen zu schützen.
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Das Betreuungsverbot wie auch das angeordnete Betretungsverbot würden zwar in das Elternrecht (Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG) sowie in das Recht auf körperliche Unversehrtheit des Kindes (Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG) eingreifen. Dem stehe jedoch der Schutz vor den Gefahren einer Masernerkrankung gegenüber. Ein milderes Mittel mit demselben Erfolg zur Einhaltung des gesetzlich geregelten Betreuungsverbots als das angeordnete Betretungsverbot sei nicht ersichtlich. Mildere Mittel, wie ein Impfberatungsgespräch beim Gesundheitsamt, seien erfolglos geblieben. Die Anordnung des Betretungsverbots liege im pflichtgemäßen Ermessen des Landratsamts. Dabei werde nicht verkannt, dass die getroffene Entscheidung Auswirkungen auf die Betreuungssituation der Familie habe. Vorliegend überwiege jedoch das öffentliche Interesse am Schutz der vulnerablen Personen vor infektionsbedingten Risiken für Leib und Leben die persönlichen Interessen der Antragsteller und ihres Kindes.
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Am 5.7.2023 ließ die Antragstellerin Klage erheben, die unter dem Aktenzeichen RN 5 K 23.1199 geführt wird. Zugleich ließ sie um vorläufigen Rechtsschutz nach § 80 Abs. 5 VwGO nachsuchen. Der streitgegenständliche Bescheid sei schon deshalb rechtswidrig, weil das vorgelegte ärztliche Attest ausreiche, um eine Kontraindikation bezüglich der Masernimpfung zu bestätigen. Es gebe darüber hinaus ein weiteres ärztliches Attest des Lungenfacharztes Dr. med. Y* … (ÜBAG – Überörtliche Berufsausübungsgemeinschaft „Medizinisches Versorgungszentrum … – MVZ GmbH“) vom 7.3.2023, welches dem Gericht in Ablichtung vorgelegt wurde. Darin werde bestätigt, dass der Sohn … sich in fachärztlicher, ambulanter Behandlung befinde. Es bestehe ein hyperreagibles Bronchialsystem/beg. Asthma bronchiale. Es bestehe danach zumindest der begründete Verdacht einer allergischen Reaktion des Sohnes der Antragsteller auf die Masernimpfung. Zu bedenken sei ferner, dass der Sohn der Antragsteller ab September 2023 die erste Klasse der Grundschule besuchen werde. Die künftige Grundschule habe das vorgelegte Attest von X* … vom 8.2.2021 als ausreichend anerkannt. Außerdem bestehe für den gemeinsamen Sohn der Antragsteller Schulpflicht. Gleichwohl habe das Landratsamt noch ein Betretungsverbot angeordnet, obwohl die vom Sohn besuchte Kindertageseinrichtung bereits ab dem 7.8.2023 geschlossen sei. Die Antragsteller seien beide berufstätig und in Wechselschicht tätig. Die Betreuung des Kindes erfolge durch den Antragsteller zu 1) und die Antragstellerin zu 2) entsprechend ihres Schichtplanes abwechselnd. Gleichwohl bestehe montags, donnerstags und freitags in der Zeit von 13:30 Uhr bis 14:45 Uhr keine Betreuungsmöglichkeit, wenn der Sohn nicht in den Kindergarten dürfe. Die Antragsteller könnten auch keinen Urlaub nehmen, da sie diesen bereits für den Zeitraum August bis zum Schulbeginn im September benötigen würden, da die Kindertageseinrichtung ab dem 7.8.2023 geschlossen sei. Letztendlich umfasse das Betretungsverbot daher einen Zeitraum von vier Wochen. Für diesen Zeitraum sei es nicht notwendig und somit unverhältnismäßig.
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Die Antragsteller beantragen sinngemäß,
die aufschiebende Wirkung ihrer Klage gegen den Bescheid des Landratsamts Dingolfing-Landau vom 27.6.2023 (Az. …*) anzuordnen.
