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OLG München, Beschluss v. 28.06.2023 – 37 U 2061/23 e
Titel:

Keine Schadensersatzansprüche im Zusammenhang mit dem Motor EA 288 (hier: VW Sharan)

Normenketten:
BGB § 823 Abs. 2, § 826
Fahrzeugemissionen-VO Art. 5 Abs. 2
EG-FGV § 6 Abs. 1, 27 Abs. 1
Typgenehmigungsverfahrens-RL Art. 18 Abs. 1, Art. 26 Abs. 1, Art. 46
Leitsätze:
1. Zu – jeweils verneinten – (Schadensersatz-)Ansprüchen von Käufern eines Fahrzeugs, in das ein Diesel-Motor des Typs EA 288 eingebaut ist, vgl. auch BGH BeckRS 2022, 11891; BeckRS 2022, 18404; OLG Bamberg BeckRS 2023, 17804; OLG Celle BeckRS 2023, 13851; OLG Stuttgart BeckRS 2021, 20399; OLG Brandenburg BeckRS 2023, 7905; BeckRS 2022, 19415 (mit weiteren Nachweisen in Ls. 1); OLG München BeckRS 2023, 754 (mit weiteren Nachweisen in Ls. 1); OLG Koblenz BeckRS 2022, 25075 (mit weiteren Nachweisen in Ls. 1); OLG Bamberg BeckRS 2021, 55750 mit zahlreichen weiteren Nachweisen (auch zur aA) im dortigen Leitsatz 1; anders durch Versäumnisurteil OLG Köln BeckRS 2021, 2388. (redaktioneller Leitsatz)
2. Eine Schutzgesetzverletzung ist nicht als schuldhaft – auch nicht als fahrlässig – begangen anzusehen, wenn sie auf einer fehlerhaften Rechtsauffassung des Normadressaten beruht, die von der für den Vollzug des Schutzgesetzes zuständigen Behörde bestätigt wurde oder bei Einholung einer entsprechenden Erkundigung bestätigt worden wäre.  (Rn. 14) (redaktioneller Leitsatz)
3. Aus dem Umstand, dass das in Deutschland für den Vollzug der VO (EG) 715/2007 zuständige Kraftfahrt-Bundesamt (KBA) ausweislich erteilter amtlicher Auskünfte im Jahr 2021 die Auffassung vertrat, dass sowohl die Zykluserkennung als auch das Thermofenster in der in Motoren der Baureihe EA 288 implementierten Form mit Art. 5 Abs. 2 der VO (EG) 715/2007 vereinbar sei, ist zu schließen, dass die Behörde eine entsprechende Auskunft auch bereits vor Erteilung der Typgenehmigung erteilt hätte, wenn eine solche seinerzeit von der Herstellerin eingeholt worden wäre. (Rn. 15) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Diesel-Abgasskandal, EA 288, unzulässige Abschalteinrichtung, sittenwidrig, Thermofenster, NSK, Fahrkurvenerkennung, Prüfzykluserkennung, unvermeidbarer Verbotsirrtum, Schutzgesetzverletzung
Vorinstanz:
LG Kempten, Urteil vom 30.03.2023 – 61 O 642/22
Fundstelle:
BeckRS 2023, 17854

Tenor

1. Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Landgerichts Kempten (Allgäu) vom 30.03.2023, Az. 61 O 642/22, wird zurückgewiesen.
2. Die Kosten des Berufungsverfahrens hat der Kläger zu tragen.
3. Das in Ziffer 1 genannte Urteil ist im Kostenpunkt ohne Sicherheitsleistung vorläufig vollstreckbar. Der Kläger kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110% des zu vollstreckenden Betrags abwenden, wenn nicht die Beklagte zuvor Sicherheit in entsprechender Höhe leistet.
4. Der Streitwert für das Berufungsverfahren wird auf 25.251,57 EUR festgesetzt.

Gründe

I.
1
Der Kläger nimmt die Beklagte als Herstellerin eines von ihm erworbenen Dieselfahrzeugs wegen behaupteter Abgasmanipulationen auf Schadenersatz in Anspruch.
