Titel:
Systematische Mängel für vulnerabele Schutzberechtigte in Ungarn
Normenketten:
EMRK Art. 3
GRCh Art. 4
Dublin III-VO Art. 3 Abs. 1, Art. 12 Abs. 1
AsylG § 29 Abs. 1 Nr. 2, § 34a
AufenthG § 60 Abs. 5, Abs. 7, § 60a Abs. 2c
Leitsatz:
Für vulnerable anerkannte Schutzberechtigte in Ungarn, die ständig einer fachärztlichen medizinischen Behandlung bedürfen, ist das Vorliegen systemischer Mängel anzunehmen. (Rn. 21 – 35) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Dublin Zielstaat: Ungarn, Systemische Mängel, anerkannt Schutzberechtigte, Vulnerable Person, Mehrere behandlungsbedürftige psychische Erkrankungen, Dublin Zielstaat Ungarn, Konzept der normativen Vergewisserung, Prinzip des gegenseitigen Vertrauens, Bett, Brot, Seife, Schwachstellen im Asylsystem, systemische Mängel, vulnerable Person, mehrere behandlungsbedürftige psychische Erkrankungen, medizinischen Versorgung
Fundstelle:
BeckRS 2023, 18279
Tenor
I. Der Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 3. März 2022 wird aufgehoben.
II. Die Beklagte hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
III. Der Gerichtsbescheid ist hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht die Klägerin vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.
Tatbestand
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Die Klage wendet sich gegen einen Rücküberstellungsbescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt) im Rahmen des Dublin-Verfahrens nach Ungarn vom 3. März 2022.
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Am 10. März 2022 hat die Klagepartei beim Verwaltungsgericht München Klage erhoben mit dem Antrag:
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1. Der Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 3. März 2022 wird aufgehoben.
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2. Hilfsweise: Die Beklagte wird verpflichtet festzustellen, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 des Aufenthaltsgesetzes (AufenthG) vorliegen.
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Das Verwaltungsgericht hat mit Beschluss vom 16. März 2022 dem ebenfalls am 10. März 2022 gestellten Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage hinsichtlich der in Nr. 3 des Bescheids enthaltenen Abschiebungsanordnung stattgegeben (M 5 S 22.50121).
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Die Beklagte hat am 17. März 2022 beantragt,
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Die Beteiligten wurden zu der Absicht des Gerichts gehört, durch Gerichtsbescheid zu entscheiden.
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Bezüglich weiterer Einzelheiten wird auf die Gerichts- und vorgelegten Behördenakten sowie den Beschluss vom 16. März 2022 (M 5 S 22.50121) verwiesen.
Entscheidungsgründe
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Über die Verwaltungsstreitsache kann durch Gerichtsbescheid entschieden werden. Denn die Sache weist keine besonderen Schwierigkeiten tatsächlicher oder rechtlicher Art auf, der Sachverhalt ist geklärt (§ 84 Abs. 1 Satz 1 VwGO).
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Die zulässige Klage ist begründet, weil sich der Bescheid vom 3. März 2022 zum maßgeblichen Zeitpunkt des Erlasses dieses Urteils (§ 77 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 2 AsylG) als rechtswidrig erweist und die Klagepartei in ihren Rechten verletzt (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).
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Gemäß § 34a Abs. 1 Satz 1 AsylG ordnet das Bundesamt die Abschiebung in einen für die Durchführung des Asylverfahrens zuständigen Staat an, sobald feststeht, dass die Abschiebung durchgeführt werden kann.
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1. Ungarn ist als Mitgliedstaat, der der Antragstellerin eine Aufenthaltserlaubnis erteilt hat, für die Durchführung des Asylverfahrens grundsätzlich zuständig.
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Die Zuständigkeit für die Durchführung des Asylverfahrens richtet sich vorliegend nach der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaates, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen in einem Mitgliedstaat gestellten Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist (Dublin III-VO).
