Titel:
Dublin-Verfahren (Italien)
Normenketten:
AsylG § 29 Abs. 1 Nr. 1 lit. a, § 34a Abs. 1
Dublin III-VO Art. 3 Abs. 1 S. 2, Art. 13 Abs. 1 S. 1, Art. 22 Abs. 7
Leitsätze:
1. Derzeit besteht keine beachtliche Wahrscheinlichkeit dafür, dass Personen, die im Rahmen des Dublin-Verfahrens nach Italien überstellt werden, auf Grund dort vorhandener systemischer Mängel des Asylverfahrens oder der Aufnahmebedingungen für Asylsuchende generell eine menschenunwürdige oder erniedrigende Behandlung im Sinne des Art. 4 GRCh bzw. Art. 3 EMRK droht. (Rn. 46) (redaktioneller Leitsatz)
2. Auch Italien mit Schreiben vom 5. und vom 7.12.2022 den anderen Dublin-Staaten mitgeteilt hat, dass es wegen Kapazitätsproblemen bis auf weiteres keine Überstellungen mehr annehmen werde, kann auf Basis des Grundsatzes gegenseitigen Vertrauens aus einer fehlenden ausdrücklichen Aussage der Italienischen Republik in Bezug auf freiwillig Rückkehrende nicht geschlossen werden, dass für diese keinerlei Aufnahmekapazitäten verfügbar wären. (Rn. 49) (redaktioneller Leitsatz)
3. Zum gegenwärtigen Zeitpunkt ist nicht erkennbar ist, dass Italien generell und auf unabsehbare Zeit nicht mehr bereit wäre, am Dublin-System teilzunehmen und dementsprechend auch Abschiebungen nach Italien als zuständigen Mitgliedsstaat zu akzeptieren. (Rn. 77) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Unzulässiger Asylantrag, Zuständigkeit Italiens nach Dublin III-VO, Aufnahmestopp Italiens vom 5./7.12.2022, Prognose der Durchführbarkeit der Überstellung, systemische Mängel, Aufnahmebedingungen, Aufnahmestopp, Aufnahmekapazitäten, Abschiebung
Fundstelle:
BeckRS 2023, 17453
Tenor
1. Der Antrag wird abgelehnt.
2. Der Antragsteller trägt die Kosten des Verfahrens.
Gerichtskosten werden nicht erhoben.
Gründe
1
Der Antragsteller wendet sich im einstweiligen Rechtsschutzverfahren gegen eine Abschiebungsanordnung nach Italien.
2
Der Antragsteller ist palästinensischer Volkszugehöriger und hatte seinen gewöhnlichen Aufenthalt zuletzt in Syrien. Dieses Land verließ er eigenen Angaben zufolge am 9. November 2022 und reiste über Libyen auf dem Seeweg nach Italien, wo er am 11. Dezember 2022 ankam. Er gab an, „sie“ seien in einem Fischerboot unterwegs gewesen, das von einem Rettungsschiff aufgenommen und nach … gebracht worden sei. Dort seien sie ungefähr 2 Tage gewesen, wo ihre Daten erfasst worden seien. Nach weiteren 2 Tagen sei er mit dem Flixbus über … und die Schweiz nach Deutschland gekommen. In Deutschland sei er am 17. Dezember 2022 eingereist.
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Am 30. Januar 2023 hat der Antragsteller einen förmlichen Asylantrag gestellt.
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Aufgrund eines am 22. Dezember 2022 vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt) festgestellten Eurodac-Treffers der Kategorie 2 (Fingerabdrucknahme am 11. Dezember 2022 in …) richtete das Bundesamt am 8. Februar 2023 ein Aufnahmegesuch nach der Dublin III-VO an die italienischen Behörden, das unbeantwortet blieb.
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Bei der Anhörung zur Zulässigkeit des Asylantrags am 17. Februar 2023 gab der Antragsteller an, dass sein Ziel von Anfang an Deutschland gewesen sei. Er wolle hier arbeiten und leben. Krankheiten oder Behinderungen habe er nicht. In Österreich lebten 2 entfernte Cousins von ihm, die dort Asyl beantragt hätten. Näheren Kontakt habe er nicht.
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Mit Bescheid vom 11. April 2023 hat das Bundesamt den Asylantrag des Antragstellers als unzulässig abgelehnt (Ziffer 1), festgestellt, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG nicht vorliegen (Ziffer 2) und die Abschiebung des Antragstellers nach Italien angeordnet (Ziffer 3). In Ziffer 4 des Bescheides wurde das Einreiseund Aufenthaltsverbot gemäß § 11 Abs. 1 AufenthG angeordnet und auf 15 Monate ab dem Tag der Abschiebung befristet. Auf die Begründung des Bescheids wird Bezug genommen. In der Bundesamtsakte befindet sich eine vom Antragsteller unterzeichnete Empfangsbestätigung, wonach der Bescheid am 24. April 2023 dem Antragsteller ausgehändigt worden ist. Wenige Seiten später findet sich ein vorgefertigtes Schreiben vom 12. April 2023, in dem die Erstaufnahmeeinrichtung angibt, dass der Bescheid am 19. April 2023 dem Antragsteller ausgehändigt worden sei.
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Am 20. April 2023 hat der Antragsteller zu Protokoll der Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle des Bayerischen Verwaltungsgerichts Ansbach Klage gegen den Bescheid des Bundesamts vom 11. April 2023 erhoben (AN 14 K 23.50253) und den vorliegenden Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage gestellt. Eine Begründung wurde angekündigt, erfolgte aber bis zur gerichtlichen Entscheidung nicht.
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Der Antragsteller beantragt,
die aufschiebende Wirkung der Klage gemäß § 80 Abs. 5 VwGO anzuordnen.
9
Die Antragsgegnerin beantragt,
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Mit Schreiben vom 11. Mai 2023 hat das Gericht die Antragsgegnerin um Mitteilung gebeten, ob das Bundesamt über die dem Gericht bekannten Schreiben des italienischen Innenministeriums vom 5. und 7. Dezember 2022 hinaus über Kenntnisse verfüge, ob bzw. wann Italien wieder Überstellungen von Asylsuchenden aufgrund der Dublin III-VO entgegennehme. Daneben wurde um Stellungnahme gebeten, auf welcher Grundlage das Bundesamt zu der Einschätzung gelange, dass im Sinne von § 34a Absatz ein Satz 1 AsylG feststehe, dass die Abschiebung des Antragstellers nach Italien durchgeführt werden könne.
