Titel:
Notwendigkeit der Darlegung konkreter Anhaltspunkte für die Unwirksamkeit einer Beitragserhöhung
Normenketten:
ZPO § 138
BGB § 242
VVG § 203 Abs. 5
Leitsätze:
1. Der einen Anspruch aus ungerechtfertigter Bereicherung und Schadensersatz wegen vermeintlicher Unwirksamkeit einer Prämienerhöhung geltend machende Versicherungsnehmer trägt die Darlegungs- und Beweislast für das Fehlen eines Rechtsgrunds und die Pflichtverletzung. (Rn. 2) (redaktioneller Leitsatz)
2. Die Tatsache, dass der Versicherungsnehmer außerhalb des versicherungsinternen Ablaufs der kalkulatorischen Versicherungsprämienfestsetzung steht, rechtfertigt – auch unter dem Grundsatz der Waffengleichheit – keine Umkehr der allgemeinen Darlegungs- und Beweislastverteilung. (Rn. 4) (redaktioneller Leitsatz)
3. Die Einforderung einer gerichtlichen Beweisaufnahme im Falle einer Klage auf Rückzahlung geleisteter Beiträge zur privaten Krankenversicherung, die nicht auf tatsächliche Anhaltspunkte gestützt und damit ins Blaue hinein oder aufs Geratewohl erhoben ist, stellt sich als rechtsmissbräuchliches Handeln ohne prozessuale Beachtlichkeit dar. (Rn. 12) (redaktioneller Leitsatz)
4. Ein redlicher, die Feststellung der Unwirksamkeit einer Beitragserhöhung geltend machender kann die ihn treffende Konkretisierungspflicht ohne Weiteres erfüllen, indem er ihn vorgerichtlich zu Zweifeln veranlassende tatsächliche Anhaltspunkte für die Unwirksamkeit schlüssig vorträgt. (Rn. 15) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Krankheitskostenversicherung, Beitragsanpassung, materielle Wirksamkeit, Darlegung, Beweiserhebung, schlüssiger Vortrag, Konkretisierung, rechtsmissbräuchlich
Vorinstanz:
LG München I vom 10.03.2023 – 12 O 12077/21
Rechtsmittelinstanz:
OLG München, Beschluss vom 17.05.2023 – 38 W 533/23 e
Fundstelle:
BeckRS 2023, 18286
Tenor
1. Der sofortigen Beschwerde des Klägers gegen den Beschluss vom 10.03.2023 (Bl. 70/71 d. A.) wird nicht abgeholfen, § 572 Abs. 1 ZPO.
2. Angesichts der (dennoch) getätigten Einzahlung des Auslagenvorschusses durch die Klagepartei (Bl. 75 d.A.) wird die Klagepartei zur Klarstellung bis 05.05.2023 aufgefordert, ob sie dennoch die Vorlage ihrer sofortigen Beschwerde vom 30.03.2023 an das Beschwerdegericht gemäß § 572 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 2 ZPO oder aber die (aufgrund der Auslagenvorschusseinzahlung nunmehr mögliche) Versendung der Akten zum Sachverständigen zur Einholung des Sachverständigengutachtens wünscht.
Gründe
1
Auch aufgrund der Beschwerdebegründung vom 30.03.2023 ist eine Änderung der Entscheidung über die Pflicht der Klagepartei zur Zahlung des Auslagenvorschusses (Bl. 71 d.A.) nicht möglich:
2
I. Nach allgemeinen systematischen Grundsätzen trägt bei einer auf §§ 812 ff. BGB (Anspruch aus ungerechtfertigter Bereicherung) bzw. § 280 BGB (Pflichtverletzung aus dem Versicherungsvertrag) gestützten (Rück-)Zahlungsklage derjenige die Darlegungs- und Beweislast, der sich auf das Fehlen eines Rechtsgrunds für seine eigene vorbehaltlose Zahlung (§ 812 Abs. 1 Satz 1 1. Alt. BGB) bzw. die Pflichtverletzung des anderen (§ 280 Abs. 1 Satz 1 BGB) beruft, mithin der auf (Rück-)Zahlung klagende Versicherungsnehmer (so auch OLG Brandenburg, Beschluss vom 10.05.2019, Az. 11 U 119/17).