12
Der Antragsgegner beantragt,
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Das vorgelegte ärztliche Attest vom 8.2.2021 entspreche nicht den vom Bayerischen Verwaltungsgerichtshof geforderten Anforderungen, um eine Kontraindikation im Hinblick auf die Masernimpfung nachzuweisen. Es sei nicht möglich, das Zeugnis auf seine Plausibilität hin zu überprüfen. Mit Schreiben vom 20.4.2023 seien die Antragsteller zum beabsichtigten Betretungsverbot angehört worden. Als milderes Mittel vor Erlass eines Betretungsverbots sei den sorgeberechtigten Eltern mit Schreiben vom 14.6.2023 die Möglichkeit gegeben worden, ein ausreichendes Impfunfähigkeitsattest sowie alle weiteren Unterlagen/Befunde, die für die Beurteilung der Impffähigkeit relevant seien, bis zum 21.6.2023 zur fachkundigen Prüfung vorzulegen. Mit dem Masernschutzgesetz verfolge der Gesetzgeber den Zweck, vulnerable Personen vor einer Masernerkrankung und damit gegebenenfalls einhergehenden schweren Krankheitsverläufen zu schützen. Dieser Zweck werde durch das Betretungsverbot erfüllt. Es trage zu einer Reduzierung der Ansteckungsgefahr mit dem Masernvirus bei.
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Da es sich im vorliegenden Fall bis zum Ferienbeginn nur noch um drei Wochen handele und der Sohn der Antragsteller danach diese Einrichtung nicht mehr besuche, sondern eine Grundschule, könne von den Eltern erwartet werden, dass sie für diese kurze Zeit eine anderweitige Kinderbetreuung sicherstellen. Der Behörde sei es nicht verwehrt, auch für einen relativ kurzen Zeitraum eine Anordnung zu erlassen. Darüber hinaus sei der Nachweis auch für die Schulen erforderlich. Nur könne bei Schulen kein Betretungsverbot ausgesprochen werden, da die Schulpflicht als vorrangig gesehen werde.
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Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten wird auf den Inhalt der Gerichtsakten im Hauptsachesowie im Eilrechtschutzverfahren und auf die Akten des Landratsamts Dingolfing-Landau, die dem Gericht in elektronischer Form vorgelegen haben, Bezug genommen.
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Der Eilrechtschutzantrag hat Erfolg. Er ist zulässig (vgl. 1.) und begründet (vgl. 2.).
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1. Der Antrag ist zulässig.
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Gemäß § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO haben Widerspruch und Anfechtungsklage grundsätzlich aufschiebende Wirkung. Diese entfällt jedoch nach § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 VwGO unter anderem dann, wenn dies durch Bundesgesetz vorgeschrieben ist. Für das hier angeordnete Betretungsverbot entfällt die aufschiebende Wirkung der Klage nach § 20 Abs. 12 Satz 7 IfSG, weshalb der Antrag statthaft ist.
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Auch wenn das Betretungsverbot den Sohn der Antragsteller betrifft, sind die Antragsteller als sorgeberechtigte Eltern (vgl. § 1626 Abs. 1 BGB) selbst antragsbefugt. Der sechsjährige Sohn der Antragsteller betritt die von ihm besuchte Kindertageseinrichtung nicht selbstständig, sondern wird nach Entschluss der Eltern in diese gebracht. Gemäß § 20 Abs. 13 Satz 1 IfSG hat, sofern eine nach § 20 Abs. 9 bis 12 IfSG verpflichtete Person minderjährig ist, derjenige für die Einhaltung der diese Person nach § 20 Abs. 9 bis 12 IfSG treffenden Verpflichtungen zu sorgen, dem die Sorge für diese Person zusteht. Adressat und betroffen vom Betretungsverbot sind damit auch die beiden sorgeberechtigten Elternteile, da diese faktisch und gesetzlich Sorge und Verantwortung dafür tragen, dass das Verbot aus dem streitgegenständlichen Bescheid eingehalten wird. Die Untersagung greift auf diese Weise in ihr gemeinsames Recht auf Erziehung des Kindes aus Art. 6 Abs. 2 GG ein und eröffnet ihnen somit eine selbstständige Antragsbefugnis (VG Ansbach, B.v. 5.5.2022 – AN 18 S 22.00535 – juris Rn. 34).