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Hierzu nahm die Antragsgegnerin mit Schriftsatz vom 12. Mai 2023 im wesentlichen dahingehend Stellung, dass weiterhin feststehe, dass die Überstellung durchgeführt werden könne. Feststehen meine hier ein relatives Feststehen in dem Sinne, dass nach derzeitigem Verfahrensstand und Erkenntnislage des Bundesamtes die Abschiebung mit großer Wahrscheinlichkeit durchgeführt werden könne. Sie müsse nicht zu einem bestimmten Zeitpunkt zu 100% sicher feststehen. Die Prognose obliege den diese durchführenden Behörden, denen insoweit ein gerichtlich nur beschränkt überprüfbarer Beurteilungsspielraum zustehe. Bei kurzfristigen Vollzugshindernissen müsse nicht statt der Abschiebungsanordnung eine-Androhung erlassen werden, wenn in einem absehbaren Zeitraum mit dem Wegfall des Hindernisses gerechnet werden könne. Soweit der ersuchte Staat im Allgemeinen nicht aufnahmebereit sei begründe dies allein nicht, dass bereits ein tatsächliches Vollzugshindernis anzunehmen sei. Der Prognose sei der Gesamtzeitraum der Überstellungsfrist von grundsätzlich 6 Monaten zugrunde zu legen. Die in den genannten Schreiben der italienischen Republik vom Dezember 2022 genannte Formulierung „suspend“ zeige, dass die Überstellungen lediglich aufgeschoben werden sollten und nicht, dass generell keine Aufnahmebereitschaft mehr bestehe. Diese Bewertung stehe im Einklang mit den Zielen des Dublin-Regimes. Insbesondere ergebe sich daraus keine Verkürzung der Rechtsposition der Antragsteller, da diese weiterhin durch den Zuständigkeitsübergang bei Fristablauf gemäß Art. 29 Abs. 2 Dublin III-VO geschützt seien. Die Bemühungen der italienischen Republik zur Schaffung ausreichender Aufnahmeplätze ließen erwarten, dass eine Entspannung eintreten werde und Überstellungen wiederaufgenommen werden könnten.
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Mit weiterem Schreiben vom 24. Mai 2023 bat das Gericht die Antragsgegnerin um Mitteilung, ob es seit Dezember 2022 zu Überstellungen nach Italien gekommen sei. Hierauf erwiderte die Antragsgegnerin mit Schreiben vom gleichen Tag, dass von Januar bis April 2023 Überstellungen im Dublin-Verfahren nach Italien stattgefunden hätten. Dabei habe es sich jedoch um freiwillige Ausreisen von Antragstellenden, die nicht zu dem in den Schreiben des italienischen Innenministeriums vom Dezember 2022 genannten Personenkreis gehörten, gehandelt. Das Bundesamt habe insoweit der Bitte der italienischen Behörden entsprochen und nur solche Überstellungen durchgeführt. Nach dem derzeitigen Verfahrensstand, insbesondere angesichts der aktuell nicht laufenden Überstellungsfrist beim Antragsteller könne davon ausgegangen werden, dass sich das Vorgehen der italienischen Behörden rechtzeitig ändern und damit das vorübergehende Hindernis entfallen werde.
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Hinsichtlich weiterer Einzelheiten wird auf die gewechselten Schriftsätze und die Bundesamtsakten Bezug genommen.
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Die Entscheidung ergeht gemäß § 76 Abs. 4 Satz 1 AsylG durch den Berichterstatter als Einzelrichter.
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Der Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage nach § 80 Abs. 5 VwGO ist hinsichtlich der Abschiebungsanordnung in Nummer 3 des streitgegenständlichen Bescheids gem. § 34a Abs. 2 Satz 1 AsylG statthaft, da die in der Hauptsache statthafte Anfechtungsklage nach § 75 Abs. 1 AsylG kraft Gesetzes keine aufschiebende Wirkung hat. Der Antrag ist innerhalb der einwöchigen Frist nach § 34a Abs. 2 Satz 1 AsylG gestellt worden: Da der Antragsteller bereits am 20. April 2023 zu Protokoll der Urkundsbeamten der Geschäftsstelle Klage erhoben und den vorliegenden Eilantrag gestellt hat muss die in der Bundesamtsakte befindliche Empfangsbestätigung (Aushändigung am 23. April 2023) falsch sein. Zutreffend ist daher wohl die Angabe der Erstaufnahmeeinrichtung, dass der Bescheid am 19. April übergeben wurde. Da der Antrag aber jedenfalls fristgerecht gestellt wurde sind weitere Ausführungen hierzu überflüssig. Der Antrag ist auch im Übrigen zulässig.
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Jedoch ist der Antrag unbegründet, so dass die aufschiebende Wirkung der Klage nicht angeordnet werden kann.
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Nach § 80 Abs. 5 VwGO trifft das Gericht eine Ermessensentscheidung, in deren Rahmen das Aussetzungsinteresse des Antragstellers gegen das Vollzugsinteresse der Antragsgegnerin abgewogen wird. Grundlage ist dabei die anhand einer summarischen Prüfung erfolgende Beurteilung der Erfolgsaussichten des Rechtsbehelfs in der Hauptsache (BVerwG, B. v. 7.7.2010 – 7 VR 2/10 u.a. – juris Rn. 20; B. v. 23.1.2015 – 7 VR 6/14 – juris Rn. 8).
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Die Abschiebungsanordnung in Nummer 3 des streitgegenständlichen Bescheids vom 11. April 2023 erweist sich bei summarischer Prüfung auch unter Heranziehung der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs im maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung (§ 77 Abs. 1 Satz 1 Hs. 2 AsylG) als rechtmäßig und verletzt den Antragsteller nicht in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).
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Die Abschiebungsanordnung findet ihre Rechtsgrundlage in § 34a Abs. 1 Satz 1 AsylG. Nach dieser Vorschrift ordnet das Bundesamt die Abschiebung eines Ausländers in einen für die Durchführung des Asylverfahrens im Sinne des § 29 Abs. 1 Nr. 1 AsylG zuständigen Mitgliedstaat an, sobald feststeht, dass sie durchgeführt werden kann. Diese Voraussetzungen sind vorliegend gegeben.
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1. Die Antragsgegnerin ist zutreffend davon ausgegangen, dass Italien gemäß § 29 Abs. 1 Nr. 1 lit. a AsylG in Verbindung mit der Dublin III-VO der zuständige Mitgliedstaat für die Prüfung des Asylantrages des Antragstellers ist.
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Nach Art. 3 Abs. 1 Satz 2 der Dublin III-VO wird der Asylantrag von dem Mitgliedstaat geprüft, der nach den Kriterien des Kapitels III der Dublin III-VO als zuständiger Staat bestimmt wird.