3
II. Im Bereich der Beitragsanpassungen in der privaten Krankenversicherung wird zwar teilweise eine Umkehr dieser allgemeinen Darlegungs- und Beweislast mit dem Argument befürwortet, dass der Versicherungsnehmer ohne Kenntnis bzw. mangels eigener versicherungsmathematischer Kenntnisse selbst bei Kenntnis der Kalkulationsunterlagen des beklagten Versicherers nicht in der Lage sei, zur aktuariellen Rechtswidrigkeit der Beitragsanpassungen substantiiert vorzutragen.
4
Eine (bloß) von der materiell-rechtlichen Einbettung einer auf §§ 812 ff. BGB bzw. § 280 BGB gestützten Rückzahlungsklage in den Bereich der Beitragsanpassung in der privaten Krankenversicherung abhängigen Annahme einer „Ausnahme“ von den allgemeinen systematischen Grundsätzen der Darlegungs- und Beweislastverteilung überzeugt jedoch nicht. Die Tatsache, dass der Versicherungsnehmer außerhalb des versicherungsinternen Ablaufs der kalkulatorischen Versicherungsprämienfestsetzung steht, rechtfertigt – auch unter dem Grundsatz der Waffengleichheit – keine Umkehr der allgemeinen Darlegungs- und Beweislastverteilung (so auch OLG Brandenburg, Beschluss vom 10.05.2019, Az. 11 U 119/17):
5
Denn eine derartige Umkehr der allgemeinen Darlegungs- und Beweislastverteilung, mithin die Annahme einer (primären) Darlegungslast und Beweislast des beklagten Versicherers würde zu dem Ergebnis führen, dass bereits auf die bloße unsubstantiierte, durch keinerlei tatsächliche Anhaltspunkte gestützte und somit „ins Blaue hinein“ bzw. „aufs Geratewohl“ aufgestellte klägerische Behauptung einer materiellen Rechtswidrigkeit der Beitragsanpassungen hin der beklagte Versicherer zahlreiche geheimhaltungsbedürftige Unterlagen aufwendig zusammenstellen und sodann (im Verfahren gemäß §§ 172 Nr. 2, 174 Abs. 3 GVG) offenlegen und das vom Gericht in Auftrag zu gebende, diese Unterlagen überprüfende versicherungsmathematische Sachverständigengutachten (siehe BGH, Urteil vom 16.06.2004, Az. IV ZR 117/02; Urteil vom 09.12.2015, Az. IV ZR 272/15, NJW-RR 2016, 606) auch noch durch einen Kostenvorschuss gemäß §§ 402, 379 ZPO vorfinanzieren müsste.
6
Einem derartigen Ergebnis stünde bereits die Überlegung entgegen, dass gerade die – regelmäßig jahrelange – vorbehaltlose Zahlung der Erhöhungsbeiträge durch den Versicherungsnehmer eine ihm und nicht dem Versicherer obliegende Darlegungs- und Beweislast normativ rechtfertigt.
7
Eine derartige Annahme einer Pflicht der beklagten Partei zur Offenlegung geheimhaltungsbedürftiger Unterlagen bei „Fehlen jeglicher tatsächlicher Anhaltspunkte“ (siehe BGH, Urteil vom 16.09.2021, Az. VII ZR 190/20, NJW 2021, 3721, 3722 f.) widerspräche darüber hinaus dem ausdrücklichen Willen des demokratisch legitimierten Gesetzgebers der Zivilprozessordnung, eine – im Ergebnis dann vorliegende – bloße „Ausforschung“ als unzulässig und prozessordnungswidrig zu verhindern [siehe Bundestagdrucksache 14/6036 vom 15.05.2001, Seite 120 zu den Nummern 21 und 22 (§§ 142, 144 ZPO)].
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Ferner würde eine derartige Annahme einer Offenlegungs- und Vorschusspflicht des beklagten Versicherers nicht nur zur unbilligen Behandlung auch eines sich stets redlich verhaltenden Versicherers führen, sondern auch zwangsläufig zu Lasten der Gesamtheit der Versicherten gehen (so auch OLG Köln, Beschluss vom 18.05.2022, Az. 20 U 91/21, Rn. 29 ff. bei juris mit Verweis auf Grüneberg/Ellenberger, Bürgerliches Gesetzbuch, 81. Auflage, Überbl v § 194 Rn. 8).
