Inhalt

BayObLG, Beschluss v. 28.04.2023 – 201 StRR 14/23
Titel:

Strafbarkeit nach § 95 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG bei Stellung eines Asylfolgeantrags

Normenketten:
AufenthG § 3 Abs. 1
AufenthG § 25 Abs. 2
AufenthG § 48 Abs. 2
AufenthG § 48 Abs. 3
AufenthG § 60b Abs. 2
AufenthG § 60b Abs. 3
AufenthG § 95 Abs. 1 Nr. 1
AufenthG § 95 Abs. 1 Nr. 2
AufenthV § 55
AsylG § 63
AsylG § 64 Abs. 1
AsylG § 71 Abs. 1
AsylG § 71 Abs. 5 S. 2
VwVfG § 51 Abs. 1
Genfer Flüchtlingskonvention [GfK] Art. 31 Abs. 1
StPO § 349 Abs. 2
StPO § 473 Abs. 1
Leitsätze:
1. Mit Abschluss des Asylverfahrens lebt die Passpflicht nach § 3 Abs. 1 AufenthG wieder auf. Die Mitwirkungspflichten des Ausländers an der Beschaffung von Dokumenten sind bis zu einer Entscheidung des BAMF grundsätzlich nicht durch einen Asylfolgeantrag i.S.v. § 71 Abs. 1 AsylG suspendiert (Anschl. an VGH München, Beschluss vom 14.06.2021 – 19 CS 21.486 = BeckRS 2021, 15855). (Rn. 9 und 19)
2. Einem rechtskräftig ausreisepflichtigen Ausländer ist es grundsätzlich zuzumuten, bei der Vertretung seines Heimatlandes den Antrag auf einen Reisepass zu stellen, auch wenn er sich dadurch der Gefahr aussetzt, aus der Bundesrepublik Deutschland abgeschoben zu werden. Ist er zu einem entsprechenden Antrag noch nicht einmal bereit, verbietet sich im Regelfall die Annahme, ein Pass sei in zumutbarer Weise nicht zu erlangen (Anschl. an BayObLG StV 2005, 213). (Rn. 12 – 13)
Schlagworte:
Revision, Sachrüge, Ausländer, Äthiopien, Flüchtling, Asyl, Asylantrag, Asylfolgeantrag, Asylverfahren, Abschluss, Aufenthalt, Aufenthaltsgestattung, unerlaubt, Abschiebung, Duldung, Duldungsfiktion, Duldungsanspruch, faktisch, qualifiziert, Einreise, Folgeantrag, Identität, Ausweis, Ausweisersatz, Pass, Reisepass, Passpflicht, Dokument, Wiederaufleben, Strafbefreiung, Strafausschließungsgrund, Bundesamt, Suspendierung, suspendiert, ausreisepflichtig, Heimatland, Vertretung, Zumutbarkeit, Reueerklärung, Schutzzweck, Identitätskontrolle, Staatsangehörigkeit, Nationalität, Rückkehrberechtigung, Dauerdelikt, Unterlassungsdauerdelikt, Aufenthalt ohne Pass
Fundstellen:
NStZ 2024, 299
LSK 2023, 18289
BeckRS 2023, 18289

Tenor

I. Die Revision der Angeklagten gegen das Urteil des Landgerichts Hof vom 11. November 2022 wird als unbegründet verworfen.
II. Die Beschwerdeführerin hat die Kosten ihres Rechtsmittels zu tragen.

Gründe

I.