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Art. 3 Abs. 1 Dublin III-VO sieht vor, dass der Asylantrag von dem Mitgliedstaat ge-prüft wird, der nach den Kriterien des Kapitels III der Dublin III-VO als zuständiger Staat bestimmt wird. Bei Anwendung dieser Kriterien ist ohne weiteres Ungarn für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig. Denn die ungarischen Behörden haben der Antragstellerin einen Aufenthaltstitel nach Evakuierung aus Afghanistan ausgestellt, wonach Ungarn aufgrund von Art. 12 Abs. 1 Dublin III-VO für die Prüfung des Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist. Das haben die ungarischen Behörden mit Schreiben vom 29. Dezember 2021 auch anerkannt.
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2. Nach dem vom Bundesverfassungsgericht zur Drittstaatenregelung entwickelten „Konzept der normativen Vergewisserung“ ist davon auszugehen, dass in den Mitgliedstaaten der Europäischen Union die Anwendung der Grundrechtecharta, der Genfer Flüchtlingskonvention als auch der Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten – EMRK – sichergestellt ist (vgl. BVerfG, U.v. 14.5.1996 – 2 BvR 1938/93, 2 BvR 2315/93 – juris Rn. 181). Dieses vom Bundesverfassungsgericht entwickelte Konzept steht im Einklang mit dem der Schaffung eines gemeinsamen europäischen Asylsystems zugrundeliegenden Prinzips des gegenseitigen Vertrauens (vgl. EuGH, U.v. 21.12.2011 – Rs. C-411/10 und C-493/10 – juris). Unter diesen Bedingungen muss die nur in Ausnahmefällen widerlegbare Vermutung gelten, dass die Behandlung eines Asylbewerbers bzw. als schutzberechtigt anerkannten Ausländers in jedem einzelnen dieser Staaten im Einklang mit den genannten Rechten steht.
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Hiervon kann nur dann nicht ausgegangen werden, wenn sich auf Grund bestimmter Tatsachen aufdrängt, der Ausländer sei von einem Sonderfall betroffen, der von dem Konzept der normativen Vergewisserung bzw. dem Prinzip des gegenseitigen Vertrauens nicht aufgefangen wird (vgl. EuGH, U.v. 10.12.2013 – Rs. C-394/12 – juris, BVerfG, U.v. 14.5.1996 a.a.O.). Den nationalen Gerichten obliegt im Einzelfall die Prüfung, ob ernsthaft zu befürchten ist, dass das Asylverfahren und/oder die Aufnahmebedingungen im zuständigen Mitgliedstaat systemische Mängel aufweisen, die eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung der an diesem Mitgliedstaat überstellten Personen implizieren (vgl. EuGH, U.v. 21.12.2011 a.a.O. Rn. 86). Die Vermutung ist aber nicht schon bei einzelnen einschlägigen Regelverstößen der zuständigen Mitgliedstaaten widerlegt. An die Feststellung systemischer Mängel sind vielmehr hohe Anforderungen zu stellen. Von systemischen Mängeln ist nur dann auszugehen, wenn das Asylverfahren und/oder die Aufnahmebedingungen aufgrund größerer Funktionsstörungen in dem zuständigen Mitgliedstaat regelhaft so defizitär sind, dass zu erwarten ist, dass im konkret zu entscheidenden Einzelfall mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung im Sinne von Art. 4 EUGrdRCh bzw. Art. 3 EMRK droht (vgl. BVerwG, B.v. 19.3.2014 – 10 B 6.14 – juris Rn. 5 f. m.w.N., B.v. 6.6.2014 – 10 B 35/14 – juris). Bei einer zusammenfassenden, qualifizierten – nicht rein quantitativen – Würdigung aller Umstände, die für das Vorliegen solcher Mängel sprechen, muss diesen ein größeres Gewicht als den dagegensprechenden Tatsachen zukommen, d.h. es müssen hinreichend gesicherte Erkenntnisse dazu vorliegen, dass es immer wieder zu den genannten Grundrechtsverletzungen kommt (vgl. VGH BW, U.v. 16.4.2014 – A 11 S 1721/13 – juris).