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2. Der Antrag ist auch begründet. Grundsätzlich hätte zwar ein Betretungsverbot angeordnet werden können (vgl. 2 a)), allerdings leidet die konkrete Anordnung an einem Ermessensfehler (vgl. 2 b)).
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Im Rahmen seiner Entscheidung nach § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO hat das Gericht eine eigenständige und originäre Interessenabwägung zwischen dem gesetzlichen Vollzugsinteresse der Öffentlichkeit und dem Aussetzungsinteresse der Antragsteller zu treffen. Im Rahmen der vorzunehmenden Interessenabwägung kommen den Erfolgsaussichten der in der Hauptsache erhobenen Anfechtungsklage eine maßgebliche Bedeutung zu; denn grundsätzlich besteht kein öffentliches Interesse an der Vollziehung eines rechtswidrigen Verwaltungsakts, während umgekehrt ein starkes öffentliches Interesse an der baldigen Realisierung des Verwaltungsaktes besteht, wenn dieser erkennbar rechtmäßig ist. Lässt sich deshalb aufgrund der im Eilrechtschutzverfahren gebotenen aber auch ausreichenden summarischen Prüfung der Sach- und Rechtslage hinreichend eindeutig feststellen, dass der angegriffene Verwaltungsakt offensichtlich rechtswidrig ist und den Betroffenen in seinen Rechten verletzt, kann regelmäßig kein öffentliches Interesse an der sofortigen Vollziehung des Verwaltungsakts bestehen. Lassen sich dagegen nach summarischer Prüfung keine Aussagen über die Erfolgsaussichten der Klage machen, muss eine allgemeine, von den Erfolgsaussichten des Rechtsbehelfs unabhängige Interessenabwägung stattfinden (vgl. zur Interessenabwägung: BVerwG, B.v. 11.11.2020 – 7 VR 5.20 – juris Rn. 8; BVerwG, B.v. 23.1.2015 – 7 VR 6.14 – juris Rn. 8; BayVGH, B.v. 4.12.2019 – 15 CS 19.2048 – juris Rn. 21; BayVGH, B.v. 21.3.2011 – 10 AS 10.2499 – juris Rn. 20; Eyermann/Hoppe, 16. Aufl. 2022, VwGO § 80 Rn. 85 ff.; Schoch in: Schoch/Schneider, 43. EL August 2022, VwGO § 80 Rn. 372 ff.; Schenke in: Kopp/Schenke, VwGO, 28. Aufl. 2022, § 80 Rn. 152 ff.).
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Rechtsgrundlage für die Anordnung eines Betretungsverbots ist § 20 Abs. 12 Satz 4 IfSG. Danach kann das Gesundheitsamt einer Person, die trotz Anforderung nach § 20 Abs. 12 Satz 1 IfSG keinen Nachweis innerhalb einer angemessenen Frist vorlegt oder der Anordnung einer ärztlichen Untersuchung nach § 20 Abs. 12 Satz 2 IfSG nicht Folge leistet, untersagen, dass sie die dem Betrieb einer in § 20 Abs. 8 Satz 1 IfSG genannten Einrichtung dienenden Räume betritt oder in einer solchen Einrichtung tätig wird.