22
Die Zuständigkeit Italiens für den Asylantrag des Antragstellers ergibt sich vorliegend aus Art. 13 Abs. 1 Satz 1 Dublin III-VO, da aufgrund des festgestellten Eurodac-Treffers der Kategorie 2 und dem Vortrag des Antragstellers in den Anhörungen beim Bundesamt feststeht, dass der Antragsteller die Seegrenze Italiens illegal überschritten hat.
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Das Bundesamt hat am 8. Februar 2023 ein auf einem am 22. Dezember 2022 festgestellten Eurodac-Treffer basierendes Aufnahmegesuch an die italienischen Behörden gestellt und damit die sich aus Art. 21 Abs. 1 UA 2 Dublin III-VO ergebende 2-monatige Frist gewahrt.
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Da die italienischen Behörden nicht innerhalb von zwei Monaten auf das Übernahmeersuchen Deutschlands reagiert haben, ist gemäß Art. 22 Abs. 7 Dublin III-VO davon auszugehen, dass dem Gesuch stattgegeben worden ist. Damit ist Italien nach Art. 13 Abs. 1 Dublin III-VO für die Prüfung des Asylantrags des Antragstellers zuständig und gemäß Art. 18 Abs. 1 Buchst. a und Art. 22 Abs. 7 Dublin III-VO verpflichtet, den Antragsteller aufzunehmen und angemessene Vorkehrungen für seine Ankunft zu treffen.
25
Die Bundesrepublik Deutschland ist auch nicht wegen Ablaufs der Überstellungsfrist des Art. 29 Abs. 1 Dublin III-VO zuständig geworden, denn diese wurde durch den vorliegenden, fristgerecht gestellten Antrag unterbrochen und läuft erst mit der Ablehnung des Antrags erneut an (vgl. Art. 29 Abs. 1 UAbs. 1 Dublin III-VO a. E.).
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2. Der Zuständigkeit Italiens steht weder Art. 3 Abs. 2 UAbs. 2 und 3 Dublin-III-VO (hierzu a.) noch eine dem Antragsteller im Fall der Zuerkennung internationalen Schutzes durch Italien dort drohende, gegen Artikel 4 GRCh bzw. Art. 3 EMRK verstoßende Behandlung (hierzu b.) entgegen.
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a. Es liegen keine außergewöhnlichen Umstände vor, die die Zuständigkeit Italiens in Durchbrechung des Systems der Bestimmungen der Dublin III-VO entfallen ließen und zum Übergang der Zuständigkeit auf die Antragsgegnerin nach Art. 3 Abs. 2 UAbs. 2 Dublin III-VO führen würden.
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aa. Nach dem Prinzip der normativen Vergewisserung (vgl. BVerfG, U. v. 14.5.1996 – 2 BvR 1938/93 –, juris) bzw. dem Prinzip des gegenseitigen Vertrauens (vgl. EuGH, U. v. 21.12.2011 – C 4 11/10 und C 493/10 –, juris) gilt die Vermutung, dass die Behandlung der Asylbewerber in jedem einzelnen Mitgliedstaat der Europäischen Union den Vorschriften der Genfer Flüchtlingskonvention (GFK), der Europäischen Konvention für Menschenrechte (EMRK) und der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (GRCh) entspricht.
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Diese Vermutung kann widerlegt werden, weshalb den nationalen Gerichten die Prüfung obliegt, ob es im jeweiligen Mitgliedstaat Anhaltspunkte für systemische Mängel des Asylverfahrens und der Aufnahmebedingungen für Asylbewerber gibt, welche zu einer ernsthaften und durch Tatsachen bestätigten Gefahr für die Antragsteller führen, bei Rückführung in den zuständigen Mitgliedstaat einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne von Art. 4 GRCh bzw. Art. 3 EMRK ausgesetzt zu werden (vgl. EuGH, U. v. 21.12.2011 a.a.O.). An die Feststellung systemischer Mängel sind hohe Anforderungen zu stellen. Einzelne Grundrechtsverletzungen oder Verstöße gegen Art. 3 EMRK der zuständigen Mitgliedstaaten genügen nicht. Von systemischen Mängeln ist vielmehr erst dann auszugehen, wenn das Asylverfahren oder die Aufnahmebedingungen für Asylbewerber regelhaft so defizitär sind, dass zu erwarten ist, dass dem Asylbewerber im konkret zu entscheidenden Einzelfall mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung droht (vgl. BVerwG, B.v. 19.3.2014 – 10 B 6.14 –, juris; B.v. 6.6.2014 – 10 B 25/14 –, juris).
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Mit Urteil vom 19. März 2019 – C-163/17 – hat der Europäische Gerichtshof die Maßstäbe – aufgrund des allgemeinen und absoluten Charakters von Art. 4 GRCh für Asylbewerber und Anerkannte in gleicher Weise – für Rückführungen im Dublin-Raum präzisiert. Aufgrund des fundamental bedeutsamen EU-Grundsatzes des gegenseitigen Vertrauens darf ein Asylbewerber hiernach grundsätzlich immer in den Mitgliedstaat rücküberstellt werden, der nach der Dublin III-VO für die Bearbeitung seines Antrages zuständig ist bzw. ihm bereits Schutz gewährt hat, es sei denn, er würde dort ausnahmsweise aufgrund der voraussichtlichen Lebensumstände für längere Zeit dem „real risk“ einer Lage extremer materieller Not ausgesetzt, die gegen das Verbot unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung im Sinne von Art. 4 GRCh bzw. des insoweit inhaltlich gleichen Art. 3 EMRK verstößt, das heißt seine physische oder psychische Gesundheit beeinträchtige oder ihn in einen Zustand der Verelendung versetzte, der mit der Menschenwürde unvereinbar wäre (vgl. VGH BW, U.v. 29.7.2019 – A 4 S 749/19 –, juris Rn. 38).
31
Die vom Europäischen Gerichtshof geforderte besonders hohe Schwelle der Erheblichkeit wäre etwa dann anzunehmen, wenn die Gleichgültigkeit der Behörden eines Mitgliedstaates zur Folge hätte, dass eine vollständig von öffentlicher Unterstützung abhängige Person sich unabhängig von ihrem Willen und ihren persönlichen Entscheidungen in einer Situation extremer materieller Not befände, die es ihr nicht erlaubte, ihre elementarsten Bedürfnisse zu befriedigen, wie insbesondere sich zu ernähren, sich zu waschen und eine Unterkunft zu finden, und die ihre physische oder psychische Gesundheit beeinträchtigte oder sie in einen Zustand der Verelendung versetzte, der mit der Menschenwürde unvereinbar wäre (EuGH, U.v. 19.3.2019, a.a.O. Rn. 92 unter Verweis auf EGMR, U.v. 21.1.2011 – 30696/09 – M.S.S./Belgien und Griechenland; vgl. auch BVerwG, B.v. 8.8.2018 – 1 B 25.18 –, juris).