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3. Diese Grundsätze konkretisierend hat der EuGH in seiner „Jawo“-Entscheidung ausgeführt, dass Schwachstellen im Asylsystem nur dann als Verstoß gegen Art. 4 GRCh bzw. Art. 3 EMRK zu werten sind, wenn sie eine besonders hohe Schwelle der Erheblichkeit erreichen, die von sämtlichen Umständen des Falles abhängt. Die hohe Schwelle der Erheblichkeit kann nach dem EuGH erreicht sein, wenn die Gleichgültigkeit der Behörden eines Mitgliedstaats zur Folge hätte, dass eine vollständig von öffentlicher Unterstützung abhängige Person sich unabhängig von ihrem Willen und ihren persönlichen Entscheidungen in einer Situation extremer materieller Not befände, die es ihr nicht erlaubt, ihre elementarsten Bedürfnisse zu befriedigen, wie insbesondere sich zu ernähren, sich zu waschen und eine Unterkunft zu finden, und die ihre physische oder psychische Gesundheit beeinträchtigen oder sie in einen Zustand der Verelendung versetzen würde, der mit der Menschenwürde unvereinbar wäre. Diese Schwelle ist selbst in durch große Armut oder eine starke Verschlechterung der Lebensverhältnisse der betreffenden Person gekennzeichneten Situationen nicht erreicht, sofern sie nicht mit extremer materieller Not verbunden sind, aufgrund deren sich diese Person in einer solch schwerwiegenden Lage befindet, dass sie einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung gleichgestellt werden kann (vgl. dazu insgesamt EuGH, U.v. 19.3.2019 – C-163/17 (Jawo)- juris Rn. 91 ff., m.w.N.).
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Ein Verstoß liegt ausgehend hiervon erst dann vor, wenn die elementarsten Bedürfnisse nicht befriedigt werden können, insbesondere eine Unterkunft zu finden, sich zu ernähren und zu waschen – „Bett, Brot, Seife“ – (vgl. OVG NRW, B.v. 16.12.2019 – 11 A 228/15.A – juris Rn. 29 ff., 44 ff.; VGH BaWü, B.v. 27.5.2019 – A 4 S 1329/19 – juris Rn. 5). Der bloße Umstand, dass in dem Mitgliedstaat, in dem der neue Antrag auf internationalen Schutz gestellt worden ist, die Sozialhilfeleistungen und/oder die Lebensverhältnisse günstiger sind als in dem bereits internationalen Schutz gewährenden Mitgliedstaat, kann nicht die Schlussfolgerung stützen, dass die betreffende Person im Fall ihrer Überstellung in den zuletzt genannten Mitgliedstaat tatsächlich der Gefahr ausgesetzt wäre, eine gegen Art. 4 GRCh bzw. Art. 3 EMRK verstoßende Behandlung zu erfahren (vgl. EuGH, U.v. 19.3.2019 – C-297/17 u. a. (Ibrahim) – juris Rn. 93 f., und vom 19.3.2019 – C-163/17 (Jawo) – juris Rn. 97). Ebenso ist das Fehlen familiärer Solidarität keine ausreichende Grundlage für die Feststellung einer Situation extremer materieller Not. Auch Mängel bei der Durchführung von Programmen zur Integration von Schutzberechtigten reichen für einen Verstoß gegen Art. 4 GRCh bzw. Art. 3 EMRK nicht aus (vgl. EuGH, B.v. 13.11.2019 – C-540 und C-541/17 (Hamed) – juris Rn. 39, und U.v. 19.3.2019 -C-163/17 (Jawo) – juris Rn. 93 f. und 96 f). Der Verstoß muss schließlich unabhängig vom Willen des Betroffenen drohen. Hieran fehlt es, wenn der Betroffene nicht den Versuch unternimmt, sich unter Zuhilfenahme gegebener, wenn auch bescheidener Möglichkeiten und gegebenenfalls unter Inanspruchnahme gerichtlichen Rechtsschutzes eine Existenz im Abschiebezielstaat aufzubauen, wobei sich Schutzberechtigte auf den für Staatsangehörige des schutzgewährenden Staats vorhandenen Lebensstandard verweisen lassen müssen – sog. Grundsatz der Inländergleichbehandlung – (vgl. OVG NRW, B.v. 16.12.2019 – 11 A 228/15.A – juris Rn. 47 ff.; OVG Schl – H., U.v. 6.9.2019 – 4 LB 17/18 – juris Rn. 71, 174 f.).
