Inhalt

BayObLG, Beschluss v. 28.04.2023 – 201 ObOWi 251/23
Titel:

Verfahrenseinstellung wegen Verstoßes gegen das Verbot der Doppelahndung bei Dauerordnungswidrigkeit der Erziehungsberechtigten im Zusammenhang mit dem Schulbesuch

Normenketten:
GG Art. 103 Abs. 3
BayEUG Art. 76 S. 2, Art. 119 Abs. 1 Nr. 2
OWiG § 79 Abs. 1 Nr. 1
Leitsätze:
1. Stellt der Erziehungsberechtigte die Verpflichtung zum Schulbesuch von vornherein dauerhaft in Frage, so stellt der Verstoß gegen die gemäß Art. 76 Satz 2 i.V.m. Art. 119 Abs. 1 Nr. 2 BayEUG bußgeldbewehrte Pflicht, für die regelmäßige Teilnahme des schulpflichtigen Kindes am Unterricht zu sorgen, eine Dauerordnungswidrigkeit dar (Fortführung von BayObLG, Beschluss vom 17.11.1986 – 3 Ob OWi 161/86 bei juris und OLG Frankfurt, Beschluss vom 19.09.2000 – 2 Ws [B] 388/00 OWiG = NStZ-RR 2001, 25 = BeckRS 2000, 30131975). (Rn. 5)
2. Die Dauerordnungswidrigkeit wird in diesen Fällen nicht bereits durch den Erlass des Bußgeldbescheides unterbrochen. Erst im Anschluss an das tatrichterliche Urteil oder mit Rechtskraft des Bußgeldbescheids beginnt, wenn sich am ordnungswidrigen Verhalten des Betroffenen nichts geändert hat, eine neue Dauerordnungswidrigkeit. (Rn. 7)
3. Liegt eine solche Unterbrechungshandlung nicht vor, darf ein weiterer Bußgeldbescheid wegen des Bestehens des Verfahrenshindernisses der Doppelahndung nicht erlassen werden. (Rn. 8)
Schlagworte:
Dauerordnungswidrigkeit, Schulpflicht, Eltern, Erziehungsberechtigte, Kind, minderjährig, Bußgeldbescheid, Rechtskraft, Rechtsbeschwerde, Statthaftigkeit, Rechtsbeschwerdegericht, Verfahrenshindernis, Doppelahndung, Tat, Tatbegriff, Tatentschluss, Taterstreckung, Tatunterbrechung, Unterbrechungshandlung, Zäsur, Urteil, Urteilserlass, ne bis in idem, Präsenzunterricht, Schulbesuch, Corona, Covid19, Atemschutzmaske, Spucktest, Verweigerung, Weigerung, Schulaufgabe, Klassenarbeit, Unterbrechung
Fundstellen:
NStZ 2024, 55
LSK 2023, 17749
BeckRS 2023, 17749

Tenor

I. Auf die Rechtsbeschwerde des Betroffenen wird das Urteil des Amtsgerichts Günzburg vom 28. November 2022 aufgehoben und das Verfahren wird eingestellt.
II. Die Kosten des Verfahrens sowie die dem Betroffenen erwachsenen notwendigen Auslagen werden der Staatskasse auferlegt.

