Titel:
Erfolglose Nachbarklage gegen Errichtung eines Anbaus an bestehende Doppelhaushälfte
Normenketten:
BauGB § 34 Abs. 2
BauNVO § 15 Abs. 1 S. 2
Leitsätze:
1. Das Maß der gebotenen Rücksichtnahme hängt von den besonderen Umständen des Einzelfalls ab, wobei im Rahmen einer Gesamtschau der von dem Vorhaben ausgehenden Beeinträchtigungen die Schutzwürdigkeit des Betroffenen, die Intensität der Beeinträchtigung, die Interessen des Bauherrn und das, was beiden Seiten billigerweise zumutbar oder unzumutbar ist, gegeneinander abzuwägen ist. (Rn. 22) (redaktioneller Leitsatz)
2. Hält ein Bauvorhaben die bauordnungsrechtlich für eine ausreichende Belichtung, Belüftung und Besonnung, den Brandschutz und den Wohnfrieden von Nachbargrundstücken gebotenen Abstandsflächen einhält, ist für die Annahme erdrückender oder einmauernder Wirkung grundsätzlich kein Raum mehr. ( (Rn. 24) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Erdrückende Wirkung, Gebot der Rücksichtnahme, Nachbarklage, Baurecht, unbeplanter Innenbereich, Anbau, faktisches Wohngebiet, Rücksichtnahmegebot, einmauernde Wirkug, erdrückende Wirkung, Abstandsflächen, Belichtung, Belüftung, Besonnung
Fundstelle:
BeckRS 2023, 18250
Tenor
I. Die Klage wird abgewiesen.
II. Die Klägerin hat die Kosten des Verfahrens einschließlich der außergerichtlichen Kosten des Beigeladenen zu tragen.
III. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar. Die Klägerin darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht der jeweilige Vollstreckungsgläubiger vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.
Tatbestand
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Die Beteiligten streiten über eine dem Beigeladenen erteilte Baugenehmigung zur Errichtung eines Anbaus an eine bestehende Doppelhaushälfte.
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Die Klägerin ist Eigentümerin des Grundstücks FlNr. 1432/39 Gem. …, der Beigeladene ist Eigentümer des südöstlich gelegenen Grundstücks FlNr. 1432/49 Gem. … (Vorhabengrundstück). Beide Grundstücke sind durch die B.-straße voneinander getrennt. Das Grundstück der Klägerin ist mit einem Einfamilienhaus, das Vorhabengrundstück mit einer Doppelhaushälfte bebaut. Ein Bebauungsplan besteht für den Bereich nicht.
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Mit Antrag vom 31. Januar 2019 beantragte der Beigeladene die Erteilung einer Baugenehmigung zum Anbau an die bestehende Doppelhaushälfte auf dem Vorhabengrundstück. An der Westseite des Gebäudes soll im Erdgeschoss ein Anbau von 4,28 m x 6,01 m, mithin ca. 26 m², entstehen; auf dem Anbau soll zudem eine Terrasse errichtet werden. Ferner soll an der Westseite des Gebäudes das auf dem bereits bestehenden Wintergarten befindliche Pultdach entfernt und zu einer Terrasse mit ca. 10 m² umfunktioniert werden. In der mit dem Bauantrag eingereichten Baubeschreibung heißt es bei der Beschreibung der Flächenaufteilung „Anbau EG: Studio gewerbl. Nutzfläche 20m²“.
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Mit Beschluss vom 12. März 2019 erteilte die Gemeinde K. ihr Einvernehmen zu dem Vorhaben.
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Mit streitgegenständlichem Bescheid vom 26. März 2019, der Klägerin zugestellt am 28. März 2019, erteilte der Beklagte dem Beigeladenen die begehrte Baugenehmigung. Das Bauvorhaben entspreche den zu prüfenden öffentlich-rechtlichen Vorschriften. Das Vorhaben werde nach § 34 BauGB beurteilt.