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a) Mit dem „Gesetz für den Schutz vor Masern und zur Stärkung der Impfprävention (Masernschutzgesetz)“ vom 10.2.2020, das im Wesentlichen eine Änderung des Infektionsschutzgesetzes beinhaltet, gilt mit Wirkung ab dem 1.3.2020 eine Pflicht zur Impfung gegen das Masernvirus für nach dem 31.12.1970 geborene Personen, die in Gemeinschaftseinrichtungen betreut werden oder in solchen bzw. medizinischen Einrichtungen tätig sind. Hintergrund dieser Impfpflicht sind die anhaltend erhöhten Ansteckungsfallzahlen in Deutschland aufgrund der Infektiosität des Virus, sowie die teilweise durch Komplikationen bedingten schweren Verläufe und Folgeerkrankungen, die eine Infektion nach sich ziehen kann. Ziel des Gesetzes ist es, einen besseren individuellen Schutz insbesondere von vulnerablen Personengruppen sowie einen ausreichenden Gemeinschaftsschutz vor Maserninfektionen zu erreichen und durch eine deutliche Steigerung der Impfquoten das Masernvirus mittelfristig in Deutschland zu eliminieren (BT-Drucks. 19/13452, S. 1 f.). Im Mittelpunkt der Impfpflicht steht die Neufassung des § 20 Abs. 8 IfSG, die in ihrem Satz 1 Nr. 1 unter anderem einen ausreichenden Impfschutz bzw. eine Immunität gegen Masern für Personen, die nach dem 31.12.1970 geboren sind und in einer Gemeinschaftseinrichtung nach § 33 Nrn. 1 bis 3 IfSG betreut werden, vorschreibt. Nach § 33 Nr. 1 IfSG gehören zu diesen Einrichtungen auch Kindertageseinrichtungen und Kinderhorte. Die von der Regelung betroffenen Personen haben der Leitung der jeweiligen Einrichtung vor Beginn ihrer Betreuung einen der in § 30 Abs. 9 Satz 1 IfSG genannten Nachweise vorzulegen. Hierbei handelt es sich namentlich um eine Impfdokumentation nach § 22 Abs. 1 IfSG oder ein ärztliches Zeugnis, auch in Form einer Dokumentation nach § 26 Abs. 2 Satz 4 SGB V, darüber, dass bei ihnen ein nach Maßgabe von § 20 Abs. 8 Satz 2 IfSG ausreichender Impfschutz gegen Masern besteht (§ 20 Abs. 9 Satz 1 Nr. 1 IfSG), ein ärztliches Zeugnis darüber, dass bei ihnen eine Immunität gegen Masern vorliegt oder sie aufgrund einer medizinischen Kontraindikation nicht geimpft werden können (§ 20 Abs. 9 Satz 1 Nr. 2 IfSG), oder eine Bestätigung einer staatlichen Stelle oder der Leitung einer anderen in § 20 Abs. 8 Satz 1 IfSG genannten Einrichtung darüber, dass ein entsprechender Nachweis bereits vorgelegen hat (§ 20 Abs. 9 Satz 1 Nr. 3 IfSG). Gemäß § 20 Abs. 12 Satz 1 Nr. 1 IfSG ist dieser Nachweis auf Anforderung auch dem Gesundheitsamt, in dessen Bezirk sich die jeweilige Einrichtung befindet, vorzulegen. Kommt die betroffene Person dieser Anforderung innerhalb einer angemessenen Frist nicht nach, kann das Gesundheitsamt nach § 20 Abs. 12 Satz. 4 IfSG dem Betroffenen untersagen, die dem Betrieb einer der genannten Einrichtungen dienenden Räume zu betreten.
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Die tatbestandlichen Voraussetzungen für ein Betretungsverbot liegen hier vor. Insbesondere haben die Antragsteller kein ausreichendes ärztliches Zeugnis darüber vorgelegt, dass ihr Sohn aufgrund einer medizinischen Kontraindikation nicht gegen Masern geimpft werden kann.