Gründe

I.
1
Das Landratsamt hat mit Bußgeldbescheid vom 11.08.2022 gegen den Betroffenen wegen des vorsätzlichen Verstoßes gegen die Pflicht, als Erziehungsberechtigter in der Zeit vom 14.03.2022 bis 29.04.2022 für eine regelmäßige Teilnahme der schulpflichtigen Tochter, geboren am ... 2012, am Pflichtunterricht der Grundschule zu sorgen, eine Geldbuße von 925 Euro verhängt. Nach Einspruchseinlegung verurteilte das Amtsgericht Günzburg den Betroffenen mit Urteil vom 28.11.2022 wegen der vorsätzlichen Ordnungswidrigkeit des fehlenden Sorgetragens für die regelmäßige Teilnahme am Unterricht durch eine minderjährige Schulpflichtige entgegen Art. 76 Satz 2 BayEUG i.V.m. Art. 119 Abs. 1 Nr. 2 BayEUG und verhängte eine Geldbuße von 855 Euro. Gegen den Betroffenen war bereits am 21.04.2022 ein Bußgeldbescheid wegen Verstoßes gegen die Schulpflicht in der Zeit zwischen dem 21.02.2022 bis 11.03.2022 ergangen. Das Amtsgericht Günzburg hatte in diesem Fall den Betroffenen aufgrund der Hauptverhandlung vom 05.09.2022 wegen der vorsätzlichen Ordnungswidrigkeit des fehlenden Sorgetragens für die regelmäßige Teilnahme am Unterricht durch eine minderjährige Schulpflichtige entgegen Art. 76 Satz 2 BayEUG zu einer Geldbuße von 385 Euro verurteilt. Mit Beschluss vom 27.01.2023 hat das Bayerische Oberste Landesgericht die Rechtsbeschwerde gegen das vorgenannte Urteil als unbegründet verworfen. Mit seiner Rechtsbeschwerde rügt der Betroffene u.a., dass das Verfahren wegen eines Verfahrenshindernisses der Doppelbestrafung hätte eingestellt werden müssen. Die Generalstaatsanwaltschaft hat unter dem 22.02.2023 beantragt, durch Beschluss das Urteil des Amtsgerichts Günzburg aufzuheben und das Verfahren einzustellen.
II.
2
Die Rechtsbeschwerde des Betroffenen führt zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und zur Einstellung des Verfahrens wegen des Verfahrenshindernisses ‚ne bis in idem‘.
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1. Die Rechtsbeschwerde des Betroffenen ist statthaft. Nach § 79 Abs. 1 Nr. 1 OWiG ist die Rechtsbeschwerde zulässig, wenn gegen den Betroffenen eine Geldbuße von mehr als 250 Euro festgesetzt worden ist. Nach § 79 Abs. 2 OWiG ist für den Fall, dass das Urteil mehrere Taten zum Gegenstand hat, die Rechtsbeschwerde nur insoweit zulässig, als hinsichtlich der einzelnen Taten die Voraussetzungen nach § 79 Abs. 1 Nr. 1 OWiG vorliegen. Das Rechtsbeschwerdegericht überprüft dabei eigenständig, ob nur eine Tat im verfahrensrechtlichen Sinne vorliegt, ohne insoweit an die Beurteilung des Tatrichters gebunden zu sein (vgl. BayObLG, Beschluss vom 16.01.1997 – 1 ObOWi 801/96 = BayObLGSt 1997, 17, 18 = MDR 1997, 483 = NZV 1997, 282 = VerkMitt 1997, Nr 56 = NStZ-RR 1997, 249 = VRS 93, 141 [1997] = VersR 1997, 1504 = NStZ 1998, 451).
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a) Nach den rechtsfehlerfreien Feststellungen des Tatrichters gelangte der Betroffene gemeinsam mit seiner Ehefrau zu der Auffassung, dass die für den Schulbesuch vorgeschriebenen Masken und Tests nachteilige Auswirkungen auf seine Tochter in körperlicher und psychischer Hinsicht hätten, verweigerte deshalb die Durchführung von Tests und das Tragen von Masken durch seine Tochter in der Schule, sodass diese zwischen dem 14.03.2022 und dem 29.04.2022 an 19 Schultagen nicht am Präsenzunterricht teilnahm. Nur an den Tagen, an welchen Klassenarbeiten bzw. Schulaufgaben anstanden, ließ der Betroffene in Übereinstimmung mit seiner Ehefrau die im Jahr 2012 geborene gemeinsame Tochter extern an einem sog. Spucktest teilnehmen, um auf diesem Weg den Schulbesuch zu ermöglichen und eine Bewertung mit der Note 6 zu verhindern.
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b) Bei dem Verstoß gegen die Pflicht nach dem BayEUG, als Erziehungsberechtigter für eine regelmäßige Teilnahme des schulpflichtigen Kindes am Unterricht und sonstigen verbindlichen Schulveranstaltungen zu sorgen, handelt es sich um eine Dauerordnungswidrigkeit (vgl. BayObLG, Beschluss vom 17.11.1986 – 3 Ob OWi 161/86 bei juris; BayObLG, Beschluss vom 14.10.1999 – 3 ObOWi 96/99 = BayObLGSt 1999, 145, 150 = NVwZ-RR 2000, 164 = NStZ-RR 2000, 115 = BayVBl 2000, 284 =BeckRS 1999, 30076989) und damit um eine Tat im prozessualen Sinne. Denn der betreffende Tatbestand des Verstoßes gegen die Schulpflicht beschreibt