1
Das Amtsgericht Hof hat am 04.05.2022 gegen die Angeklagte einen Strafbefehl wegen unerlaubten Aufenthalts ohne Pass gemäß §§ 3 Abs. 1, 48 Abs. 2, 95 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG mit einer Geldstrafe von 120 Tagessätzen zu je 10 Euro erlassen. Nach Einspruch der Angeklagten verurteilte das Amtsgericht Hof diese mit Urteil vom 15.06.2022 wegen unerlaubten Aufenthalts ohne Pass zu einer Geldstrafe von 120 Tagessätzen zu je 10 Euro. Die hiergegen gerichtete Berufung der Angeklagten und die auf das Strafmaß beschränkte Berufung der Staatsanwaltschaft hat das Landgericht mit Urteil vom 11.11.2022 jeweils als unbegründet verworfen. Gegen das Urteil des Landgerichts Hof vom 11.11.2022 hat die Angeklagte mit Schriftsatz ihres Verteidigers vom 15.11.2022, eingegangen beim Landgericht am selben Tage, Revision eingelegt und nach Zustellung des Urteils am 20.12.2022 mit Schriftsatz des Verteidigers vom 20.01.2023, eingegangen am selben Tage, die Revision mit der Verletzung materiellen Rechts begründet. Die Angeklagte beruft sich insbesondere darauf, dass sie einen Asylfolgeantrag gestellt habe und deshalb keine Ausreisepflicht bestehe. Die Generalstaatsanwaltschaft hat mit Stellungnahme vom 15.02.2023 beantragt, die Revision der Angeklagten gegen das Urteil des Landgerichts Hof vom 11.11.2022 als unbegründet zu verwerfen. Dazu hat sich der Verteidiger mit Gegenerklärung vom 16.03.2023 geäußert.
II.
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Die Nachprüfung des Urteils aufgrund der Revision hat keinen Rechtsfehler zum Nachteil der Angeklagten ergeben (§ 349 Abs. 2 StPO). Sie war daher auf Antrag der Generalstaatsanwaltschaft München als unbegründet zu verwerfen.
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1. Das Landgericht Hof hat im Wesentlichen folgende Feststellungen und Wertungen getroffen:
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Die Angeklagte, eine äthiopische Staatsangehörige, lebte von 2004 bis 2008 in Ad. Ab. und ging dann nach Dubai. Im Jahr 2014 reiste sie in der Schweiz ein, ging später nach Frankreich und dann wieder in die Schweiz zurück. Ohne Pass reiste sie am 30.09.2014 auf dem Landweg in die Bundesrepublik Deutschland ein und stellte am 15.12.2014 Asylantrag unter Hinweis auf politische Aktivitäten, Menschenhandel und schlechte humanitäre Bedingungen in Äthiopien. Ihre Klage gegen den Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (künftig: BAMF) vom 10.04.2018, durch den ihr Asylantrag abgelehnt wurde, wurde mit Urteil des Verwaltungsgerichts Bayreuth vom 22.05.2020 abgewiesen. Ihr hiergegen gerichteter Antrag auf Zulassung der Berufung wurde mit Beschluss des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs vom 22.12.2020 bestandskräftig abgelehnt.
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Die Angeklagte lebte hier zunächst unter dem Namen X, geboren am ... 1976 in A. Nach ihren Angaben in der Hauptverhandlung sei sie aber tatsächlich unter dem Namen Y, am ... 1977 in B. geboren worden.
6
Die Angeklagte stellte am 05.02.2021 einen Folgeantrag im Sinne des § 71 AsylG unter Verweis auf eine Heuschreckenplage, Hungersnot und schlechte Lebensumstände in Äthiopien, der mit Bescheid des BAMF vom 10.03.2021 als unzulässig abgelehnt wurde. Am 17.08.2021 stellte die Angeklagte einen weiteren Folgeantrag im Sinne des § 71 AsylG mit der Begründung des ethnischen Hasses gegenüber der Volksgruppe der Oromo, politischer Aktivität im Heimatland, Kämpfen, Unruhen und der humanitären Lage in Äthiopien, welcher ebenfalls mit Bescheid vom 01.09.2021 als unzulässig abgelehnt wurde. Unter dem 05.04.2022 stellte die Angeklagte erneut einen Folgeantrag im Sinne des § 71 AsylG beim BAMF, als Gründe wurden wieder dieselben benannt wie im Asylantrag selbst und in den beiden Folgeanträgen vom 05.02.2021 und 17.08.2021. Über diesen Folgeantrag war zum Zeitpunkt des Urteils der Berufungskammer noch keine Entscheidung ergangen. Obwohl die Angeklagte seit 22.01.2021 vollziehbar ausreisepflichtig ist, wirkte sie trotz Möglichkeit nicht an der Beschaffung eines Passes oder Passersatzes mit, obwohl sie mehrfach dazu aufgefordert und – mittels Dolmetscher auch in ihrer Muttersprache – darüber belehrt worden war. Dies tat sie bewusst, um nicht nach Äthiopien abgeschoben zu werden. Die der Angeklagten aufgrund ihrer Weigerung der Mitwirkung an der Passbeschaffung ausgestellte Duldung wurde mit dem Zusatz versehen, dass sie mit der ausgestellten Bescheinigung der Pass- und Ausweispflicht nicht genügt. Am 26.05.2022 begab sich die Angeklagte zur Botschaft der Republik Äthiopien in Berlin, gab dort ihre Echtpersonalien an und Fingerabdrücke ab, um so das Verfahren zur Feststellung ihrer Identität einzuleiten. Ein Pass ist bislang nicht erteilt worden.