9
Darüber hinaus würde eine derartige Annahme einer Pflicht des Gerichts zur Durchführung einer oben dargestellten Beweisaufnahme zur materiellen Rechtmäßigkeit der Beitragsanpassungen (siehe BGH, Urteil vom 16.06.2004, Az. IV ZR 117/02; Urteil vom 09.12.2015, Az. IV ZR 272/15, NJW-RR 2016, 606) auch das verfassungsrechtliche Gebot effektiven Rechtsschutzes aus Art. 19 Abs. 4 GG und den Rechtsfrieden beeinträchtigen:
10
Denn im Unterschied zur formellen Rechtmäßigkeit von Beitragsanpassungen, die durch den Tatrichter selbstständig zu beurteilen ist (siehe BGH, Urteil vom 17.11.2021, Az. IV ZR 113/20, NJW 2022, 389, 390, Rn. 24, beck-online) und deren Prüfung daher mit zumutbarem (Zeit-)Aufwand verbunden ist, erfordert dagegen eine Beweisaufnahme zur materiellen Rechtmäßigkeit die Einholung eines Gutachtens eines neutralen versicherungsmathematischen Sachverständigen (siehe BGH, Urteil vom 16.06.2004, Az. IV ZR 117/02; Urteil vom 09.12.2015, Az. IV ZR 272/15, NJW-RR 2016, 606). Die bundesweite Anzahl derartiger Sachverständige ist enorm gering; entsprechend sind die wenigen in Betracht kommenden Sachverständigen seit Jahren und absehbar für viele weitere Jahre bereits mit gerichtlichen Gutachtenaufträgen überlastet. Die gerichtliche Einholung eines Sachverständigengutachtens zur materiellen Rechtmäßigkeit von Beitragsanpassungen ist entsprechend mit enormem Zeitaufwand und einer enormen Verzögerung des Zeitpunktes einer gerichtlichen Entscheidung und somit auch des Zeitpunktes des Eintritts von Rechtsfrieden verbunden (so auch OLG Köln a.a.O. mit Verweis auf Grüneberg/Ellenberger a.a.O. Rn. 9).
11
Vor diesem Hintergrund widerspräche die Annahme einer Pflicht des Gerichts zur Durchführung einer oben dargestellten Beweisaufnahme zur materiellen Rechtmäßigkeit der Beitragsanpassungen auch dem Verbot rechtsmissbräuchlichen Handelns aus § 242 BGB. Insoweit sind wegen der Vergleichbarkeit der (prozessualen) Interessenlagen die Grundsätze der höchstrichterlichen Rechtsprechung zu den sogenannten „Diesel-Fällen“ heranzuziehen (siehe BGH, Urteil vom 16.09.2021, Az. VII ZR 190/20, NJW 2021, 3721, 3722 f.):
„Nach der ständigen Rechtsprechung des BGH ist ein Sachvortrag zur Begründung eines Anspruchs schlüssig und erheblich, wenn die Partei Tatsachen vorträgt, die in Verbindung mit einem Rechtssatz geeignet und erforderlich sind, das geltend gemachte Recht als in der Person der Partei entstanden erscheinen zu lassen (stRspr, vgl. nur BGH NJW 2021, 1593 = NZBau 2021, 316 = BauR 2021, 1183 Rn. 43; NJW-RR 2021, 147 = NZBau 2021, 178 = BauR 2021, 593 Rn. 14; BauR 2017, 306 Rn. 22, jew. mwN). Die Angabe näherer Einzelheiten ist nicht erforderlich, soweit diese für die Rechtsfolgen nicht von Bedeutung sind. Das Gericht muss nur in die Lage versetzt werden, aufgrund des tatsächlichen Vorbringens der Partei zu entscheiden, ob die gesetzlichen Voraussetzungen für das Bestehen des geltend gemachten Rechts vorliegen. Sind diese Anforderungen erfüllt, ist es Sache des Tatrichters, in die Beweisaufnahme einzutreten und dabei gegebenenfalls die benannten Zeugen oder die zu vernehmende Partei nach weiteren Einzelheiten zu befragen oder einem Sachverständigen die beweiserheblichen Streitfragen zu unterbreiten (vgl. BVerfG WM 2012, 492 Rn. 16; BGH NZV 2021, 525 = WM 2021, 1609 Rn. 20; NJW-RR 2021, 886 = MDR 2021, 871 Rn. 19; NJW 2020, 1740 = ZIP 2020, 486 Rn. 7, jew. mwN).