2
Der Kläger erwarb am 04.12.2018 bei einem Autohändler einen Gebrauchtwagen der Marke VW Sharan mit einer seinerzeitigen Laufleistung von 15.100 km zu einem Kaufpreis von 31.500 €. Das Fahrzeug, dessen Erstzulassung am 11.09.2017 erfolgt war, ist mit einem von der Beklagten hergestellten Dieselmotor der Baureihe EA 288 ausgestattet, der der Schadstoffklasse Euro 6 unterfällt. Zur Abgasreinigung trägt neben der Abgasrückführung ein Abgasnachbehandlungssystem in Form eines NOx-Speicherkatalysators (NSK) bei. In der Motorsteuerungssoftware ist neben einem Thermofenster auch eine Funktion implementiert, durch die das Fahrzeug anhand von Fahrkurven erkennt, ob es sich auf dem Prüfstand für den Neuen Europäischen Fahrzyklus (NEFZ) befindet.
3
Der Kläger behauptet, dass die Prüfzykluserkennung die Umschaltung in einen besonderen Betriebsmodus bewirke, in dem die Abgasreinigung gezielt verstärkt werde, so dass die Emissionsgrenzwerte nur dort eingehalten würden. Er macht ferner geltend, dass auch die in der Motorsteuerung installierte temperaturabhängige Steuerung der Abgasrückführung, deren konkrete Konfigurierung zwischen den Parteien streitig ist, eine unzulässige Abschalteinrichtung i.S.v. Art. 5 Abs. 2 Satz 1 VO (EG) VO 715/2007 sei.
4
Das Landgericht hat die Klage mit Urteil vom 30.03.2023 abgewiesen. Auf die tatsächlichen Feststellungen in jenem Urteil wird ergänzend Bezug genommen.
5
Der Kläger hat gegen das seinen Prozessbevollmächtigten am 04.04.2023 zugestellte Urteil über diese mit Schriftsatz vom 03.05.2023, eingegangen beim Oberlandesgericht München am selben Tag, Berufung eingelegt. Das Rechtsmittel wurde mit weiterem Schriftsatz der Klägervertreter vom 30.05.2023, eingegangen am selben Tag, begründet. Auf die Berufungsbegründung wird Bezug genommen.
6
Der Kläger beantragt im Berufungsverfahren,
das am 30.03.2023 verkündete Urteil des Landgericht Kempten (Allgäu) -61 O 642/22 zu ändern und wie folgt neu zu fassen:
1. Die Beklagte wird verurteilt, an den Kläger einen Betrag in Höhe von 28.927,52 EUR abzüglich einer ggfs. im Termin weiter zu bestimmenden Nutzungsentschädigung nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 18.01.2022 Zug um Zug gegen Übergabe und Rückübereignung des Fahrzeugs VW Sharan zu zahlen.
2. Es wird festgestellt, dass sich die Beklagte mit der Rücknahme des im Klageantrag zu 1) genannten Fahrzeugs seit dem 18.01.2022 in Annahmeverzug befindet.
3. Die Beklagte wird verurteilt, den Kläger von den Kosten der außergerichtlichen Rechtsverfolgung in Höhe von 1.728, 48 EUR freizustellen.
7
Die Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
8
Der Senat hat die Parteien mit Beschluss vom 02.06.2023 darauf hingewiesen, dass er beabsichtige, die Berufung durch einstimmigen Beschluss gemäß § 522 Abs. 2 Satz 1 ZPO zurückzuweisen. Die Klägervertreter haben hierauf mit Schriftsatz vom 22.06.2023 erwidert.
II.
9
Die Zurückweisung der Berufung beruht auf § 522 Abs. 2 Satz 1 ZPO.
10
1) Das Rechtsmittel hat nach einstimmiger Auffassung des Senats offensichtlich keine Aussicht auf Erfolg (§ 522 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 ZPO).
11
a. Ansprüche aus § 826 BGB scheiden aus den im Hinweisbeschluss vom 02.06.2023 erläuterten Gründen aus. Ergänzende Ausführungen hierzu sind gemäß § 522 Abs. 2 Satz 3 ZPO nicht veranlasst, da eine diesbezügliche Haftung der Beklagten in der klägerischen Stellungnahme vom 22.06.2023 nicht mehr thematisiert wird.