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2. Das Landgericht hat aufgrund der rechtsfehlerfrei getroffenen Feststellungen zutreffend eine Strafbarkeit der Angeklagten wegen passlosen Aufenthaltes nach § 95 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG angenommen.
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a) Die Angeklagte unterliegt als äthiopische Staatsangehörige der Passpflicht nach § 3 Abs. 1 AufenthG. Ein Ausnahmefall nach § 3 Abs. 2 AufenthG liegt nicht vor.
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b) Auch der Umstand, dass die Angeklagte zunächst Asyl beantragt hatte, befreite sie nach Abschluss des Asylverfahrens nicht von der Passpflicht. Hierzu bestimmt § 64 Abs. 1 AsylG, dass ein Ausländer nur für die Dauer des Asylverfahrens seiner Ausweispflicht mit einer Bescheinigung über die Aufenthaltsgestattung (§ 63 AsylG) genügt (vgl. auch BayObLG, Beschluss vom 30.08.2004 – 4St RR 84/04 bei juris = StV 2005, 213 = AuAS 2004, 269 = BayVBl 2005, 27 = BeckRS 2004, 8589, künftig: a.a.O.; BayObLGSt 2004, 99, 102 f.). Die Passpflicht lebt wieder auf, wenn das Asylverfahren rechtskräftig abgeschlossen wurde (Bergmann/Dienelt/Stephan Ausländerrecht 14. Aufl. § 95 AufenthG Rn. 24). Aus den im Rahmen der Sachrüge allein maßgeblichen Urteilsfeststellungen ergibt sich, dass sich die Angeklagte nach bestandskräftigem Abschluss des Asylverfahrens am 22.12.2020 ohne Pass im Bundesgebiet aufgehalten hat.
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c) Der Strafbarkeit der Angeklagten steht kein Anspruch auf Erteilung einer sog. qualifizierten Duldung in Form des mit Lichtbild versehenen Ausweisersatzes nach § 48 Abs. 2 AufenthG entgegen (vgl. BayObLG, Beschluss vom 30.08.2004 – 4St RR 84/04 a.a.O.; OLG Frankfurt am Main NStZ-RR 2009, 257, 258; NStZ-RR 2012, 220 und Beschluss vom 22.08.2012 – 1 Ss 210/12 bei juris).
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Ein solcher Anspruch auf Erteilung einer qualifizierten Duldung besteht schon deshalb nicht, da die Angeklagte nicht in zumutbarer Weise ihren ausweisrechtlichen Pflichten nach § 48 Abs. 2 und 3 AufenthG nachgekommen ist. Ein Ausländer kann einen Pass grundsätzlich nur dann nicht in zumutbarer Weise erlangen, wenn ihm von seinen Heimatbehörden ein Pass verweigert wird oder wenn er einen solchen nicht in angemessener Zeit oder nur unter schwierigen Umständen erhalten kann (vgl. BayObLG a.a.O.; OLG Celle NStZ 2010, 173). Der Ausländer ist gemäß § 48 Abs. 3 Satz 1 AufenthG verpflichtet, an der Passbeschaffung mitzuwirken und zumindest einen entsprechenden Antrag bei der diplomatischen Vertretung seines Heimatstaates zu stellen. Nach § 60b Abs. 2 Satz 1, Abs. 3 Satz 1 AufenthG ist ein vollziehbar ausreisepflichtiger Ausländer mit ungeklärter Identität, der keinen gültigen Pass besitzt, verpflichtet, alle ihm unter Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalls zumutbaren Handlungen zur Beschaffung eines Passes oder Passersatzes selbst vorzunehmen. Bemühungen des Ausländers um die Ausstellung eines Passes sind nur im Ausnahmefall entbehrlich, wobei hierzu der Ausländer jedenfalls im verwaltungsrechtlichen Verfahren einen den Ausnahmefall begründenden Umstand darzulegen hat (vgl. BVerwG NVwZ 2023, 439). Ein solcher eng begrenzter Ausnahmefall ist beispielsweise anzuerkennen, wenn sich der Ausländer durch Vorsprache bei seiner diplomatischen Vertretung selbst einer Straftat bezichtigen muss, indem er eine sog. „Reueerklärung“ abgeben muss (BVerwG a.a.O.). Dafür gibt es hier keine Anhaltspunkte.