32
Diese Schwelle ist selbst durch große Armut oder eine starke Verschlechterung der Lebensverhältnisse der betreffenden Person gekennzeichneten Situation nicht erreicht, sofern sie nicht mit extremer materieller Not verbunden sind, aufgrund deren sich diese Person in einer solch schwerwiegenden Lage befindet, dass sie einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung gleichgestellt werden kann (vgl. EuGH, U.v. 19.3.2019, a.a.O. Rn. 93.). Es lässt sich allerdings nicht völlig ausschließen, dass ein Asylbewerber oder Schutzberechtigter nachweisen kann, dass außergewöhnliche Umstände vorliegen, die ihr eigen sind und im Fall ihrer Überstellung bedeuten würden, dass sie sich aufgrund ihrer besonderen Verletzlichkeit unabhängig von ihrem Willen und ihren persönlichen Entscheidungen in einer Situation extremer materieller Not befände (vgl. EuGH, U.v. 19.3.2019, a.a.O).
33
Vor diesem Hintergrund liegen auch unter Berücksichtigung der neuesten Entwicklungen in Italien im maßgeblichen Entscheidungszeitpunkt (§ 77 Abs. 1 Satz 1 AsylG) keine systemischen Mängel des Asylverfahrens und der Aufnahmebedingung für Dublin-Rückkehrende wie den Antragsteller in Italien vor.
34
bb. Für Dublin-Rückkehrende sind in Italien, wie für einreisende Asylsuchende, Erstaufnahmeeinrichtungen (Registrierungszentren/Hotspots/CPSA, CARA und CDA sowie Notaufnahmeeinrichtungen) verfügbar (BAMF, Situation des Aufnahmesystems seit der Reform des Salvini-Dekrets, 15.7.2021, S. 1, 3). Aufgrund der verschiedentlichen Typen von Aufnahmeeinrichtungen in Italien gibt es derzeit keine nachvollziehbaren Statistiken, anhand derer sich die Kapazität und die Belegung der Unterbringungsmöglichkeiten feststellen lassen würde (vgl. AIDA, Country Report: Italy, 2021 Update, S. 130). Ende des Jahres 2022 waren 107.677 Asylsuchende und Inhaber eines Schutzstatus in Aufnahmeeinrichtungen in Italien untergebracht, gegenüber 78.001 Ende des Jahres 2021. Hiervon waren 71.882 Personen in Erstaufnahmeeinrichtungen und 33.848 in Zweitaufnahmeeinrichtungen (SAI) untergebracht (vgl. AIDA, Country Report: Italy, 2022 Update, S. 147). Berichte darüber, dass Asylbewerbern aufgrund der Belegung der Aufnahmeeinrichtungen keinen Zugang zu einer Unterkunft gefunden hätten, gibt es nicht (vgl. AIDA, Country Report: Italy, 2022 Update, S. 153), obwohl das italienische Innenministerium mit Rundschreiben vom 5. und vom 7. Dezember 2022 an die Dublin-Staaten mitgeteilt hat, dass aufgrund fehlender Aufnahmekapazitäten Dublin-Überstellungen bis auf weiteres aufgeschoben („suspend“) würden (vgl. AIDA, Country Report: Italy, 2022 Update, S. 17f).
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Dublin-Rückkehrende, die während ihres vorherigen Aufenthalts noch keinen Asylantrag in Italien gestellt haben, können in gleichem Maße wie neuankommende Asylsuchende einen Asylantrag stellen (AIDA, Country Report: Italy, 2022 Update, S. 83). Allen Rückkehrenden wird am Flughafen von der Polizei ein Einladungsschreiben (verbale di invito) ausgehändigt, dem zu entnehmen ist, welche Quästur für das jeweilige Asylverfahren zuständig ist (vgl. AIDA, Country Report: Italy, 2022 Update, S. 82; BFA, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Italien, Stand: 1.7.2022, S. 5). Die Asylsuchenden sind angehalten, auf eigene Faust und eigene Kosten oder mit Hilfe von Nichtregierungsorganisationen innerhalb weniger Tage zur zuständigen Quästur zu reisen (vgl. AIDA, Country Report: Italy, 2022 Update, S. 83). Wenn kein vorheriger Asylantrag gestellt wurde, sollen sie in der Provinz des Ankunftsflughafens untergebracht werden. Die Einheit der Familie sollte immer gewahrt bleiben (vgl. AIDA, Country Report: Italy, 2021 Update, S. 81).
36
Waren Dublin-Rückkehrende bereits vor ihrer Ausreise einmal offiziell untergebracht, kann es zu Problemen kommen. In der Vergangenheit wurden in diesen Fällen Anträge auf Unterbringung von der zuständigen Präfektur oft abgelehnt, so dass die Asylsuchenden auf wohltätige Einrichtungen angewiesen waren (vgl. BFA, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Italien, Stand: 26.2.2019, S. 12 f.; SFH, Aufnahmebedingungen in Italien, Stand: Januar 2020, S. 44 f., 47).
37
Sofern ihnen das Recht auf Unterbringung nicht entzogen wurde, werden Dublin-Rückkehrende während des Asylverfahrens in den Erstaufnahmeeinrichtungen untergebracht (SFH, Aufnahmebedingungen in Italien, Stand: Januar 2020, S. 37). Bei diesen Erstaufnahmeeinrichtungen handelt es sich meist um größere Einrichtungen, in denen eine Vielzahl von Asylsuchenden untergebracht wird. Die Unterbringungsbedingungen variieren von Einrichtung zu Einrichtung und sind insbesondere von deren Größe, der Art der Einrichtung und der Belegungsrate abhängig (AIDA, Country Report: Italy, 2022 Update, S. 155, BFA, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Italien, Stand: 1.7.2022, S. 12f, 15; BAMF, Bericht zur Aufnahmesituation von Familien mit minderjährigen Kindern nach einer Dublin-Überstellung in Italien vom 2.4.2020, S. 10).
38
Teilweise werden diese Unterbringungsbedingungen als schwierig beschreiben (SFH, Aufnahmebedingungen in Italien, Stand: Januar 2020, S. 37 ff.), die Einrichtungen als überfüllt, und immer wieder Sicherheits- und Hygieneprobleme sowie Personalengpässe dokumentiert (AIDA, Country Report: Italy, 2022 Update, S. 155).