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Vor diesem Hintergrund mag vertretbar sein, das Vorliegen systemischer Mängel für anerkannt Schutzberechtigte, die nicht zum Personenkreis der vulnerablen Personen zählen, anzunehmen (VG Ansbach, U.v. 7.12.2020 – An 17 K 18.50528 – juris; U.v. 22.10.2020 – An 17 K 20. 50084 – juris Rn. 39 ff. junger arbeitsfähiger Mann mit PTBS; jedoch a.A. VG Augsburg, U.v. 20.5.2020 – Au 5 K 20.20088 – juris, OVG Saarlouis, B.v. 12.3.2018 – juris).
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4. Im vorliegenden Fall ist jedoch von systemischen Mängeln auszugehen. Denn bei der Antragstellerin handelt es sich um eine vulnerable Person, die ständig einer fachärztlichen medizinischen Behandlung bedarf. Das folgt aus den Stellungnahmen der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie F. vom 19. Januar 2022 und 11. Februar 2022. In letzterer Stellungnahme werden die negativen Folgen eines Behandlungsabbruchs angegeben. Damit hat sich das Bundesamt im streitgegenständlichen Bescheid auch nicht ansatzweise auseinandergesetzt.
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Zudem ist die Situation der medizinischen Versorgung anerkannt Schutzberechtigter in Ungarn als problematisch anzusehen (vgl. hierzu insgesamt für das Folgende: VG Aachen, B.v. 3.2.2022 – 5 K 5443/17.A – juris Rn. 169 ff. mit zahlreichen Nachweisen).
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Bezüglich der Gesundheitsversorgung sind anerkannt Schutzberechtigte nach dem ungarischen Gesundheitsgesetz zwar den ungarischen Staatsangehörigen gleichgestellt. In Ungarn existiert ein allgemeiner Versicherungsschutz in den Bereichen Krankheit, Mutterschutz, Alter, Invalidität, Berufskrankheiten und -unfälle, Hinterbliebene, Kindererziehung und Arbeitslosigkeit; allerdings werden nur Personen, die erwerbstätig sind per Gesetz Mitglied der Versicherung. In den ersten sechs Monaten nach der Zuerkennung des Schutzstatus besteht nur ein Anspruch auf Versorgung unter den für Asylbewerber geltenden Bedingungen (vgl. AIDA, Country Report: Hungary Länderbericht zum Asylverfahren und den Lebensbedingungen von Flüchtlingen, 01. April 2021, S. 131f.). Das bedeutet, dass die Asylbehörde die Kosten für die Gesundheitsversorgung der Schutzberechtigten für sechs Monate übernimmt, wenn sie bedürftig sind und – was regelmäßig der Fall sein dürfte – keine andere Form der Krankenversicherung abschließen können (vgl. BFA, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, Ungarn, Gesamtaktualisierung 26.02.2020, Stand: 09.03.2020, S. 21.).
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Allerdings wird nach Berichten der NGOs diese Form der Kostenübernahme von den Leistungserbringern im ungarischen Gesundheitswesen nicht akzeptiert. Auch wurde nach Angaben der Evangelisch-Lutherischen Kirche und von Menedék, die medizinische Versorgung von Schutzberechtigten, die in einer der Obdachlosenunterkünfte des Baptistischen Integrationszentrums lebten, willkürlich vom zuständigen Arzt verweigert, mit der Folge, dass ein Flüchtling trotz schwerwiegender Symptome keine medizinische Versorgung erhalten habe (vgl. AIDA, Country Report: Hungary Länderbericht zum Asylverfahren und den Lebensbedingungen von Flüchtlingen, 01.04.2021, S. 131f.).