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Die verwaltungsrechtliche Vorfrage der Zumutbarkeit muss der Tatrichter anhand aller ihm bekannten und erforderlichenfalls noch aufklärbaren Umstände entscheiden. Kommt er zu dem Ergebnis, der Angeklagte hätte in zumutbarer Weise einen Pass erlangen können, so kann diese Bewertung vom Revisionsgericht nur daraufhin überprüft werden, ob von ihm der Begriff der Zumutbarkeit verkannt wurde oder ob er bei seiner Bewertung wesentliche Umstände außer Betracht gelassen hat (BayObLG a.a.O.). Ist ein Ausländer entgegen seiner Rechtspflicht aber nicht einmal zu einem entsprechenden Antrag auf Erteilung eines neuen Passes bereit, verbietet sich grundsätzlich die Annahme, ein solcher sei in zumutbarer Weise nicht zu erlangen (BayObLG a.a.O.).
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Der Umstand, dass sich ein ausreisepflichtiger Ausländer durch die Passbeschaffung der Gefahr aussetzt, aus dem Bundesgebiet abgeschoben zu werden, ändert nichts an der Passpflicht und der Zumutbarkeit normgerechten Verhaltens. Denn die Passpflicht dient nicht nur der Feststellung der Identität und Staatsangehörigkeit, sondern soll auch verhindern, dass ausreisepflichtige Ausländer im Bundesgebiet verbleiben, weil sie ohne Ausweispapiere nicht in ihr Heimatland abgeschoben werden können (vgl. OLG Düsseldorf, Beschluss vom 25.05.2020 – 2 RVs 35/20 = BeckRS 2020, 11648; BayObLG a.a.O.).
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d) Nur in dem Fall, dass die Bemühungen zur Beseitigung der Passlosigkeit im Einzelfall unzumutbar sind (vgl. hierzu BayObLGSt 2004, 172; OLG Düsseldorf, Beschluss vom 25.05.2020 – III-2 RVs 35/20 bei juris) oder nicht zum Erfolg führen, würde es genügen, wenn die Angeklagte einen Anspruch auf einen deutschen Ausweisersatz (vgl. § 55 AufenthV) besäße (vgl. Bergmann/Dienelt/Stephan a.a.O. Rn. 26). Ausweislich der Urteilsfeststellungen hat hier die Ausländerbehörde die Duldung nicht als Ausweisersatz erteilt, die Duldung wurde vielmehr mit dem Zusatz versehen, dass die Angeklagte mit der ausgestellten Bescheinigung über die Duldung der Pass- und Ausweispflicht nicht genügt. Hat ein Ausländer keine zumutbaren Anstrengungen unternommen, sich einen Pass oder Ausweisersatz zu beschaffen, macht er sich selbst dann strafbar, wenn bei entsprechenden Bemühungen ein Passersatz ausgestellt werden müsste (Hailbronner, in Hailbronner Ausländerrecht III. Januar 2023 § 95 Abs. 1 Nr. 1 (pass- oder ausweisloser Aufenthalt) Rn. 14). Die Urteilsfeststellungen geben auch keine Anhaltspunkte dafür, dass die Angeklagte über einen Aufenthaltstitel nach § 25 Abs. 2 Satz 1 AufenthG verfügte (vgl. BayObLG, Urt. v. 12.07.2021 – 203 StRR 171/21 bei juris = BeckRS 2021, 29955 zum subsidiären Schutz nach § 4 AsylG).
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e) Die Abgabe von Fingerabdrücken am 26.05.2022 bei der Botschaft der Republik Äthiopien durch die Angeklagte beseitigt die Strafbarkeit rückwirkend nicht. Der Aufenthalt ohne Pass nach § 95 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG ist ein echtes Unterlassungsdauerdelikt (OLG München NStZ-RR 2012, 348, 349; BeckOK/Hohoff AuslR [36. Ed. Stand: 01.07.2022] § 95 AufenthG Rn. 4; Bergmann/Dienelt/Stephan a.a.O. Rn. 24). Dauerdelikte enden erst mit der Aufhebung des rechtswidrigen Zustands, welcher hier noch nicht erfolgt ist.