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Das vorliegende ärztliche Zeugnis vom 19.2.2020 ist nicht geeignet, eine medizinische Kontraindikation nachzuweisen. Zu den Anforderungen an ein ärztliches Zeugnis im Sinne von § 20 Abs. 9 Satz 1 Nr. 2 Alt. 2 IfSG führt der Bayerische Verwaltungsgerichtshof in seinem Beschluss vom 7.7.2021 (25 CS 21.1651 – juris, Rn. 14) Folgendes aus:
„Das ärztliche Zeugnis im Sinne von § 20 Abs. 9 Satz 1 Nr. 2 Alt. 2 IfSG darf sich nicht damit begnügen, den Gesetzeswortlaut zum Bestehen einer medizinischen Kontraindikation zu wiederholen. Es muss vielmehr wenigstens solche Angaben zur Art der medizinischen Kontraindikation enthalten, die das Gesundheitsamt in die Lage versetzen, das ärztliche Zeugnis auf Plausibilität hin zu überprüfen (SächsOVG, B.v. 5.5.2021 – 3 B 411/20 – juris Rn. 21 ff.; VG Meiningen, B.v. 10.11.2020 – 2 E 1144/20 – juris Rn. 26 f.; Gebhard in Kießling, IfSG, 2. Aufl. 2021, § 20 Rn. 50; a.A. ohne Begründung Aligbe, ARP 2020, 227, 228). Hierfür sprechen neben dem Zweck der Regelung, eine ausreichend hohe Impfquote zu erreichen und hierfür u.a. dem Gesundheitsamt eine Grundlage für das weitere Vorgehen (z.B. in einem Beratungsgespräch nach § 20 Abs. 12 Satz 2 IfSG) zu geben, auch systematische Erwägungen, denn das IfSG unterscheidet auch an anderer Stelle die schlichte Bescheinigung vom Nachweis durch ein ärztliches Zeugnis (vgl. etwa § 43 Abs. 1 Satz 2 IfSG).“
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Gemessen an diesen Anforderungen liegt es auf der Hand, dass das ärztliche Zeugnis vom 8.2.2021 nicht geeignet ist, für den Sohn der Antragsteller eine medizinische Kontraindikation gegen eine Masernschutzimpfung nachzuweisen. Bei dem vorliegenden ärztlichen Zeugnis handelt es sich um ein Formblatt, in das lediglich der Name des Sohnes der Antragsteller, dessen Geburtsdatum und dessen Adresse eingetragen sind. Letztendlich wird lediglich der Gesetzeswortlaut wiederholt, wonach eine Kontraindikation bestehe. Eine irgendwie geartete und nachvollziehbare Begründung für diese Kontraindikation wird nicht gegeben, sodass es dem Gesundheitsamt nicht möglich ist, das Zeugnis auf seine Plausibilität hin zu überprüfen (ausführlich zu den Anforderungen an ein ärztliches Zeugnis nach § 20 Abs. 9 Satz 1 Nr. 2 Alt. 2 IfSG: VG Ansbach, B.v. 28.5.2021 – AN 18 S 21. 00932 – juris, Rn. 22 ff.).
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Nichts Anderes folgt im Übrigen auch aus dem im gerichtlichen Verfahren noch vorgelegten Attest des Medizinischen Versorgungszentrums … (Dr. med. Y* …*) vom 7.3.2023. Darin wird lediglich bestätigt, dass beim Sohn der Antragsteller ein hyperreagibles Bronchialsystem/beg. Asthma bronchiale besteht. Deshalb solle bei verschlechtertem Asthma wegen eines Infektes, Pollenflugs, großer Kälte, Nebel etc. auf die Teilnahme am Sport verzichtet werden bzw. sei der Sportunterricht sofort zu unterbrechen. Eine Aussage zur Verträglichkeit einer Masernimpfung enthält das Attest jedoch nicht. Vielmehr ergibt sich aus einer vom Antragsgegner vorgelegten amtsärztlichen Stellungnahme vom 11.7.2023 (Dr. Z* …*), dass Patienten mit Asthma grundsätzlich alle Impfungen gemäß den Empfehlungen der STIKO angeboten werden sollen. Es gebe keine Belege dafür, dass Impfungen das Allergierisiko erhöhen, umgekehrt aber bestünden Hinweise, dass Impfungen das Allergierisiko sogar senken könnten.