39
Seit der Reform des sog. Salvini-Dekrets im Jahr 2020 hatten Familien und vulnerable Dublin-Rückkehrende die Möglichkeit, bereits während des laufenden Asylverfahrens in einer Zweitaufnahmeeinrichtung (SAI) unterzukommen, sofern dort Plätze zur Verfügung stehen (AIDA, Country Report: Italy, 2021 Update, S. 78; SFH, Aufnahmebedingungen in Italien – Aktuelle Entwicklungen, Stand: 10.06.2021, S. 7). Bereits damals hatten asylsuchende Personen in den Zweitaufnahmeeinrichtungen aber nicht im selben Umfang Zugang zu Integrationsleistungen wie anerkannt Schutzberechtigte (vgl. SFH, Aufnahmebedingungen in Italien – Aktuelle Entwicklungen, Stand: 10.06.2021, S. 7). Durch das Dekret 20/2023 (sog. Cutro-Dekret) vom 5. Mai 2023 wurden Asylsuchende jedoch wieder von der Möglichkeit, Zugang zu Zweitaufnahmeeinrichtungen (SAI) zu bekommen ausgeschlossen, mit der Ausnahme von als vulnerabel identifizierten Personen und Menschen, die legal nach Italien gekommen sind (z.B. durch Umsiedlungs-Programme) (AIDA, Country Report: Italy, 2022 Update, S. 18, 156).
40
Wurde der Asylerstantrag zuvor abgelehnt oder zurückgezogen besteht die Möglichkeit, einen Folgeantrag bei der zuständigen Quästur zu stellen. In diesem Fall existieren für die Folgeantragsteller dieselben rechtlichen Garantien wie für Asylsuchende, zudem können sie in den Aufnahmeeinrichtungen untergebracht werden, sofern dort Kapazitäten bestehen (vgl. AIDA, Country Report: Italy, Update 2022, S. 105).
41
Neben den Erstaufnahmeeinrichtungen sind außerhalb der staatlichen Strukturen private Unterbringungsmöglichkeiten vorhanden, die durch Kirchen oder Freiwilligenverbände betrieben werden (BFA, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Italien, Stand: 1.7.2022, S. 13).
42
Des Weiteren erhalten Dublin-Rückkehrende als Asylsuchende während des Asylverfahrens in Italien Leistungen für die Befriedigung von Grundbedürfnissen, insbesondere Nahrungsmittel, Hygieneartikel und Kleidung (BAMF, Bericht zur Aufnahmesituation von Familien mit minderjährigen Kindern nach einer Dublin-Überstellung in Italien vom 2.4.2020, S. 11, 20 f., 35, 43; BFA, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Italien, Stand: 11.11.2020).
43
Nach den italienischen Aufnahmebestimmungen können Asylsuchende 60 Tage nach der Stellung des Asylgesuchs mit der Ausübung einer Erwerbstätigkeit beginnen und haben somit noch im Asylverfahren Zugang zum italienischen Arbeitsmarkt (AIDA, Country Report: Italy, 2022 Update, S. 159). In der Praxis kann jedoch das Fehlen einer Aufenthaltsgestattung zu Schwierigkeiten in Bezug auf die Aufnahme einer Erwerbstätigkeit führen, ebenso wie Sprachbarrieren, abgelegene Unterkünfte und mangelnde Unterstützungsmöglichkeiten (AIDA, Country Report: Italy, 2021 Update, S. 159).
44
Asylsuchende haben, wie international Schutzberechtigte auch, nach einer entsprechenden Registrierung in gleichem Maße Zugang zum italienischen Gesundheitssystem wie italienische Staatsangehörige (AIDA, Country Report: Italy, 2022 Update, S. 161). Es kommt in der Praxis zwar immer wieder zu Verzögerungen, wenn die Registrierung des Asylbegehrens noch nicht vollzogen ist, allerdings ist für diese Zeit, die einige Monate dauern kann, eine Notfallversorgung sichergestellt. In manchen Erstaufnahmeeinrichtungen existiert eine ärztliche Betreuung zusätzlich zum allgemeinen Zugang zum nationalen Gesundheitsdienst (BFA, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Italien, Stand: 1.7.2022, S. 17). Im Übrigen kann aber davon ausgegangen werden, dass in Italien Behandlungsmöglichkeiten in ausreichendem Maße verfügbar sind (BAMF, Bericht zur Aufnahmesituation von Familien mit minderjährigen Kindern nach einer Dublin-Überstellung in Italien vom 2.4.2020, S. 10 f., 15 f. 21 f., 37 f., 45 f.; BFA, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Italien, Stand: 9.10.2019, S. 19 ff.).
45
Zudem soll bei einer besonderen Vulnerabilität der Asylsuchenden bei deren Unterbringung auf ihre spezifischen Bedürfnisse Rücksicht genommen werden; dazu ist ein Gesundheitscheck bei der Erstaufnahme vorgesehen (BFA, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Italien, Stand: 1.7.2022, S. 8; AIDA Country Report Italy, 2022 Update, S. 93f).
46
Ausgehend davon besteht im gegenwärtigen Zeitpunkt – trotz fortdauernder Schwierigkeiten insbesondere aufgrund des seit 2022 zu verzeichnenden Anstiegs von neuankommenden Asylsuchenden – keine beachtliche Wahrscheinlichkeit dafür, dass Personen, die im Rahmen des Dublin-Verfahrens nach Italien überstellt werden, auf Grund dort vorhandener systemischer Mängel des Asylverfahrens oder der Aufnahmebedingungen für Asylsuchende generell eine menschenunwürdige oder erniedrigende Behandlung im Sinne des Art. 4 GRCh bzw. Art. 3 EMRK droht. Italien verfügt unter Berücksichtigung der Verwaltungspraxis über ein im Wesentlichen ordnungsgemäßes, richtlinienkonformes Asyl- und Aufnahmeverfahren, welches trotz einzelner Mängel nicht nur abstrakt, sondern gerade auch unter Würdigung der vor Ort tatsächlich anzutreffenden Rahmenbedingungen prinzipiell funktionsfähig ist.
47
cc. Ausweislich des für den Antragsteller festgestellten Eurodac-Treffers der Kategorie 2 und seinen Ausführungen in den Anhörungen beim Bundesamt hat der Antragsteller in Italien noch keinen Asylantrag gestellt. Er wird daher bei einer Überstellung nach Italien dort als Erstantragsteller behandelt und hat dementsprechend einen Anspruch auf Unterbringung und Versorgung während des Asylverfahrens.