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3. Der Strafbarkeit nach § 95 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG steht auch nicht entgegen, dass die Angeklagte am 05.02.2021, am 17.08.2021 und am 05.04.2022 Folgeanträge im Sinne des § 71 AsylG gestellt hat, wobei über den letzten noch keine Entscheidung ergangen ist.
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Dabei kann dahinstehen, ob die Angeklagte in der Zeit des dritten Asylfolgeverfahrens keiner förmlichen Duldung bedurfte, weil § 71 Abs. 5 Satz 2 AsylG eine gesetzliche Duldungsfiktion beinhaltet bis zur Mitteilung des BAMF, dass die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 bis 3 VwVfG für eine Wiederaufnahme des Asylverfahrens nicht vorliegen (so BayObLG NStZ 1996, 395). Denn dies hätte nur Auswirkungen für die Frage, ob sich die Angeklagte wegen faktischer bzw. fiktiver Duldung keines unerlaubten Aufenthalts gemäß § 95 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG strafbar gemacht hätte (vgl. BayObLGSt 1998, 112, 113 f.). Die Strafbarkeit eines unerlaubten Aufenthaltes ohne Pass gemäß § 95 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG wird hierdurch nicht berührt.
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a) Eine Strafbarkeit nach § 95 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG ist möglich, ohne dass gleichzeitig ein unerlaubter Aufenthalt i.S.d. § 95 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG vorgelegen hat, was auch verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden ist. Der passlose Aufenthalt wurde vom Gesetzgeber als strafwürdige Verhaltensweise definiert und ebenso wie andere Verstöße gegen das Ausländer- und Aufenthaltsrecht unter Strafe gestellt. Auch wenn sich die verschiedenen Formen strafbaren Handelns vielfach überschneiden, handelt es sich jeweils um selbstständige Strafnormen (BVerfG NVwZ 2006, 80). Die Strafvorschriften des unerlaubten Aufenthalts und des unerlaubten Aufenthalts ohne Pass verfolgen unterschiedliche Schutzzwecke. Letztere dient eigenständigen, über die Frage des Aufenthaltsrechts hinausgehenden Zielen, nämlich der Feststellung von Identität, Nationalität und Rückkehrberechtigung des Ausländers in einen anderen Staat und sichert die Möglichkeit einer Identitätskontrolle (BVerfG a.a.O. m.w.N.). Deshalb erstreckt sich die Pass- und Ausweispflicht auch auf Ausländer, die über einen Aufenthaltstitel oder -anspruch verfügen; auch diese können sich strafbar machen, wenn sie ihren Pass nach dessen Ablauf wissentlich nicht verlängern lassen (Hailbronner a.a.O. Rn. 13).
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b) Die Strafbarkeit nach § 95 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG entfällt auch dann nicht, wenn aufgrund des letzten Asylfolgeantrags eine Duldungsfiktion eingreifen würde, denn selbst derjenige, der einen bloßen Duldungsanspruch hat, kann damit nicht zugleich die Ausstellung eines Ausweisersatzes beanspruchen (BVerfG NVwZ 2006, 80, 81). Das Vorliegen eines ausländerrechtlichen Duldungsanspruchs begründet aber keine Unzumutbarkeit normgemäßen Verhaltens. Denn die Duldung gewährt kein dauerhaftes Aufenthaltsrecht. Stehen der Ausreise lediglich tatsächliche Hindernisse entgegen, namentlich solche, die der Ausreisepflichtige selbst zu vertreten hat, wird ihm durch die Auferlegung (und strafrechtliche Durchsetzung) der Pass- und Ausweispflicht regelmäßig nichts Unzumutbares abverlangt. Der Ausreisepflichtige kann nicht beanspruchen, dass der Staat die Durchsetzung der Ausreisepflicht unterlässt, ihn von weiteren aufenthaltsrechtlichen Verpflichtungen freistellt oder deren Verletzung nicht sanktioniert (BVerfG a.a.O.; KG NStZ-RR 2013, 358, 359). Denn Pass- und Ausweispflichten betreffen nicht nur Ausländer, sondern auch deutsche Staatsangehörige. Die Mitwirkungspflichten des Ausländers an der Beschaffung von Dokumenten sind bis zu einer Entscheidung des BAMF grundsätzlich nicht durch einen Asylfolgeantrag suspendiert (VGH München, Beschluss vom 14.06.2021 – 19 CS 21.486 = BeckRS 2021, 15855; VG Karlsruhe, Urt. v. 11.01.2017 – A 4 K 2343/16 = BeckRS 2017, 101796; VG Regensburg, Beschluss vom 10.05.2013 – RO 9 S 13.627 = BeckRS 2013, 50810).