12
b. Ansprüche des Klägers gemäß § 823 Abs. 2 BGB i. V. m. §§ 6 Abs. 1, 27 Abs. 1 EG-FGV bzw. i.V.m. Art. 18 Abs. 1, Art. 26 Abs. 1 und Art. 46 der Rahmenrichtlinie (EG) 2007/46 und Art. 5 Abs. 2 VO (EG) Nr. 715/2007 sind ebenfalls nicht gegeben. Anlass zu einer abweichenden Bewertung ergibt sich weder aus der klägerischen Erwiderung auf den Hinweisbeschluss noch aus dem zwischenzeitlich ergangenen Urteil des BGH im dortigen Verfahren Via ZR 335/21. Im Einzelnen:
13
(1) Der BGH hat in dem genannten Urteil vom 26.06.2021 zwar im Anschluss an die Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs vom 21.03.2023 in der Rechtssache C-100/21 die grundsätzliche Möglichkeit einer Haftung von Fahrzeugherstellern gemäß § 823 Abs. 2 BGB i. V. m. §§ 6 Abs. 1, 27 Abs. 1 EG-FGV bejaht, wenn das durch die Erteilung der Übereinstimmungsbescheinigung nach § 6 Abs. 1 EG-FGV begründete Vertrauen des Erwerbers, dass das Fahrzeug die Vorgaben der Verordnung (EG) Nr. 715/2007 und insbesondere deren Art. 5 einhalte, enttäuscht wird, das Fahrzeug also tatsächlich eine unzulässige Abschalteinrichtung i.S.v. Art. 5 Abs. 2 Satz 1 jener Verordnung aufweist.
14
(2) Obgleich §§ 6 Abs. 1, 27 Abs. 1 EG-FGV damit nunmehr – abweichend von der bisherigen Rechtsprechung des BGH – als Schutzgesetze i.S.v. § 823 Abs. 2 BGB einzustufen sind, scheidet eine diesbezügliche Haftung der Beklagten aus, ohne dass einer Klärung bedarf, ob es sich bei der Zykluserkennung und / oder dem Thermofenster um unzulässige Abschalteinrichtungen i.S.v. Art. 5 Abs. 2 Satz 1 VO (EG) 715/2007 handelt, die Beklagte also objektiv gegen jene Bestimmung verstoßen hat. Denn wie im Hinweisbeschluss unter II. 2 b) erläutert, setzt ein Anspruch aus § 823 Abs. 2 BGB zusätzlich zu einer objektiven Schutzgesetzverletzung ein Verschulden voraus. Zwar genügt insoweit – anders als für einen Anspruch aus § 826 BGB – Fahrlässigkeit (§ 276 Abs. 1 Satz 1 BGB). Eine Schutzgesetzverletzung ist allerdings nicht als schuldhaft – auch nicht als fahrlässig – begangen anzusehen, wenn sie auf einer fehlerhaften Rechtsauffassung des Normadressaten beruht, die von der für den Vollzug des Schutzgesetzes zuständigen Behörde bestätigt wurde oder bei Einholung einer entsprechenden Erkundigung bestätigt worden wäre (vgl. hierzu BGH, Urteil vom 27. Juni 2017 – VI ZR 424/16, zitiert nach juris Rn. 15 ff.). Der BGH hat in seinem Urteil zum Verfahren Via ZR 335/21 vom 26.06.2023 ausdrücklich bestätigt, dass die in der höchstrichterlichen Rechtsprechung allgemein entwickelten Grundsätze zum Ausschluss eines Anspruchs aus § 823 Abs. 2 BGB infolge eines unvermeidbaren Verbotsirrtums auch auf die Implementierung unzulässiger Abschalteinrichtungen durch Fahrzeughersteller anzuwenden sind.
15
Unter Zugrundelegung jener Grundsätze wäre eine bei – unterstellter – Unzulässigkeit der Zykluserkennung und / oder des Thermofensters i. S. v. Art. 5 Abs. 2 Satz 1 VO (EG) 715/2007 vorliegende Schutzgesetzverletzung durch Erteilung der Übereinstimmungsbescheinigung (§ 6 Abs. 1 EG-FGV) nicht schuldhaft i.S.v. § 823 Abs. 2 BGB. Denn aus dem Umstand, dass das in Deutschland für den Vollzug der VO (EG) 715/2007 zuständige Kraftfahrt-Bundesamt (KBA) ausweislich mehrerer amtlicher Auskünfte die Auffassung vertritt, dass sowohl die Zykluserkennung (vgl. etwa die Auskunft vom 04.05.2021, Anlage B58) als auch das Thermofenster (vgl. etwa die Auskunft vom 09.03.2021, Anlage B 48) in der in Motoren der Baureihe EA 288 implementierten Form mit Art. 5 Abs. 2 der VO (EG) 715/2007 vereinbar sei, ist zu schließen, dass die Behörde eine entsprechende Auskunft auch bereits vor Erteilung der Typgenehmigung erteilt hätte, wenn eine solche seinerzeit von der Beklagten eingeholt worden wäre. Die Beklagte hätte sich dann in einem unvermeidbaren Verbotsirrtum befunden.