Diese Grundsätze gelten insbesondere dann, wenn die Partei keine unmittelbare Kenntnis von den ihrer Behauptung zugrunde liegenden Vorgängen hat. Eine Partei darf auch von ihr nur vermutete Tatsachen als Behauptung in einen Rechtsstreit einführen, wenn sie mangels entsprechender Erkenntnisquellen oder Sachkunde keine sichere Kenntnis von Einzeltatsachen hat (vgl. BGH NZV 2021, 525 = WM 2021, 1609 Rn. 21; NJW 2020, 1740 = ZIP 2020, 486 Rn. 8; NJW 1995, 1160 = VersR 1995, 433 Rn. 17). Gemäß § 403 ZPO hat die Partei, die die Einholung eines Sachverständigengutachtens beantragen will, die zu begutachtenden Punkte zu bezeichnen. Dagegen verlangt das Gesetz nicht, dass der Beweisführer sich auch dazu äußert, welche Anhaltspunkte er für die Richtigkeit der in die Sachkenntnis des Sachverständigen gestellten Behauptung habe (BGH NJW 2020, 1679 = VersR 2020, 1069 Rn. 8).
Unbeachtlich ist der auf Vermutungen gestützte Sachvortrag einer Partei erst dann, wenn die unter Beweis gestellten Tatsachen so ungenau bezeichnet sind, dass ihre Erheblichkeit nicht beurteilt werden kann, oder wenn sie zwar in das Gewand einer bestimmt aufgestellten Behauptung gekleidet, aber aufs Geratewohl gemacht, gleichsam „ins Blaue“ aufgestellt, mit anderen Worten, aus der Luft gegriffen sind und sich deshalb als Rechtsmissbrauch darstellen (vgl. BGH NZV 2021, 525 = WM 2021, 1609 Rn. 22; NJW 2020, 1740 = ZIP 2020, 486 Rn. 8; BauR 2014, 1023 = BeckRS 2014, 5632 Rn. 26; BGHZ 121, 210 = NJW 1993, 2674 Rn. 26). Insoweit ist allerdings Zurückhaltung geboten; in der Regel wird nur das Fehlen jeglicher tatsächlicher Anhaltspunkte die Annahme eines Rechtsmissbrauchs rechtfertigen können (vgl. BGH NZV 2021, 525 = WM 2021, 1609 Rn. 22; NJW 2020, 1740 = ZIP 2020, 486 Rn. 8; BGHZ 121, 210 = NJW 1993, 2674 Rn. 26).
12
Nach den oben dargestellten und auch im hier vorliegenden Fall einer durch einen Versicherungsnehmer erhobenen Klage auf Rückzahlung geleisteter Beiträge zur privaten Krankenversicherung heranzuziehenden, höchstrichterlichen Grundsätzen stellt sich eine nicht auf „tatsächliche[ ] Anhaltspunkte“ gestützte und damit „ins Blaue hinein“ bzw. „aufs Geratewohl“ getätigte klägerische Einforderung einer mit den oben aufgezeigten Konsequenzen verbundenen gerichtlichen Beweisaufnahme zur materiellen Rechtmäßigkeit der den Kläger betreffenden Beitragsanpassungen als rechtsmissbräuchliches Handeln durch den Kläger ohne prozessuale Beachtlichkeit dar.
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Somit muss sich der auf Rückzahlung klagende Versicherungsnehmer von dem durch den Bundesgerichtshof genannten „Fehlen jeglicher tatsächlicher Anhaltspunkte“ für die materielle Rechtswidrigkeit der angegriffenen Beitragsanpassungen abgrenzen, um die prozessuale Beachtlichkeit seines diesbezüglichen Vortrags und eine darauf gestützte Beweisaufnahme zu bewirken (BGH a.a.O.). Ihn trifft demnach eine Pflicht zur Konkretisierung seines Vortrags in Bezug auf die materielle (Un-)Rechtmäßigkeit der durch ihn angegriffenen Beitragsanpassungen.