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b) Beim Vorliegen der Tatbestandsvoraussetzungen räumt § 20 Abs. 12 Satz 4 IfSG der zuständigen Behörde ein Entschließungsermessen ein. Das Gesundheitsamt muss dieses Ermessen pflichtgemäß ausüben und insbesondere den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit beachten. Dabei ist in besonderem Maße der durch das Betretungsverbot bezweckte Schutz der Gesundheit vor einer Maserninfektion zu beachten (Gerhardt, Infektionsschutzgesetz, 6. Aufl. 2022, § 20 Rn. 142).
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Ermessensentscheidungen unterliegen nur einer eingeschränkten verwaltungsgerichtlichen Kontrolle. (§ 114 Satz 1 VwGO). Dem Gericht ist es deshalb versagt, die behördlichen Ermessenserwägungen durch eigene zu ersetzen. Es darf die Entscheidung nur auf Ermessensfehler hin überprüfen. Diese Prüfung erstreckt sich insbesondere auch darauf, ob die Behörde von einem ausreichend ermittelten und zutreffenden Sachverhalt ausgegangen ist und ob sie die gesetzlichen Grenzen des Ermessens beachtet und von der ihr eingeräumten Entscheidungsbefugnis in einer dem Zweck der Ermächtigung entsprechenden Weise Gebrauch gemacht hat. Bei der Ermessensausübung nach Art. 40 BayVwVfG sind alle für den Einzelfall wesentlichen Umstände in die Erwägung einzubeziehen; ansonsten ist ein Ermessensdefizit und folglich ein Rechtsverstoß gegeben (vgl. BayVGH, U.v. 2.7.2013 – 13 A 12.1659 – juris Rn. 22). Gemäß § 114 Satz 2 VwGO kann die Verwaltungsbehörde ihre Ermessenserwägungen hinsichtlich des Verwaltungsakts auch noch im verwaltungsgerichtlichen Verfahren ergänzen.
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Im vorliegenden Fall spricht nach der im Eilrechtschutzverfahren gebotenen, aber auch ausreichenden summarischen Prüfung der Sach- und Rechtslage einiges dafür, dass ein Ermessensdefizit vorliegt, weil das Gesundheitsamt nicht alle relevanten Gesichtspunkte in seiner Ermessensentscheidung berücksichtigt hat. Aus Sicht der streitentscheidenden Kammer hätte das Gesundheitsamt im vorliegenden Fall berücksichtigen müssen, dass der Sohn der Antragsteller die Kindertageseinrichtung ab dem Inkrafttreten des angeordneten Betretungsverbots nur noch vier Wochen lang besucht, nämlich vom 10.7.2023 bis zum 4.8.2023. Danach ist die Einrichtung geschlossen und im September besucht der Sohn der Antragsteller die Grundschule und unterliegt ab diesem Zeitpunkt der Schulpflicht. Ein Betretungsverbot für Schulen – Einrichtungen nach § 33 Nr. 3 IfSG – kann gemäß § 20 Abs. 12 Satz 5 IfSG gegenüber schulpflichtigen Kindern nicht angeordnet werden. Dem steht gegenüber, dass der Sohn der Antragsteller schon geraume Zeit die Kindertageseinrichtung besucht hat, ohne dass für ihn ein Nachweis einer Masernimmunität vorgelegen hat. Aufgrund dieser individuellen Umstände musste es sich dem Antragsgegner geradezu aufdrängen, diese Umstände im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung bei der Ermessensausübung zu berücksichtigen. Dies gilt insbesondere deshalb, weil die Antragsteller im gerichtlichen Verfahren mitgeteilt haben, beide in Wechselschichten zu arbeiten und es ihnen an bestimmten Wochentagen für einen Zeitraum von einer Stunde und 15 Minuten nicht möglich ist, ihren Sohn selbst zu betreuen. Diesen Sachverhalt kannte das Gesundheitsamt zum