Inhalt

OLG Nürnberg, Beschluss v. 13.06.2023 – 9 WF 467/23
Titel:

Zumutbare Verwertung eines privaten Kraftfahrzeuges iRd Verfahrenskostenhilfe nach dem Bürgergeldgesetz

Normenketten:
ZPO § 114, § 115 Abs. 3
SGB XII § 90 Abs. 2 Nr. 9, Nr. 10
SGB II § 12 Abs. 1 Nr. 2
Leitsätze:
Zu den Auswirkungen der Erhöhung des Schonvermögens zum 01.01.2023 (DVO zu § 90 Abs. 2 Nr. 9 SGB XII) und der Bewertung des Vermögens beim seit 01.01.2023 geltenden Bürgergeld (§ 12 Abs. 1 Nr. 2 SGB II) auf die Obliegenheit zur Verwertung eines privaten Kraftfahrzeugs im Rahmen der Verfahrenskostenhilfe. (Rn. 10 – 13)
Zur Verwertung eines Pkw bei der Prozess-/Verfahrenskostenhilfe nach dem Bürgergeldgesetz s. auch OLG Oldenburg BeckRS 2023, 3320; OLG Saarbrücken BeckRS 2023, 5293. (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Verfahrenskostenhilfe, Prozesskostenhilfe, Schonvermögen, Obliegenheit, Kraftfahrzeug, Verwertung
Vorinstanzen:
AG Kelheim, Beschluss vom 05.05.2023 – 00 1 F 235/23
AG Kelheim, Beschluss vom 05.05.2023 – 001 F 235/23
Fundstellen:
ASR 2023, 199
FamRZ 2023, 1728
MDR 2023, 1345
BeckRS 2023, 17731
LSK 2023, 17731
FuR 2024, 58
VuR 2023, 396

Tenor

1. Auf die sofortige Beschwerde der Antragstellerin wird der Beschluss des Amtsgerichts – Familiengericht – Kelheim vom 05.05.2023 (Verfahrenskostenhilfe, Az: 1 F 235/23) aufgehoben.
2. Der Antragstellerin wird für den ersten Rechtszug ab Antragstellung ratenfreie Verfahrenskostenhilfe bewilligt. Der Antragstellerin wird Rechtsanwältin R… zur Wahrnehmung ihrer Rechte beigeordnet.