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Schließlich haben die jüngsten Änderungen des Sozialversicherungsgesetzes zur Folge, dass der Krankenversicherungsanspruch von später aus anderen EU-Mitgliedstaaten zurückgeführten Personen, die zunächst internationalen Schutz in Ungarn erhalten hatten, erlischt. Etwaige Kosten für eine zeitnah nach der Einreise erforderliche medizinische Behandlung sind deshalb von den Schutzberechtigten selbst zu tragen (vgl. AIDA, Country Report: Hungary Länderbericht zum Asylverfahren und den Lebensbedingungen von Flüchtlingen, 01. April 2021, S. 131.).
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Selbst für in Ungarn verbleibende Schutzberechtigte bestehen große Schwierigkeit innerhalb angemessener Zeit eine Krankenversicherungskarte zu erhalten, da dies voraussetzt, dass eine Identitäts- und Adresskarte ausgestellt wurde (vgl. AIDA, Country Report: Hungary Länderbericht zum Asylverfahren und den Lebensbedingungen von Flüchtlingen, 01.04.2021, S. 13).
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Psychiatrische, psychotherapeutische, psychologische Behandlung und psychosoziale Beratung für Folterüberlebende und schwer traumatisierte Asylbewerber, Flüchtlinge und ihre Familienangehörigen werden grundsätzlich von der Cordelia-Foundation geleistet (vgl. Beschreibung der Stiftung, abrufbar unter: https://cordelia.hu).
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Die gemeinnützige Stiftung ist die einzige zivile Organisation in Ungarn, die diese Betreuung anbietet. Sie finanziert ihre Tätigkeit durch Zuschüsse und Fonds, wobei Hauptgeber die EU, das OHCHR der Vereinten Nationen und UNHCR sind. Allerdings konstatierte die Stiftung bereits im Jahr 2018, dass NGOs, die in Ungarn Flüchtlinge unterstützten, in einem sehr ungünstigen, sogar feindseligen politischen und gesellschaftlichen Klima arbeiteten. Die ungarische Regierung benutze Migranten konsequent als öffentliche Sündenböcke; es gebe eine systematische Demontage des Asyl- und Integrationssystems für Schutzberechtigte in Ungarn. NGOs wie Cordelia würden schrittweise in ihrer Arbeit eingeschränkt, indem ihnen oft der physische Zugang zu den Zielgruppen verweigert werde. Da Schutzberechtigten jegliche staatliche Unterstützung nach der Anerkennung verweigert werde, müssten die NGOs die Lücke in den Diensten ausgleichen, indem sie Wohnprogramme, Rechtshilfe, Sozialfürsorge, psychologische Betreuung usw. anbieten. Die 2018 eingeführten politischen Maßnahmen und das durch die Regierungspolitik entstandene allgemein feindselige Umfeld hätten tiefgreifende negative Auswirkungen auf die Arbeit von Cordelia und den Zugang zu den Schutzberechtigten sowie auf deren psychischen Gesundheitszustand. Traumatisierte Flüchtlinge oder solche, die mit psychischen Problemen zu kämpfen hätten (nach internationalen Schätzungen etwa 30-50% aller Schutzberechtigten), hätten zunehmend Schwierigkeiten, selbst das sehr begrenzte Angebot an Dienstleistungen der NGOs zu finden und zu nutzen (vgl. Cordelia Foundation, Report on the mental health conditions of beneficiaries of international protection and asylum seekers in Hungary, 2018, abrufbar unter https://cordelia.hu). Das Bundesamt sieht diese Einschränkung im streitgegenständlichen Bescheid nicht.
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Zu den dargestellten allgemeinen problematischen Rahmenbedingungen kommt im vorliegenden Fall hinzu, dass die Antragstellerin in ihrer Anhörung am 13. Januar 2022 angegeben hat, in Ungarn in einem Heim für Drogenabhängige untergebracht gewesen zu sein. Sie habe von einer Krankenschwester bei Beschwerden nur Paracetamol (gerichtsbekannt ein Schmerzmittel) erhalten. Das unterstreicht dies Mängel bei der medizinischen Versorgung von anerkannt schutzberechtigten Personen in Ungarn. Das Bundesamt hat es andererseits nicht für notwendig gefunden, sich mit dieser Situation in dem streitgegenständlichen Bescheid auch nur ansatzweise näher auseinander zu setzen.