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Mit am 26. April 2019 bei Gericht eingegangenem Schriftsatz ihrer Bevollmächtigten hat die Klägerin Klage erhoben und beantragt,
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die Baugenehmigung des Beklagten vom 26.3.2019, Az. …, zur Errichtung eines Anbaus auf dem Grundstück des Beigeladenen, FlNr. 1432/49 Gem. …, aufzuheben.
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Im Bauantrag sei mehrfach von einer gewerblichen Nutzung in Form eines Studios die Rede, ohne dass für die geplante gewerbliche Nutzung nähere Darstellungen und Ausführungen getätigt würden. Die Klägerin könne sich auf einen Verstoß gegen den Gebietserhaltungsanspruch berufen. Die Eigenart der näheren Umgebung entspreche einem reinen Wohngebiet. Überdies verstoße das Vorhaben gegen das Gebot der Rücksichtnahme. Durch den Anbau entstehe eine erdrückende Wirkung. Die Dachterrasse schaffe unzumutbare Einsichtsmöglichkeiten in das Haus der Klägerin. Sie gleiche einer Aussichtsplattform in die umliegenden Wohnhäuser.
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Der Beklagte beantragt,
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Der Beigeladene beantragt ebenfalls,
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An der Stelle, auf welcher der Anbau erfolgen solle, befinde sich bereits ein größerer Holzschuppen. An der baulichen Situation ändere sich nichts. Genehmigt worden sei lediglich Wohnnutzung. Zutreffend sei, dass der Beigeladene in einem Gespräch mit dem Landratsamt mitgeteilt habe, dass der Anbau zu einem späteren Zeitpunkt ggf. gewerblich genutzt werden solle. Darüber sei jedoch gesondert zu entscheiden. Es liege auch kein Verstoß gegen das Gebot der Rücksichtnahme vor. Von einer erdrückenden Wirkung zu reden sei stark übertrieben. Die Baugenehmigung sei hinreichend bestimmt und die Bauvorlagen legten den Umfang der Genehmigung eindeutig fest.
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Mit Beschluss vom 30. August 2019 ordnete das Gericht auf Antrag der Klägerin im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes (M 1 SN 19.2009) die aufschiebende Wirkung der Klage gegen den Bescheid vom 26. März 2019 an. Die Interessenabwägung falle zu Gunsten der Antragstellerin aus. Die Baugenehmigung sei nicht hinreichend bestimmt. Der Bauantrag sei bezüglich der beabsichtigten Art der baulichen Nutzung widersprüchlich und unbestimmt. Die Bezeichnung des Vorhabens weise darauf hin, dass es sich um einen Anbau zu Wohnzwecken handle. In der Flächenaufstellung werde für den Anbau hingegen „Studio gewerbliche Nutzfläche 20 m²“ angegeben. Diese Angabe weise wiederum darauf hin, dass das Vorhaben nicht zur Wohn-, sondern zur gewerblichen Nutzung vorgesehen ist. Dies werde bestätigt durch die Niederschrift der Sitzung des Bauausschusses der Gemeinde K., wonach der Anbau als Kosmetikstudio genutzt werden solle. Der Bauantrag sei deshalb in Bezug auf die Art der baulichen Nutzung nicht bestimmt genug. Eine gewerbliche Nutzung komme in allgemeinen und in reinen Wohngebieten nur sehr eingeschränkt in Betracht. Die Antragstellerin könne nicht beurteilen, ob und welche gewerbliche Nutzung genehmigt worden sei und ggf. in welchem Umfang. Es sei ihr deshalb nicht möglich zu beurteilen, ob die beabsichtigte Nutzung ihren Gebietserhaltungsanspruch verletze.