48
Hierbei ist nicht ersichtlich, dass derzeit in Italien nicht ausreichend Unterbringungsplätze für Asylbewerber zur Verfügung stehen würden. Nach der derzeitigen Auskunftslage sind die Kapazitäten des italienischen Aufnahmesystems momentan noch nicht überlastet (vgl. Gemeinsamer Bericht des Auswärtigen Amtes, des Bundesministeriums des Innern und für Heimat und des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge zur Aufnahmesituation von Asylantragstellenden sowie anerkannt Schutzberechtigten in Italien, Stand: September 2022, S. 7). Auch der aktuelle AIDA-Bericht hält ausdrücklich fest, dass Berichte darüber, dass Asylbewerber aufgrund der Belegung der Aufnahmeeinrichtungen keinen Zugang zu einer Unterkunft gefunden hätten, nicht existierten (AIDA, Country Report: Italy, 2022 Update, S. 153). Dass Italien Ende 2022 den anderen Dublin-Staaten mitgeteilt hat, dass es wegen Kapazitätsproblemen bis auf weiteres keine Überstellungen mehr annehmen werde, widerspricht dem nicht: Dann dadurch hat Italien gerade zu erkennen gegeben, dass es verhindern will, dass eine derartige Situation für Dublin-Rückkehrer entstehen könnte.
49
Der Beschluss des Oberverwaltungsgerichts Nordrhein-Westfalen vom 7. Juni 2023 (Az. 11 A 2343/19.A – juris Rn. 47ff), der von einer generellen Verweigerung des Zugangs zum Asylverfahren und den Aufnahmebedingungen und daraus resultierend einer drohenden unmenschlichen Behandlung im Sinne von Art. 4 GRCh für Dublin-Rückkehrer nach Italien ausgeht, vermag dagegen nicht zu überzeugen. Er berücksichtigt insbesondere nicht, dass es nach der Mitteilung des Bundesamts vom 24. Mai 2023 in diesem Verfahren im Zeitraum Januar bis April 2023 zu Dublin-Überstellungen von freiwillig Ausreisenden gekommen ist. Anhaltspunkte dafür, dass die italienischen Behörden sich weigern würden, freiwillig Ausreisende unterzubringen und ihnen (erneut) Zugang zum Asylverfahren zu gewähren, gibt es dagegen nicht und werden vom OVG Nordrhein-Westfalen in dem Beschluss auch nicht genannt. Derartiges kann nach Überzeugung des Einzelrichters auch nicht den o.g. Rundschreiben entnommen werden. Auch wenn der Überstellungsstopp auf mangelnde Aufnahmekapazitäten gestützt wird („due to the unavailability of reception facilities“), folgt doch schon aus den Rundschreiben selbst, dass gewisse Aufnahmekapazitäten noch verfügbar sind („with the exception of cases of family reunification of unaccom-panied minors“). Daher kann auf Basis des Grundsatzes gegenseitigen Vertrauens aus einer fehlenden ausdrücklichen Aussage der Italienischen Republik in Bezug auf freiwillig Rückkehrende nicht geschlossen werden, dass für diese keinerlei Aufnahmekapazitäten verfügbar wären.
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Zwar muss der Antragsteller selbstständig zu der für ihn zuständigen Quästur gelangen und die Reise dorthin aus eigenen Mitteln finanzieren. Da es der Antragsteller aber vermocht hat, selbstständig von Italien nach Deutschland zu gelangen, ist davon auszugehen, dass ihm auch diese Reise gelingen wird. Außerdem sind die Rückkehrer, die noch keinen Asylantrag gestellt haben unter Wahrung der Familieneinheit in der Provinz des Ankunftsflughafens unterzubringen (BFA, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Italien, Stand: 1.7.2022, S. 5).
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b. Dem Antragsteller droht bei einer Rückkehr nach Italien auch im Fall der Zuerkennung internationalen Schutzes durch Italien nicht die ernsthafte Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne des Art. 4 GRCh bzw. Art. 3 EMRK.
52
aa. Aufgrund des allgemeinen und absoluten Verbotscharakters des Art. 4 GRCh soll die Überstellung von Asylsuchenden im Rahmen des Dublin-Verfahrens auch in all den Situationen ausgeschlossen sein, in denen ernsthafte und durch Tatsachen bestätigte Gründe für die Annahme vorliegen, dass die Asylsuchenden bei ihrer Überstellung oder infolge ihrer Überstellung Gefahr laufen werden, einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung ausgesetzt zu sein (EuGH, U. v. 19.3.2019 – C-163/17 – juris Rn. 85 ff.).
53
Nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs ist es daher für die Anwendung von Art. 4 GRCh gleichgültig, ob es zum Zeitpunkt der Überstellung oder während des Asylverfahrens oder nach dessen Abschluss dazu kommt, dass die betreffenden Personen aufgrund ihrer Überstellung an den zuständigen Mitgliedstaat im Sinne der Dublin-III-VO einem ernsthaften Risiko ausgesetzt wären, eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung zu erfahren (EuGH, U. v. 19.3.2019 – C-163/17 – juris Rn. 87 f.). Das Asylsystem des nach der Dublin-III-VO zuständigen Mitgliedstaates darf zu keinem Zeitpunkt Anhaltspunkte dafür geben, dass den Rücküberstellten bei einer Rückkehr in den zuständigen Mitgliedstaat eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung droht (EuGH, U. v. 19.3.2019 – C-163/17 – juris Rn. 88). Demgemäß ist nicht lediglich die Situation von Asylsuchenden als Dublin-Rückkehrende in den Blick zu nehmen, sondern es ist eine zusätzliche Abschätzung der Situation bei einer Zuerkennung internationalen Schutzes im zuständigen Mitgliedstaat erforderlich (VGH BW, U. v. 29.7.2019 – A 4 S 749/19 – juris Rn. 42; VG Würzburg, B. v. 11.12.2020 – W 8 S 20.50301 – juris Rn. 19).