Zeitpunkt seiner Ermessensentscheidung überhaupt nicht, was wohl darauf zurückzuführen ist, dass eine ordnungsgemäße Anhörung der Antragsteller nach Art. 28 Abs. 1 BayVwVfG vor Bescheidserlass nicht stattgefunden hat. Zwar führt der Antragsgegner aus, die Antragsteller mit Schreiben vom 23.3.2023 zu einem möglichen Betretungsverbot angehört zu haben. Allerdings hat das Gesundheitsamt in diesem Schreiben die Antragsteller lediglich darauf hingewiesen, dass am Ende eines Verwaltungsverfahrens auch die Anordnung eines Betretungsverbots stehen könne. Eine konkrete Anhörung zu einer vom Landratsamt zu treffenden Ermessensentscheidung kann hierin nach Auffassung des Gerichts nicht gesehen werden. Insbesondere wurden die Antragsteller nicht zur Stellungnahme zu einem möglichen Betretungsverbot aufgefordert. Das Schreiben diente vielmehr in erster Linie dazu, die Antragsteller zur Vorlage eines tauglichen Immunitätsnachweises zu veranlassen.
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Ferner hat der Antragsgegner auch im gerichtlichen Verfahren seine Ermessensentscheidung nicht nach § 114 Satz 2 VwGO hinreichend ergänzt. Zwar hat der Antragsgegner ausgeführt, der Sohn der Antragsteller werde die Kindertageseinrichtung nur noch eine begrenzte Zeit besuchen, da er ab September der Schulpflicht unterliege. Das Landratsamt könne jedoch auch für eine kurze Zeit ein Betretungsverbot anordnen, da es den Antragstellern zugemutet werden könne, für eine kurze Zeit eine anderweitige Kinderbetreuung sicherzustellen. Auch insoweit liegt jedoch lediglich eine allgemeine Begründung vor, die nicht auf die konkreten Umstände des Einzelfalls eingeht. Es hätte sich hier aufgedrängt, auf den Umstand einzugehen, dass der Sohn der Antragsteller bereits längere Zeit ohne Nachweis einer Masernimmunität in der Einrichtung betreut worden ist, wobei sich den Behördenakten nicht entnehmen lässt, seit wann der Sohn die Einrichtung besucht. Diesem Zeitraum hätte gegenübergestellt werden müssen, dass es letztendlich nur noch um 20 Arbeitsage geht, in denen das Betretungsverbot bezüglich der konkret besuchten Einrichtung wirksam ist. Darüber hinaus hätte berücksichtigt werden müssen, dass an bestimmten Tagen eine durchgängige Betreuung des Sohnes der Antragsteller durch diese aufgrund ihrer Berufstätigkeit nicht möglich ist. Diese Umstände hätten im Rahmen der vorzunehmenden Verhältnismäßigkeitsprüfung in die Abwägung eingestellt werden müssen. Dabei ist nicht auszuschließen, dass die Abwägung zum Erlass eines Betretungsverbots hätte führen können. Da eine derartige Abwägung seitens des Antragsgegners jedoch auch im gerichtlichen Eilrechtschutzverfahren nicht geschehen ist, kann letztendlich dahinstehen, ob eine derartige Ergänzung der im Bescheid vom 27.6.2023 recht knapp ausgefallenen Ermessenserwägungen nach § 114 Satz 2 VwGO überhaupt möglich gewesen wäre (ausführlich zum Nachschieben von Ermessenserwägungen: Schoch/Schneider/Riese, 43. EL August 2022, VwGO § 114 Rn. 244 ff.).
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Nach alledem war die aufschiebende Wirkung der Klage anzuordnen.
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Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO.
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Die Streitwertfestsetzung beruht auf den §§ 53 Abs. 2 Nr. 2, 52 Abs. 2 GKG