16
2) Die weiteren Voraussetzungen für eine Zurückweisung der Berufung gemäß § 522 Abs. 2 Satz 1 ZPO liegen nach einstimmiger Auffassung des Senats ebenfalls vor. Insbesondere steht ihr das Erfordernis der Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung nicht entgegen (§ 522 Abs. 2 Satz Nr. 3 ZPO). Denn Zurückweisungen von Berufungen gegen klageabweisende Urteile sind vom Bundesgerichtshof in mehreren Parallelverfahren zu Fahrzeugen mit Motoren der Baureihe EA 288 gebilligt worden, wenn sie – wie hier – selbständig tragend darauf gestützt wurden, dass es an einem Verschulden des Fahrzeugherstellers fehle (vgl. etwa BGH, Beschluss vom 08.05.2023, Via ZR 1339/22: „Das Berufungsgericht hat seine Entscheidung gemäß § 823 Abs. 2 BGB in Verbindung mit § 6 Abs. 1, § 27 Abs. 1 EG-FGV oder Art. 5 der Ver Ordnung (EG) Nummer 715/2007 selbstständig tragend darauf gestützt, es fehle an einer schuldhaft begangenen unerlaubten Handlung“).
17
Das Urteil des BGH vom 26.06.2023 im Verfahren Via ZR 335/21 lässt die Bejahung der Voraus. Setzungen des § 522 Abs. 2 Satz 1 Nrn. 2 und 3 ZPO ebenfalls unberührt. Dass der BGH in jener Sache die Zurückweisung der Berufung gegen ein klageabweisendes Urteil aufgehoben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückverwiesen hat, beruhte darauf, dass das dortige Berufungsgericht die Ansicht vertreten hatte, einem An. Spruch aus §§ 826, 31 BGB gegen den Fahrzeughersteller könne die Tatbestandswirkung der EG-Typgenehmigung entgegengehalten werden. Der erkennende Senat verneint eine Haftung der Beklagten – wie erläutert – aus anderen Erwägungen.
18
3) Da Gründe, von der Soll-Bestimmung des § 522 Abs. 2 Satz 1 ZPO abzuweichen, nicht gegeben sind, war die Berufung durch einstimmigen Beschluss zurückzuweisen.
III.
19
Die Kostenentscheidung beruht auf § 97 Abs. 1 ZPO und der Ausspruch zur vorläufigen Voll Streckbarkeit auf §§ 708 Nr. 10 Satz 2, 711 ZPO.
IV.
20
Die Streitwertfestsetzung für das Berufungsverfahren folgt aus §§ 47 Abs. 1 Satz 1, 48 Abs. 1 GKG i. V. m. § 3 ZPO. Abzustellen war danach auf das wirtschaftliche Interesse des Klägers am Erfolg des Berufungsantrags in der Hauptsache.
21
Der Kläger hat insoweit die Verurteilung der Beklagten zur Zahlung von 28.927,52 EUR „abzüg lieh einer ggfs. im Termin weiter zu bestimmenden Nutzungsentschädigung (…) seit dem 18.01.2022 “ Zug um Zug gegen Übereignung und Übergabe des Fahrzeugs geltend gemacht. Auch wenn die Nutzungsentschädigung in der Berufungsinstanz – anders als noch im Verfahren erster Instanz – nicht mehr in bezifferter Form angegeben wurde, war sie gleichwohl weiterhin zumindest in dem Umfang streitwertmindernd zu berücksichtigen, in dem sie erstinstanzlich von der Klägerseite selbst von der Hauptforderung in Abzug gebracht worden war, also mit einem Betrag 3.675,95 EUR.