54
Wie für Dublin-Rückkehrende bereits dargelegt, kann eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung in den vorherrschenden humanitären Bedingungen erst gesehen werden, wenn eine besonders hohe Schwelle der Erheblichkeit erreicht ist. Daher kann auch der Umstand, dass international Schutzberechtigte in dem Mitgliedstaat, der sie anerkannt hat, keine oder im Vergleich zu anderen Mitgliedstaaten nur in deutlich reduziertem Umfang existenzsichernde Leistungen erhalten, ohne dabei anders als die Angehörigen dieses Mitgliedstaats behandelt zu werden, nur dann zur Feststellung der Gefahr einer Verletzung des Standards des Art. 4 GRCh führen, wenn der Antragsteller sich aufgrund seiner besonderen Verletzbarkeit unabhängig von seinem Willen und seinen persönlichen Entscheidungen in einer Situation extremer materieller Not befände (EuGH, U. v. 19.3.2019 – Ibrahim, C-297/17 u.a. – juris Rn. 93 f.; U. v. 19.3.2019 – Jawo, C-163/17 – juris Rn. 95; VG Ansbach, U. v. 21.5.2021 – AN 17 K 18.50704 – BeckRS 2021, 12738, Rn. 22).
55
Dafür genügt es nicht, dass in dem Mitgliedstaat, in dem ein neuer Antrag auf internationalen Schutz gestellt wurde, höhere Sozialleistungen gewährt werden oder die Lebensverhältnisse besser sind als in dem Mitgliedstaat, der bereits internationalen Schutz gewährt hat (EuGH, U. v. 19.3.2019 – Jawo, C-163/17 – juris Rn. 97; VG Ansbach, U. v. 21.5.2021 – AN 17 K 18.50704 – BeckRS 2021, 12738, Rn. 22).
56
Im Rahmen der diesbezüglich zu treffenden Prognoseentscheidung ist eine tatsächliche Gefahr („real risk“) des Eintritts der maßgeblichen Umstände erforderlich; die Gefahr einer Art. 4 GRCh bzw. Art. 3 EMRK zuwiderlaufenden Behandlung muss auf Grund aller Umstände des Einzelfalles hinreichend sicher bestehen und nicht nur hypothetisch sein (OVG RhPf, U. v. 15.12.2020 – 7 A 11038/18.OVG – BeckRS 2020, 37249, Rn. 34).
57
bb. Von anerkannt Schutzberechtigten wird in Italien ein hohes Maß an Eigenverantwortlichkeit verlangt. Grundsätzlich sind anerkannt Schutzberechtigte italienischen Staatsbürgern gleichgestellt (BFA, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Italien, Stand: 11.11.2020, S. 24). Dementsprechend wird im Rahmen des italienischen Systems bezüglich anerkannt international Schutzberechtigter angenommen, dass man ab Gewährung des Schutzstatus arbeiten und für sich selbst sorgen kann (BFA, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Italien, Stand: 11.11.2020, S. 22 f.).
58
Asylberechtigte und subsidiär Schutzberechtigte erhalten eine Aufenthaltsgenehmigung für fünf Jahre (BFA, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Italien, Stand: 1.7.2022, S. 29). Sie können nach Italien einreisen und sich frei im Land bewegen, erhalten jedoch bei einer Rückkehr nach Italien keine Unterstützung bei der Suche nach einer Unterkunft, bei der Erneuerung verlorengegangener Papiere oder bei der Erneuerung der Registrierung im nationalen Gesundheitssystem (SFH, Aufnahmebedingungen in Italien, Stand: Januar 2020, S. 49).
59
Sofern eine Person in Italien einen internationalen Schutzstatus erhalten hat, hat sie grundsätzlich Zugang zu den Zweitaufnahmeeinrichtungen (SAI (Sistema di accoglienza e integrazione – Aufnahme und Integrations-System), vormals SIPROIMI), die von lokalen Behörden zusammen mit zivilgesellschaftlichen Akteuren betrieben werden, und dementsprechend Anspruch auf Unterkunft und Versorgung (BFA, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Italien, Stand: 1.7.2022, S. 20 f.; AIDA, Country Report: Italy, 2022 Update, S. 235f.). Das System der Zweitaufnahmeeinrichtungen in Italien besteht dabei aus 934 kleineren Projekten mit einer Gesamtkapazität von derzeit 43.923 Unterbringungsplätzen (Stand Februar 2023, vgl. AIDA, Country Report: Italy, 2022 Update, S. 236; gegenüber 35.898 Unterbringungsplätzen im April 2022, vgl. AIDA, Country Report: Italy, 2021 Update, S. 214). In diesen Aufnahmeprojekten werden insgesamt 6.299 Unterbringungsplätze für unbegleitete Minderjährige und 803 Plätze für physisch oder psychisch erkrankte Personen vorgesehen (AIDA, Country Report: Italy, 2022 Update, S. 236). Im Jahr 2021 waren 42.464 Schutzberechtigte in den Aufnahmeeinrichtungen untergebracht (AIDA, Country Report: Italy, 2022 Update, S. 236). Die Überwachung und Koordination der Einrichtungen erfolgt durch den Servizio Centrale (Zentralservice), an welchen auch die Anträge zur Unterbringung in einer solchen Zweitaufnahmeeinrichtung gerichtet werden müssen (vgl. SFH, Aufenthaltsbedingungen in Italien, Stand: Januar 2020, S. 54 f.). Die Plätze in den Einrichtungen sind beschränkt, es gibt keine Wartelisten. Anträge auf die Aufnahme in einem Projekt können nicht durch die betroffenen Personen selbst, sondern nur durch deren anwaltliche Vertretung oder die zuständige Behörde gestellt werden (vgl. SFH/Pro Asyl, Rücknahme und Unterstützung von Personen mit internationalem Schutzstatus v. 29.10.2020, S. 2). Sofern die betroffene Person einen Anspruch auf die Unterbringung in einem Projekt hat, wird nach Stellung des entsprechenden Antrags bei dem Servizio Centrale durch diesen ein freier Platz in einem der Projekte gesucht und die Person dort einquartiert (SFH, Aufenthaltsbedingungen in Italien, Stand: Januar 2020, S. 54 f.; ACCORD, Anfragebeantwortung zu Italien: Rücknahme u. Unterstützung v. Personen mit in Italien zuerkanntem int. Schutzstatus, insb. von Familien m. Kindern; Auswirkungen der Corona-Pandemie v. 18.09.2020, S. 8).
60
Die meisten dieser Zweitaufnahmeeinrichtungen sind verhältnismäßig klein und beherbergen im Durchschnitt weniger als 40 Personen (vgl. SFH, Aufnahmebedingungen in Italien, Stand: Januar 2020, S. 54). In den Einrichtungen sollen Dolmetsch- und sprachlich-kulturelle Vermittlungsdienste, Rechtsberatung, Unterricht in italienischer Sprache und Zugang zu Schulen für Minderjährige, medizinische Versorgung, sozialpsychologische Unterstützung, Unterstützung bei der Suche nach Arbeitsplätzen, Beratung bei den Dienstleistungen auf lokaler Ebene um die Integration vor Ort zu ermöglichen, Informationen zu freiwilligen Rückkehrprogrammen, sowie Informationen zu Freizeit-, Sport- und Kulturaktivitäten angeboten werden (BFA, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Italien, Stand: 1.7.2022, S. 20.).