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III. Durch diese allgemeine Darlegungs- und Beweislastverteilung ist ein redlicher auf Rückzahlung klagender Versicherungsnehmer keineswegs prozessual unangemessen benachteiligt oder gar rechtsschutzlos gestellt. Die allgemeine Darlegungs- und Beweislastverteilung stellt den redlichen auf Rückzahlung klagenden Versicherungsnehmer nicht vor nennenswerte oder gar unzumutbare Herausforderungen:
15
Denn der redliche Kläger hat seine Zweifel an der materiellen Rechtmäßigkeit der konkret ihn betreffenden Beitragsanpassungen bereits vor Erhebung seiner Klage gegen den Versicherer gebildet; die ihm vorgerichtlich als Versicherungsnehmer gekommenen Zweifel sind gerade Anlass seiner Klage, mit der er diese bereits bestehenden Zweifel nunmehr gerichtlich klären möchte. Diese Zweifel stützt er somit auf ihm bereits vorgerichtlich zur Verfügung stehende Informationsquellen bzw. bereits gewonnene Erkenntnisse – beispielsweise auf eine besonders ungewöhnliche Beitragsentwicklung. Der redliche Kläger kann somit die ihn treffende Konkretisierungspflicht ohne Weiteres erfüllen, indem er ebendiese ihn bereits vorgerichtlich zu Zweifeln veranlassenden „tatsächliche[n] Anhaltspunkte“ (BGH a.a.O.) im Zivilprozess schlüssig vorträgt.
16
Von dieser Klagevoraussetzung in Gestalt bereits vorgerichtlich gebildeter Zweifel geht auch die höchstrichterliche Rechtsprechung, nach der die Klage „voraus[setzt], dass der Versicherungsnehmer Kenntnis von einer Prämienerhöhung hat und diese für materiell nicht berechtigt hält“, aus (BGH, Urteil vom 22.06.2022, Az. IV ZR 193/20, NJOZ 2022, 1167, 1172, Rn. 51, beck-online): Dass der Versicherungsnehmer die Prämienerhöhung für materiell nicht berechtigt halten muss, verlangt bereits vorgerichtlich gebildete Zweifel.
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Eine gänzliche Befreiung einer gegen die materielle Rechtmäßigkeit von Beitragsanpassungen gerichteten (Rück-)Zahlungsklage eines Versicherungsnehmers von den oben dargestellten prozessualen Grundsätzen zur Unbeachtlichkeit von „ins Blaue hinein“ bzw. „aufs Geratewohl“ getätigtem Vortrag und zur Grenze des Rechtsmissbrauchs gemäß § 242 BGB dagegen wurde durch den Bundesgerichtshof in dem o.g. Urteil gerade nicht bestimmt (so auch OLG Frankfurt am Main, Urteil vom 31.08.2022, Az. 12 U 159/18).
18
Darüber hinausgehender Vortrag ist nicht erforderlich, insbesondere auch nicht zu – zunächst nicht dem Versicherungsnehmer, sondern nur dem Versicherer zur Verfügung stehenden – „Berechnungsgrundlagen für die Prämienanpassungen“ (so auch BGH a. a.O. Rn. 51). Der Tatsache, dass der Versicherungsnehmer außerhalb des versicherungsinternen Ablaufs der kalkulatorischen Versicherungsprämienfestsetzung steht, vermag die allgemeine, oben dargestellte Systematik der Darlegungs- und Beweislastregeln durch eine sekundäre Darlegungslast des beklagten Versicherers Rechnung zu tragen (so auch OLG Brandenburg, Beschluss vom 10.05.2019, Az. 11 U 119/17): Anknüpfend an diese sekundäre Darlegungslast des beklagten Versicherers kann das Gericht den Versicherer gemäß § 142 Abs. 1 ZPO zur Offenlegung seiner geheimhaltungsbedürftigen Kalkulationsunterlagen (im Verfahren gemäß §§ 172 Nr. 2, 174 Abs. 3 GVG) verpflichten. Allerdings ist nicht nur nach der oben dargestellten höchstrichterlichen Rechtsprechung, sondern auch nach dem ausdrücklichen Willen des Gesetzgebers eine derartige sekundäre Darlegungslast des Versicherers erst dann aktiviert und somit eine den beklagten Versicherer zur Offenlegung seiner geheimhaltungsbedürftigen Unterlagen verpflichtende gerichtliche Anordnung gemäß § 142 Abs. 1 ZPO erst dann zulässig, wenn der klagende Versicherungsnehmer seiner vorangehenden Konkretisierungspflicht entsprochen und einen „schlüssigen Vortrag“ als „Grundlage“ für eine richterliche Unterlagenvorlageanordnung gemäß § 142 Abs. 1 ZPO vorgebracht hat – andernfalls eine vom Gesetzgeber als unzulässig erachtete Ausforschung stattfände [Bundestagdrucksache 14/6036 vom 15.05.2001, Seite 120 zu den Nummern 21 und 22 (§§ 142, 144 ZPO)].