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Unter dem 18. Oktober 2019 erließ der Beklagte einen Konkretisierungsbescheid. Danach darf der genehmigte westliche Anbau nur zu Wohnzwecken genutzt werden. Mit undatiertem Schreiben habe der Beigeladene seinen Bauantrag nachträglich dahingehend konkretisiert, dass der beantragte westliche Anbau ausschließlich zu Wohnzwecken genutzt werden solle. Durch den Konkretisierungsbescheid werde die genehmigte Art der Nutzung zweifelsfrei als Wohnnutzung festgesetzt. Eine gewerbliche Nutzung sei nicht erlaubt. Dieser Bescheid ist bestandskräftig geworden.
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Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten wird auf den Inhalt der Gerichts- und Behördenakte, auch im zugehörigen Eilverfahren M 1 SN 19.2009, sowie der Niederschrift über die mündliche Verhandlung am 27. Juni 2023 verwiesen.
Entscheidungsgründe
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I. Die Klage hat keinen Erfolg, weil sie zwar zulässig, aber unbegründet ist. Der angefochtene Bescheid vom 26. März 2019 ist rechtmäßig und verletzt die Klägerin nicht in ihren Rechten, § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO.
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Im Rahmen von Rechtsbehelfen Dritter können sich diese nur dann erfolgreich gegen eine Baugenehmigung zur Wehr setzen, wenn diese rechtswidrig ist und die Rechtswidrigkeit auch auf der Verletzung von Normen beruht, die gerade auch dem Schutz des betreffenden Nachbarn zu dienen bestimmt sind (BayVGH, B.v. 24.3.2009 – 14 CS 08.3017 – juris Rn. 20).
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Die streitgegenständliche Baugenehmigung verletzt die Klägerin nicht in ihren nachbarschützenden Rechten.
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1. Die zunächst bestehenden Bedenken hinsichtlich der Bestimmtheit der Baugenehmigung in Bezug auf die Art der baulichen Nutzung hat der Beklagte mit Erlass des bestandskräftigen Konkretisierungsbescheids, wonach der westliche Anbau nur zu Wohnzwecken genutzt werden darf, beseitigen können. Eine nachbarschützende Rechtsverletzung der Baugenehmigung ergibt sich insoweit nicht (mehr).
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2. Das Vorhaben verstößt nicht gegen das drittschützende, bauplanungsrechtliche Gebot der Rücksichtnahme, das sich im vorliegenden Fall eines faktischen allgemeinen oder reinen Wohngebiets aus § 34 Abs. 2 BauGB i.V.m. § 15 Abs. 1 Satz 2 BauNVO ergibt.
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Das Maß der gebotenen Rücksichtnahme hängt von den besonderen Umständen des Einzelfalls ab. Bei der in diesem Zusammenhang anzustellenden Interessenabwägung ist ausschlaggebend, was dem Rücksichtnahmebegünstigten und dem zur Rücksichtnahme Verpflichteten nach der jeweiligen Situation, in der sich die betroffenen Grundstücke befinden, im Einzelfall zuzumuten ist. Im Rahmen einer Gesamtschau der von dem Vorhaben ausgehenden Beeinträchtigungen sind die Schutzwürdigkeit des Betroffenen, die Intensität der Beeinträchtigung, die Interessen des Bauherrn und das, was beiden Seiten billigerweise zumutbar oder unzumutbar ist, gegeneinander abzuwägen (BVerwG, B.v. 10.1.2013 – 4 B 48/12 – juris Rn. 7).