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4. Die Angeklagte kann sich auch nicht auf den persönlichen Strafaufhebungsgrund des Art. 31 Abs. 1 Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) berufen. Die Regelung kann zwar dazu führen, dass die Asylsuchende mit dem Erreichen der zweiten Verfahrensstufe im Rahmen eines Asylfolgeantrags die mit dem Asylverfahren verbundene Rechtsstellung erlangt und deshalb nicht wegen unerlaubter Einreise bestraft werden darf (BayObLGSt 1998, 112, 115). Dies betrifft aber nur die Strafbarkeit wegen unerlaubter Einreise und unerlaubten Aufenthalts, nicht aber die Strafbarkeit wegen passlosen Aufenthalts. Art. 31 Abs. 1 GFK erfasst lediglich die unrechtmäßige Einreise und den unrechtmäßigen Aufenthalt des Schutzsuchenden, der sich unverzüglich bei den Behörden meldet. Der persönliche Strafausschließungsgrund des Art. 31 Abs. 1 GFK erfasst regelmäßig nicht sog. Begleitdelikte, die über die unerlaubte Einreise und den unerlaubten Aufenthalt hinausgehen (OLG Bamberg NStZ 2015, 404, 405; OLG München, Beschluss vom 29.03.2010 – 5 StRR (II) 79/10 = BeckRS 2010, 37619; BeckOK/Hohoff a.a.O. Rn. 108; BVerfG NVwZ 2015, 361, 365). Art. 31 Abs. 1 GFK liegt der Gedanke zugrunde, dass einem Flüchtling die Verletzung von Einreise- und Aufenthaltsvorschriften nicht zum Vorwurf gemacht werden kann, wenn er nur auf diese Weise Schutz vor politischer oder sonstiger Verfolgung erlangen kann. Im Umkehrschluss bedeutet dies jedoch, dass eine Strafbefreiung jedenfalls dann ausscheidet, wenn der Schutz vor Verfolgung auch in Übereinstimmung mit der Rechtsordnung des Gaststaats hätte erlangt werden können (BVerfG a.a.O.). So liegt es hier, denn der Schutz der Angeklagten vor Verfolgung ist unabhängig von ihrer Verpflichtung, gemäß § 48 Abs. 3 AufenthG an der Beschaffung eines Passes mitzuwirken, gewährleistet.
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5. Demnach besteht vorliegend auch kein Anlass dazu, das Verfahren im Hinblick auf die Entscheidung über den Asylfolgeantrag vom 05.04.2022 auszusetzen. Denn auch im Falle einer für die Angeklagte günstigen Entscheidung des BAMF über den Folgeantrag änderte sich an der Strafbarkeit der Angeklagten nichts. Es kann daher auch offenbleiben, ob die Feststellungen des Tatgerichts zum Asylfolgeantrag tragfähig begründet sind (vgl. BayObLGSt 1998, 112 zur unerlaubten Einreise und zum unerlaubten Aufenthalt), da auch in dem Fall, dass das Vorliegen von Wiederaufgreifensgründen nach § 51 Abs. 1 VwVfG von der Verwaltungsbehörde bejaht wird, die Strafbarkeit nach § 95 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG nicht entfällt.
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6. Im Übrigen wird zur weiteren Begründung, auch soweit es den Rechtsfolgenausspruch betrifft, auf die zutreffende Stellungnahme der Generalstaatsanwaltschaft München in ihrer Antragsschrift vom 15.02.2023 Bezug genommen.
III.
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Die Kostenentscheidung beruht auf § 473 Abs. 1 Satz 1 StPO.