Gründe

I.
1
Die Antragstellerin begehrt Verfahrenskostenhilfe für das Scheidungsverfahren.
2
Aus ihrer Erklärung über die persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse vom 20.04.2023 ist ersichtlich, dass die Antragstellerin ein Kraftfahrzeug Opel Insignia (Baujahr 2017, Kilometerstand 95.000) besitzt. Den Wert des Fahrzeugs hat sie mit ca. 8.000,00 € angegeben.
3
Das Amtsgericht Kelheim hat mit Beschluss vom 05.05.2023 den Antrag der Antragstellerin auf Bewilligung von Verfahrenskostenhilfe abgelehnt.
4
Zur Begründung hat das Gericht ausgeführt, die Antragstellerin verfüge mit dem PKW Opel Insignia über ein das Schonvermögen übersteigendes Vermögen; der PKW habe tatsächlich einen Wert von mindestens 13.000,00 €, seine Verwertung sei zumutbar. Das Fahrzeug überschreite sowohl von der Fahrzeuggröße als auch vom Fahrzeugwert die Angemessenheit. Die Antragstellerin sei gehalten, sich vom Erlös einen Kleinwagen anzuschaffen. Z. B. koste ein Ford Fiesta Bj. 2012 mit 85.000 km nicht mehr als 5.000,00 €. Die allgemeine Erwägung, mit dem Erwerb eines anderen Gebrauchtwagens seien Risiken verbunden, gebiete keine andere Beurteilung. Hieraus ergäbe sich nicht, dass die Beschaffung eines kleineren Ersatzfahrzeugs unwirtschaftlich wäre oder aus anderen Gründen unzumutbar sei.
5
Gegen diesen, ihrer Verfahrensbevollmächtigten am 05.05.2023 zugestellten, Beschluss wendet sich die Antragstellerin mit am 05.05.2023 eingegangener sofortiger Beschwerde. Sie trägt vor, das Fahrzeug, das am 01.02.2021 zum Preis von 16.000,00 € angeschafft worden sei, sei aktuell weniger als 13.000,00 € wert. Sie benötige das Auto für Fahrten zur Arbeit (sie sei vollzeitig berufstätig) und für Familienfahrten (zwei minderjährige Kinder; der Antragsgegner ist inhaftiert). Zudem habe sie bei Kauf des Fahrzeugs nicht gewusst, dass ein Scheidungsverfahren auf sie zukommen wird.
6
Das Erstgericht hat dem Rechtsmittel mit Beschluss vom 22.05.2023 nicht abgeholfen.
II.
7
Die gem. §§ 113 Abs. 1 Satz 2 FamFG, §§ 127 Absatz 2 bis 4, 567 ff ZPO zulässige sofortige Beschwerde ist begründet.
8
Der Antragstellerin ist es nicht zumutbar, die Verfahrenskosten aus ihrem Vermögen zu bestreiten. Sie ist nicht gehalten, ihren PKW Opel zu verkaufen und sich als Ersatz einen besonders günstigen Kleinwagen anzuschaffen.
9
Im Grundsatz gilt, dass Verfahrenskostenhilfe nach § 114 ZPO nur erhält, wer nach seinen persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen die Kosten der Verfahrensführung nicht aufbringen kann. § 115 Absatz 3 ZPO legt fest, dass ein Beteiligter dazu auch sein Vermögen einzusetzen hat, soweit dies zumutbar ist und § 90 SGB XII nicht entgegen steht. Gemäß § 90 Abs. 1 SGB XII ist kurzfristig verwertbares Vermögen einzusetzen, es sei denn, es liegt eine Ausnahme nach § 90 Abs. 2 SGB XII vor, die einer Verwertung des Vermögens entgegensteht. Zutreffend hat das Erstgericht auch darauf hingewiesen, dass der erkennende Senat in den Verfahren 9 WF 592/19 und 9 WF 129/23 entsprechende ablehnende Verfahrenskostenhilfeentscheidungen des Amtsgerichts Kelheim bestätigt hat (Fahrzeugverwertung bei Werten von 11.644,00 € und 14.000,00 €).
10
Vorliegend und zum jetzigen Zeitpunkt wird die Sachlage aufgrund geänderter Rechtsvorschriften anders bewertet. Das Schonvermögen in bar (Freibetrag) beläuft sich seit 01.01.2023 auf 10.000,00 € für die antragstellende Person plus 500,00 € für jede überwiegend unterhalte Person (Verordnung zur Durchführung des § 90 Abs. 2 Nr. 9 des Zwölften Buches Sozialgesetzbuch vom 11. Februar 1988 (BGBl. I S. 150), zuletzt durch Artikel 9 des Gesetzes vom 16. Dezember 2022 (BGBl. I S. 2328) geändert), sodass hier der Antragstellerin insgesamt 11.000,00 € zu belassen sind. Zwar ist das Fahrzeug Opel nicht für die berufliche Tätigkeit der Antragstellerin unentbehrlich, anders als bei Berufskraftfahrern. Allerdings ist jedem Hilfebedürftigen auch ein angemessenes Fahrzeug zuzugestehen, § 90 Abs. 2 Nr. 10 SGB XII. Die Angemessenheit beurteilt sich nicht nur nach der Größe, dem Anschaffungspreis und dem Baujahr, sondern unterliegt jeweils einer Einzelfallprüfung, innerhalb der die persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse insgesamt zu berücksichtigen sind. Überschritten ist die Grenze der Angemessenheit jedenfalls bei einem Luxusfahrzeug. Dabei ist aber zu bedenken, dass auch insofern veränderte Maßstäbe gelten müssen. Nachdem der Barfreibetrag nach § 90 Abs. 2 Nr. 9 SGB XII vor kurzem von 5.000,00 € auf 10.000,00 € angehoben worden ist, ist es nicht mehr angezeigt – wie es das Amtsgericht Kelheim getan hat – beim Fahrzeugwert an dem geringen Betrag von 5.000,00 € festzuhalten.
11
Hier ist von Angemessenheit des Opel Insignia angesichts der Verhältnisse der Antragstellerin auszugehen, selbst wenn der Fahrzeugwert den Freibetrag von 11.000,00 € übersteigen sollte.
12
Es handelt sich um ein 6 Jahre altes Auto, das zu einem Zeitpunkt erworben wurde (Anfang 2021), zu dem die Antragstellerin noch nicht mit dem Scheidungsverfahren gerechnet hat und das nicht zur Luxuskategorie zählt. Die Antragstellerin benötigt den Wagen für die erforderlichen Fahrten von der Wohnung zur Arbeitsstätte und für den Transport der minderjährigen, in ihrem Haushalt lebenden Kinder, zumal diese Fahrten infolge der Inhaftierung des Antragsgegners allein die Antragstellerin durchzuführen hat.
13
Zudem weist die Verfahrensbevollmächtigte der Beschwerdeführerin zutreffend darauf hin, dass auch Bezieher des seit 01.01.2023 installierten Bürgergelds ein angemessenes Fahrzeug besitzen dürfen ein. Nach § 12 Abs. 1 Nr. 2 SGB II ist beim Bezug von Bürgergeld ein angemessenes Fahrzeug für jede in der Bedarfsgemeinschaft lebende erwerbsfähige Person nicht als Vermögensgegenstand zu berücksichtigen, wobei die Angemessenheit vermutet wird, wenn die antragstellende Person dies im Antrag erklärt (!). Abzusetzen vom Vermögen ist ein Betrag iHv 15.000,00 € pro Person, § 12 Abs. 2 SGB II. Im Antragsformular zur Feststellung der Vermögensverhältnisse (Jobcenter-VM.01.20223) ist ein Kraftfahrzeug ausdrücklich nur dann mit seinem Wert anzugeben, wenn er über 15.000,00 € liegt. Bürgergeldberechtigt sind nicht (ausreichend) erwerbstätige, aber erwerbsfähige Hilfebedürftige. Wenn für diese Personengruppe die soeben beschriebenen Vorschriften hinsichtlich des Vermögenseinsatzes gelten, muss dies in zumindest ähnlicher Form auch für erwerbstätige Verfahrenskostenhilfeberechtigte gelten.
14
Die Einkommensverhältnisse der Antragstellerin, ausgehend von einem Nettoeinkommen von 1.835,00 € monatlich zuzüglich 500,00 € Kindergeld für die beiden minderjährigen Kinder, lassen angesichts der berücksichtigungsfähigen Wohnkosten von 1.205,00 € und der abzuziehenden Freibeträge von 552,00 € und 251,00 € für die Antragstellerin und 383,00 € für das 2015 geborene Kind keine Ratenzahlungsanordnung zu. Es verbleibt kein einzusetzendes Einkommen.
III.
15
Eine Kostenentscheidung ist nach § 127 Abs. 4 ZPO nicht veranlasst.
IV.
16
Die Voraussetzungen für die Zulassung der Rechtsbeschwerde liegen nicht vor. Der Beschluss ist mit Rechtsmitteln nicht anfechtbar.