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In der Rechtsprechung ist anerkannt, dass eine Verletzung des Rücksichtnahmegebots dann in Betracht kommt, wenn durch die Verwirklichung des genehmigten Vorhabens ein in der unmittelbaren Nachbarschaft befindliches Wohngebäude „eingemauert“ oder „erdrückt“ wird. Eine solche Wirkung kommt vor allem bei nach Höhe und Volumen „übergroßen“ Baukörpern in geringem Abstand zu benachbarten Wohngebäuden in Betracht (vgl. BVerwG, U.v. 13.3.1981 – 4 C 1.78 – juris Rn. 38: 12-geschossiges Gebäude in 15 m Entfernung zum 2,5-geschossigen Nachbarwohnhaus; U.v. 23.5.1986 – 4 C 34.85 – juris Rn. 15: drei 11,05 m hohe Siloanlagen im Abstand von 6 m zu einem 2-geschossigen Wohnanwesen). Hauptkriterien bei der Beurteilung einer „abriegelnden“ bzw. „erdrückenden“ Wirkung sind unter anderem die Höhe des Bauvorhabens und seine Länge sowie die Distanz der baulichen Anlage in Relation zur Nachbarbebauung (vgl. BayVGH, B.v. 19.3.2015 – 9 CS 14.2441 – juris Rn. 31; B.v. 23.4.2014 – 9 CS 14.222 – juris Rn. 12 m.w.N.). Für die Annahme der „abriegelnden“ bzw. „erdrückenden“ Wirkung eines Nachbargebäudes ist somit grundsätzlich kein Raum, wenn dessen Baukörper nicht erheblich höher ist als der des betroffenen Gebäudes, was insbesondere gilt, wenn die Gebäude im dicht bebauten innerstädtischen Bereich liegen (vgl. BayVGH, B.v. 11.5.2010 – 2 CS 10.454 – juris Rn. 5).
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Der westliche, erdgeschossige Anbau stellt bereits keinen übergroßen Baukörper im Hinblick auf seine Höhe dar. Mit einer Höhe von 3,71 m einschließlich Geländer auf der Terrasse liegt er deutlich unterhalb der Höhe des bereits bestehenden Wohngebäudes des Beigeladenen; es ist nach den Umständen damit zu rechnen, dass er auch unter der Höhenentwicklung des Wohngebäudes der Klägerin bleibt. Zudem liegen zwischen dem geplanten Anbau und dem Wohngebäude der Klägerin ca. 15 m; die Gebäude sind durch die ca. 6 m breite B.-straße getrennt. Überdies liegt das Wohngebäude der Klägerin nicht auf gleicher Höhe zum geplanten Anbau des Beigeladenen, sondern befindet sich nordwestlich davon versetzt, was eine erdrückende Wirkung umso mehr ausschließt. Des Weiteren gilt diesbezüglich, dass für die Annahme erdrückender oder einmauernder Wirkung grundsätzlich kein Raum mehr ist, wenn ein Bauvorhaben die bauordnungsrechtlich für eine ausreichende Belichtung, Belüftung und Besonnung, den Brandschutz und den Wohnfrieden von Nachbargrundstücken gebotenen Abstandsflächen einhält (VG München, B.v. 7.7.2004 – M 11 SN 04.2690 – juris Rn. 32 m.w.N.). So liegt es hier. Die durch den geplanten westlichen Anbau ausgelösten Abstandsflächen werden ausweislich der Eingabepläne eingehalten, weil diese gemäß Art. 6 Abs. 2 Satz 2 BayBO bis zur Mitte der B.-straße, einer öffentlichen Verkehrsfläche, liegen dürfen. Soweit die Klägerin weiter vorträgt, dass es erstmals zu unzumutbaren Einsichtsmöglichkeiten in ihr Wohnhaus, insbesondere in ihr zur Straße ausgerichtetes Schlafzimmer, komme, ist das Vorhaben ebenfalls nicht rücksichtslos. Etwaige Beeinträchtigungen sind in einem dicht bebauten innerstädtischen Bereich zu erwarten und stets hinzunehmen. Sofern sich die Klägerin dadurch gestört fühlt, bleibt es ihr unbenommen, durch architektonische Selbsthilfe, etwa durch das Pflanzen von Büschen, die Errichtung einer Einfriedung oder das Anbringen von Jalousien Abhilfe zu schaffen.
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II. Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 154 Abs. 1, Abs. 3, 162 Abs. 3 VwGO. Dabei entsprach es der Billigkeit, dass die Klägerin auch die außergerichtlichen Kosten des Beigeladenen trägt, weil dieser einen Antrag gestellt und sich somit einem Prozesskostenrisiko ausgesetzt hat.
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III. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 Nr. 11, 711 ZPO.