19
So steht dem redlichen Kläger, der eine Klage erhebt, um seine aufgrund konkreter „tatsächlicher Anhaltspunkte“ (siehe oben BGH, Urteil vom 16.09.2021, Az. VII ZR 190/20, NJW 2021, 3721, 3722 f.) bereits bestehenden Zweifel an der materiellen Rechtmäßigkeit der ihn konkret betreffenden Beitragsanpassungen gerichtlich prüfen zu lassen, der Rechtsweg zu den Zivilgerichten ohne nennenswerte Hindernisse offen. Versperrt ist der Rechtsweg zu den Zivilgerichten dagegen ausschließlich einer vom konkreten Einzelfall völlig losgelösten Klage „ins Blaue hinein“ mit dem Ziel, den Versicherer bloß „auszuforschen“ und ohne konkrete Tatsachengrundlage und damit „aufs Geratewohl“ überhaupt erst einmal ermitteln zu lassen, ob sich (erst) im Laufe des Zivilprozesses überhaupt Zweifel an der materiellen Rechtmäßigkeit der Beitragsanpassungen ergeben. Diese Differenzierung nach Schutzwürdigkeitsgesichtspunkten ist nach der oben dargestellten höchstrichterlichen Rechtsprechung sowie nach dem Willen des Gesetzgebers gerade gewollt.
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IV. An dieser den klagenden Versicherungsnehmer treffenden Konkretisierungspflicht ändert auch nichts, dass der Kläger neben seinem auf (Rück-)Zahlung gerichteten Leistungsantrag zugleich einen in die Zukunft gerichteten Antrag auf Feststellung einer zukünftig herabgesetzten Prämienhöhe stellt.
21
Zwar wird teilweise vertreten, dass ein derartiger in die Zukunft gerichteter Antrag auf Feststellung einer zukünftig herabgesetzten Beitragshöhe (ausschließlich) als negative Feststellungsklage aufzufassen sei und daher insoweit den die zukünftigen Beiträge erhebenden Versicherer die primäre Darlegungslast und Beweislast treffe. Eine derartig pauschale Betrachtung überzeugt jedoch nicht, da sie insbesondere nicht die „Doppelrelevanz“ der Beitragsanpassungswirksamkeit als gleichzeitigen Rechtsgrund für vergangene und für zukünftige Beitragszahlungen berücksichtigt:
22
Denn ein in die Zukunft gerichteter Antrag auf Feststellung einer zukünftig herabgesetzten Prämienhöhe setzt zwingend die Unwirksamkeit zumindest der „jüngsten“ in der Vergangenheit liegenden Beitragsanpassung voraus. Umgekehrt umfasst ein Antrag auf Feststellung der (behaupteten) Unwirksamkeit der „jüngsten“ in der Vergangenheit liegenden Beitragsanpassung zwangsläufig auch eine Feststellung bezüglich der zukünftig durch den Versicherungsnehmer gegenüber dem Versicherer geschuldeten Prämienhöhe. Dies ist dem Umstand geschuldet, dass eine wirksame Beitragsanpassung eine vollständige (Gesamt-)Neufestsetzung der Prämie in dem jeweiligen Tarif bewirkt (BGH, Urteil vom 16.12.2020, Az. IV ZR 314/19, r+s 2021, 95, Rn. 54). Ist die „jüngste“ Beitragsanpassung wirksam, betrifft dies nicht nur die Höhe des auf die Vergangenheit bezogenen (Rück-)Zahlungsantrags, sondern zwangsläufig zugleich auch die zukünftig geschuldete Prämienhöhe.