ein Unrecht, das gerade durch seine zeitliche Erstreckung gekennzeichnet ist und über die Dauer im wesentlichen unvermindert anhält (OLG Frankfurt, Beschluss vom 19.09.2000 – 2 Ws [B] 388/00 OWiG = NStZ-RR 2001, 25, 26 = BeckRS 2000, 30131975). Dies gilt jedenfalls dann, wenn – wie vorliegend – der Erziehungsberechtigte die Verpflichtung zum Schulbesuch von vorneherein dauerhaft in Frage stellt. Das ist hier nach den Urteilsfeststellungen der Fall, da der Betroffene zusammen mit seiner Frau beschlossen hatte, das Kind Tests und Maskentragen (und damit dem Schulbesuch) nicht mehr länger auszusetzen. Nur an den Tagen, an welchen Schulaufgaben/Klassenarbeiten anstanden, besuchte das Kind die Schule. Diese Feststellungen zeigen in ihrer Gesamtheit, dass der Betroffene von vornherein beabsichtigt hatte, dass seine Tochter im Regelfall nicht am Präsenzunterricht teilnimmt, solange die Verpflichtung zum Tragen von Masken bzw. zur Durchführung von Tests bestanden hat. Die Tatsache, dass er ihr an Tagen, an denen Klassenarbeiten bzw. Schulaufgaben geschrieben wurden, nach Durchführung sogenannter Spucktests den Schulbesuch ermöglichte, um zu verhindern, dass die Arbeit mit ungenügend bewertet wird, ändert nichts an dem gefassten Tatentschluss, das Kind im Regelfall nicht am Unterricht teilnehmen zu lassen. Insbesondere lassen die Feststellungen keinen Rückschluss darauf zu, dass die Erziehungsberechtigten für jeden Schultag gesondert entschieden haben, ob ihr Kind am Unterricht teilnimmt oder nicht. Es liegt demnach eine Dauerordnungswidrigkeit vor.
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2. Die Rechtsbeschwerde erweist sich auch als begründet, da der (erneuten) Ahndung der zwischen dem 14.03.2022 und dem 29.04.2022 begangenen Tat ein Verfahrenshindernis entgegenstand.
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a) Eine Dauerordnungswidrigkeit, wie sie hier vorliegt, endet nicht schon durch den Erlass des Bußgeldbescheids des Landratsamts, vielmehr wird das Dauerdelikt erst durch den Erlass eines Urteils der Tatsacheninstanz bzw. den Eintritt der Rechtskraft des Bußgeldbescheides unterbrochen (OLG Frankfurt a.a.O.; OLG Bamberg, Beschluss vom 28.01.2014 – 3 Ss OWi 1488/13 bei juris = NStZ-RR 2014,154 = wistra 2014, 199 = NZS 2014, 478 = OLGSt StPO § 264 Nr 12; KK/Mitsch OWiG 5. Aufl. § 19 Rn. 36; Göhler OWiG 18. Aufl. vor § 19 Rn. 22a). Erst im Anschluss an das tatrichterliche Urteil oder mit Rechtskraft des Bußgeldbescheids beginnt, wenn sich am ordnungswidrigen Verhalten des Betroffenen nichts geändert hat, die neue Dauerordnungswidrigkeit (OLG Dresden NStZ-RR 1997, 314, 315; OLG Bamberg a.a.O.; OLG Frankfurt a.a.O.).
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b) Im vorangegangenen Verfahren 201 ObOWi 9/23 ist mit Beschluss des Bayerischen Obersten Landesgerichts vom 27.01.2023 das Urteil des Amtsgerichts Günzburg vom 05.09.2022 insoweit bestätigt worden, als die Rechtsbeschwerde des Betroffenen als unbegründet verworfen wurde. Im hier gegenständlichen Tatzeitraum zwischen dem 14.03.2022 und dem 29.04.2022 lag damit eine maßgebliche Unterbrechungshandlung hinsichtlich der Dauerordnungswidrigkeit noch nicht vor, da diese erstmals mit Erlass des tatrichterlichen Urteils vom 05.09.2022 unterbrochen worden ist. Der hier gegenständliche Bußgeldbescheid bezog sich auf dieselbe Tat, die auch dem Bußgeldbescheid vom 21.04.2022 zugrunde lag, und hätte deshalb von vornherein wegen des Verstoßes gegen den Grundsatz ‚ne bis in idem‘ schon nicht erlassen werden dürfen (OLG Saarbrücken ZfS 1992, 140; OLG Zweibrücken NJW 1999, 962; KK/Kurz a.a.O. § 66 Rn. 70). Der Erlass eines zweiten Bußgeldbescheids wegen derselben Tat führt zur Einstellung des zweiten Verfahrens wegen des Bestehens des Verfahrenshindernisses der Doppelahndung, Art. 103 Abs. 3 GG (Göhler a.a.O. § 66 Rn. 56a).
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Wegen dieses Verfahrenshindernisses war das Urteil des Amtsgerichts Günzburg vom 28.11.2022 aufzuheben und das Verfahren nach §§ 206a Abs. 1 StPO, 354 Abs. 1 StPO i.V.m. § 79 Abs. 3 Satz 1 OWiG einzustellen.
III.
10
Die Kostenentscheidung beruht auf § 467 Abs. 1 StPO i.V.m. § 46 Abs. 1 OWiG.
IV.
11
Der Senat entscheidet durch Beschluss gemäß § 79 Abs. 5 Satz 1 OWiG.
12
Gemäß § 80a Abs. 1 OWiG entscheidet der Einzelrichter.