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5. Das Gericht sieht keinen Anlass, von der bereits im Beschluss vom 16. März 2022 (M 5 S 22.50121) dargelegten Auffassung abzuweichen.
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Insbesondere im negativen „SER-Votum“ (ohne Datum), das vom Bundesamt mit Schreiben vom 25. Mai 2022 vorgelegt wurde, wird die allgemeine Situation der Gesundheitsversorgung zurückkehrender Asyl- und Schutzberechtigter dargestellt. Eine Auseinandersetzung mit den im Beschluss vom 16. März 2022 (M 5 S 22.50121) angegeben tatsächlichen Schwierigkeiten erfolgt in dem „SER-Votum“ nicht. Soweit dort ein Anspruch auf Untersuchung und Behandlung durch einen Allgemeinmediziner wiedergegeben ist, geht das am vorliegen Fall völlig vorbei, in dem es um die erforderliche psychiatrische und psychotherapeutische Behandlung geht. Zudem sind der Klägerin zwei auf die Psyche wirkende Medikamente (gerichtsbekannt: Quetiapin als Neuroleptikum, Sertralin als Antidepressivum) verordnet. Während des Klinikaufenthalts als Bedarfsmedikation Lorazepam (gerichtsbekannt: Beruhigungsmittel).
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Die vorgelegten fachärztlichen Berichte der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie F. vom 19. Januar 2022, ergänzt durch einen undatierten, am 11. Februar 2022 versandten Bericht, genügt den höchstrichterlichen Mindestanforderungen, die an eine fachärztliche Bescheinigung zum Vorliegen einer psychischen Erkrankung zu stellen sind (vgl. hierzu grundlegend BVerwG, U.v. 11.9.2007 – 10 C 8.07 – BVerwGE 129, 251 = juris Rn. 15; B.v. 26.7.2012 – 10 B 21.12 – juris Rn. 7). Diese hat der Gesetzgeber inzwischen in § 60a Abs. 2c Satz 3 AufenthG übernommen. Hiernach soll die ärztliche Bescheinigung insbesondere die tatsächlichen Umstände, auf deren Grundlage eine fachliche Beurteilung erfolgt ist, die Methode der Tatsachenerhebung, die fachlich medizinische Beurteilung des Krankheitsbilds (Diagnose), den Schweregrad der Erkrankung sowie die Folgen, die sich nach ärztlicher Beurteilung aus der krankheitsbedingten Situation voraussichtlich ergeben, enthalten. Die Vorschrift ist auch bei Substanziierung eines krankheitsbezogenen Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG im Asylverfahren anzuwenden (vgl. BayVGH, B.v. 4.4.2019 – 9 ZB 19.30999 – juris Rn. 6; B.v. 13.12.2018 – 13a ZB 33056 = juris Rn. 7; OVG LSA, B.v. 28.9.2017 – 2 L 85/17 – NVwZ-RR 2018, 244 = juris Rn. 5 ff.; OVG RhPf, B.v. 2.10.2018 – 6 A 11552/17 – juris Rn. 14; vgl. zu Ganzen auch: BayVGH, U.v. 23.9.2019 – 8 B 19.32560 – juris Rn. 19). Entsprechend ist sie erst recht auch für die Frage bedeutsam, ob und welche behandlungsbedürftige Erkrankung bei einem Ausländer vorliegt.