23
Aus diesem Grund bringt ein auf die (Un-)Wirksamkeit einer Beitragsanpassung gerichteter Feststellungsantrag stets auch eine zivilprozessuale Vorgreiflichkeit im Sinne einer Zwischenfeststellungsklage gemäß § 256 Abs. 2 ZPO als Vorfrage für den (Rück)Zahlungsantrag mit sich (BGH, Urteil vom 16.12.2020, Az. IV ZR 294/19, NJW 2021, 378, 379 f., Rn. 19 f.). Diese Klageanträge stehen mithin nicht gleichrangig nebeneinander, sondern in einem Vorgreiflichkeitsverhältnis zueinander.
24
Dieser Charakter des Feststellungsantrags als vorgreifliche Zwischenfeststellungsklage gemäß § 256 Abs. 2 ZPO gebietet dann aber konsequenterweise nicht die Anwendung der für eine – davon zu unterscheidende – negative Feststellungsklage, sondern eben der für eine Zwischenfeststellungsklage gemäß § 256 Abs. 2 ZPO geltenden zivilprozessualen Grundsätze:
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Die Beweislastverteilung im Rahmen der Zwischenfeststellungsklage gemäß § 256 Abs. 2 ZPO folgt der Beweislastverteilung im Rahmen der Hauptsacheklage; dies hat seinen Grund in Zweck und Natur der Zwischenfeststellungsklage (vgl. BGH, Urteil vom 09.03.1994, Az. VIII ZR 165/93, NJW 1994, 1353, 1354; beck-online). Denn für die Zwischenfeststellungsklage gemäß § 256 Abs. 2 ZPO gilt insbesondere das Verbot eines Widerspruchs zwischen Hauptsacheentscheidung und Zwischenfeststellung (Zöller/Greger, Zivilprozessordnung, § 256 Rn. 31).
26
Die Gefahr eines solchen verbotenen Widerspruchs zwischen Hauptsacheentscheidung und Zwischenfeststellung läge aber im Zivilverfahren über Beitragsanpassungen in der privaten Krankenversicherung – aufgrund der oben dargestellten „Doppelrelevanz“ der Beitragsanpassungswirksamkeit sowohl für den Feststellungsantrag gemäß § 256 Abs. 2 ZPO als auch für den (Rück-)Zahlungsantrag – dann vor, wenn die (oben dargestellte) Verteilung der primären Darlegungslast und Beweislast „je nach Antrag aufgespalten“, mithin für den vorgreiflichen Feststellungsantrag gemäß § 256 Abs. 2 ZPO anders als für den (Rück-)Zahlungsantrag beurteilt werden würde und das Gericht bei fehlender Überzeugungsbildung gemäß § 286 ZPO (non liquet) auf diese unterschiedliche Verteilung der Darlegungs- und Beweislast zurückgreifen müsste.
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Demnach ist nach allgemeingültigen zivilprozessualen Grundsätzen (gerade) im Zivilverfahren über Beitragsanpassungen in der privaten Krankenversicherung die primäre Darlegungslast und Beweislast einheitlich dem klagenden Versicherungsnehmer auferlegt. Somit trifft den klagenden Versicherungsnehmer auch hinsichtlich seines in die Zukunft gerichteten Antrags auf Feststellung einer zukünftig herabgesetzten Prämienhöhe die (oben dargestellte) Pflicht zur Konkretisierung seines Angriffs auf die materielle Rechtmäßigkeit der Beitragsanpassungen.
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Zu diesem Ergebnis führt auch die Kontrollüberlegung, dass andernfalls – aufgrund der oben dargestellten „Doppelrelevanz“ der in Streit stehenden Beitragsanpassungen sowohl als Rechtsgrund der vergangenen als auch der zukünftigen Prämienzahlungen – die oben dargestellten zivilprozessualen Grundsätze und der Wille des Gesetzgebers hinsichtlich des Verbots der Ausforschung unterwandert werden würden.