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Aus den genannten Attesten ergibt sich, dass die behandelnde Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie sowie Fachärztin für Neurologie ihre Diagnose aufgrund eigener nervenärztlicher Untersuchungen gestellt hat. Die Atteste enthalten Angaben darüber, wie sich die Erkrankung im konkreten Fall darstellt (posttraumatische Belastungsstörung F 43.1, depressive Störung gegenwärtig mittelgradige Episode F 33.1, dissoziative Krampfanfälle F 44.5). Auch die Folgen, die sich aus der krankheitsbedingten Situation voraussichtlich ergeben, sind dort aufgeführt. Die Klägerin leidet unter immer wieder auftretenden Krampfanfällen und eine generell niedergedrückte Stimmung mit reduzierter Schwingungsfähigkeit und Antrieb. Es wurden Ein- und Durchschlafstörungen mit verstärkten Alpträumen geschildert. Das wird durch das Schreiben der Klinik ohne Datum, versandt am 11. Februar 2022 unterstrichen. Dort ist auch angegeben, dass ein Therapieabbruch und eine erzwungene Rückkehr nach Afghanistan aus ärztlicher Sicht eine Retraumatisierung sowie eine massive Verschlechterung des Erkrankungsbildes bis hin zum Auftreten von akuter Suizidalität zur Folge. Zwar soll die Klägerin nicht nach Afghanistan, sondern Ungarn, jedoch ist auch dort sowohl nach den allgemeinen Erkenntnissen wie auch den von der Klägerin konkret geschilderten Erfahrungen eine Fortführung der fachärztlichen Behandlung mit der erforderlichen Medikamentenversorgung nicht gesichert.
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Diese fachärztlichen Beurteilungen sind für das Gericht ausreichend, plausibel und überzeugen. Soweit die Beklagte in dem negativen „SER-Votum“ Mängel bei der Ermittlung des Krankheitsbildes moniert, wird verkannt, dass ein psychopathologischer Befund bei Aufnahme und mehrere Therapiegespräche während des stationären Aufenthalts durchgeführt wurden. Soweit eingewendet wird, dass die Erhebung des Krankheitsbildes auf den eigenen nicht überprüften Angaben der Klägerin beruhe, so wird verkannt, dass die Schilderung des eigenen Erlebens und seelischen Zustands bei einer psychiatrischen Krankheitserhebung typisch ist. Schließlich hat die Klägerin während des stationären Aufenthalts mehrfach Panikattacken erlitten, die akut behandelt werden mussten. Das unterstreicht das Vorliegen der diagnostizierten psychischen Erkrankungen. Die ausführlichen Berichte der Klinik begründen auch hinreichend die vorliegende Diagnose. Die Einwände des Bundesamtes liegen neben der Sache.
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Dagegen spricht nicht die Diagnose im Attest eines Facharztes für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie der Organisation R. vom 16. November 2021. Dort ist von einer Anpassungsstörung (F 43.2), DD Traumafolgestörung und einem Verdacht auf dissoziative Störung (Anfälle) die Rede. Allerdings ist den Berichten der Klinik größeres Gewicht beizumessen, da die dortige Diagnose auf einem längeren Aufenthalt mit entsprechender Behandlung beruht. Das bedingt eine genauere Erhebung und Bestimmung des konkreten Krankheitsbildes. Zudem wurde die Klägerin wegen eines dissoziativen Anfalls am 31. Oktober 2021 notfallmäßig in eine Klinik verbracht. Die Aufnahme am 28. Dezember 2021 in der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie F. erfolgte ebenfalls notfallmäßig. Alle diese Umstände hat die Beklagte nicht gewürdigt.
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6. Angesichts der gebotenen Aufhebung der Unzulässigkeitsentscheidung können auch die übrigen Regelungen des Bescheides keinen Bestand haben. Die Feststellung, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 AufenthG nicht vorliegen, nebst der Abschiebungsanordnung sind jedenfalls verfrüht ergangen (vgl. BVerwG, U.v. 14.12.2016 – 1 C 4.16 – juris Rn. 21).
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7. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO. Die Gerichtskostenfreiheit ergibt sich aus § 83b AsylG.
38
Die Entscheidung zur vorläufigen Vollstreckbarkeit ergibt sich aus § 167 Abs. 1, 2 VwGO i.V.m. §§ 708 Nr. 11, 711 Satz 1 ZPO.