61
Die Aufenthaltsdauer in den Zweitaufnahmeeinrichtungen beträgt sechs Monate, sie kann jedoch nach der Verordnung des italienischen Innenministeriums vom 18. November 2019 in Ausnahmefällen um weitere sechs Monate verlängert werden (ACCORD, Anfragebeantwortung zu Italien: Rücknahme u. Unterstützung v. Personen mit in Italien zuerkanntem int. Schutzstatus, insb. von Familien m. Kindern; Auswirkungen der Corona-Pandemie v. 18.09.2020, S. 7). Solche Ausnahmefälle bestehen etwa, wenn eine Verlängerung des Aufenthalts für die Integration unerlässlich ist, wenn außerordentliche Umstände wie Gesundheitsprobleme vorliegen oder im Falle von besonderer Vulnerabilität (SFH, Aufnahmebedingungen in Italien, Stand: Januar 2020, S. 55). Zu diesen vulnerablen Gruppen zählen beispielsweise Alleinerziehende mit minderjährigen Kindern, schwangere Frauen, Opfer von Menschenhandel oder auch Menschen, die unter ernsthaften Krankheiten oder psychischen Störungen leiden (ACCORD, Anfragebeantwortung zu Italien: Rücknahme u. Unterstützung v. Personen mit in Italien zuerkanntem int. Schutzstatus, insb. von Familien m. Kindern; Auswirkungen der Corona-Pandemie v. 18.09.2020, S. 7).
62
Nach Ablauf des Unterbringungszeitraums wird keine staatliche Anschlusslösung zur Unterbringung bereitgestellt, es gibt jedoch begrenzte Unterkunftsmöglichkeiten der Gemeinden oder, nach Ablauf einer teilweise fünfjährigen Wartezeit, auch Sozialwohnungen (SFH/Pro Asyl, Rücknahme und Unterstützung von Personen mit internationalem Schutzstatus, v. 29.10.2020, S. 2/3). Auch Notschlafunterkünfte werden durch die Gemeinden angeboten, die in der Nacht geöffnet sind und zu denen sowohl italienische Bedürftige als auch anerkannt Schutzberechtigte Zugang haben (SFH/Pro Asyl, Rücknahme und Unterstützung von Personen mit internationalem Schutzstatus, v. 29.10.2020, S. 2).
63
Italien verfügt über ein umfassendes Gesundheitssystem, das medizinische Behandlungsmöglichkeiten auf hohem Niveau bereitstellt. Da international Schutzberechtigte italienischen Staatsbürgern gleichgestellt sind, haben sie in gleichem Maße wie diese Zugang zum Gesundheitssystem (SFH/Pro Asyl, Rücknahme und Unterstützung von Personen mit internationalem Schutzstatus, v. 29.10.2020, S. 3; AIDA Country Report: Italy, 2022 Update, S. 243; BFA, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Italien, Stand: 1.7.2022, S. 16). Es ist jedoch eine vorherige Registrierung unter Vorlage einer gültigen Aufenthaltsbewilligung erforderlich. Im Zuge der Registrierung wird eine europäische Gesundheitskarte (tessera europea di assicurazi-one malattia, auch oft bezeichnet als tessera sanitaria) ausgestellt. Die Registrierung berechtigt zu folgenden Leistungen: freie Wahl eines Hausarztes bzw. Kinderarztes (kostenlose Arztbesuche, Hausbesuche, Rezepte, usw.); Geburtshilfe und gynäkologische Betreuung bei der Familienberatung (consultorio familiare) ohne allgemeinärztliche Überweisung; kostenlose Aufenthalte in öffentlichen Krankenhäusern (BFA, Länderinformation der Staatendokumentation Italien, Stand: 1.7.2022, S. 16.). In der Praxis kann es jedoch zu Verzögerungen kommen, sei es wegen der in einigen Quästuren notwendigen Zuteilung eines Steuer-Codes („codice fiscale“), der manchmal einige Zeit dauert (BFA, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Italien, Stand: 1.7.2022, S. 16), sei es deswegen, weil Voraussetzung für die Registrierung grundsätzlich eine Wohnsitzmeldung ist (domicilio), die anerkannt Schutzberechtigte häufig wegen Obdachlosigkeit nicht nachweisen können (BFA, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Italien, Stand: 1.7.2022, S. 16; SFH/Pro Asyl, Rücknahme und Unterstützung von Personen mit internationalem Schutzstatus, 29.10.2020, S. 4). Bis zur Registrierung besteht nur Zugang zu medizinischen Basisleistungen wie etwa einer Notfallversorgung, die nach Artikel 35 des Einwanderungsgesetzes (TUI) auch illegalen Migranten zusteht (BFA, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Italien, Stand: 1.7.2022, S. 16).
64
Des Weiteren haben anerkannte Flüchtlinge oder Personen mit subsidiärem Schutz in Italien Zugang zum Arbeitsmarkt, die Suche nach Beschäftigung gestaltet sich aber aufgrund der relativ hohen Arbeitslosigkeit in Italien und in Ermangelung entsprechender Sprachkenntnisse oder Qualifikationen häufig als schwierig (BFA, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Italien, Stand: 1.7.2022, S. 21). Viele Asylsuchende und Schutzberechtigte versuchen daher auf dem Schwarzmarkt Arbeit zu finden, insbesondere in der Pflege, der Hausarbeit und der Landwirtschaft (SFH/Pro Asyl, Rücknahme und Unterstützung von Personen mit internationalem Schutzstatus v. 29.10.2020, S. 5), wo sie vulnerabel für Ausbeutung sind (BFA, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Italien, Stand: 1.7.2022, S. 22).
65
Für Personen mit geringem Einkommen wurde im März 2019 das sogenannte Bürgergeld eingeführt, dessen Beantragung auch Personen mit internationalem Schutz offensteht. Die Gewährung von Bürgergeld setzt jedoch voraus, dass die Person die letzten zehn Jahre in Italien wohnhaft war (BFA, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Italien, Stand: 1.7.2022, S. 21f.). Das italienische Sozialsystem stützt sich auf traditionelle Familienstrukturen, innerhalb derer Hilfebedürftige Unterstützung durch ihr familiäres Netzwerk finden können. Im Gegensatz zu italienischen Staatsbürgern können jedoch international Schutzberechtigte selten auf ein solches Netzwerk zurückgreifen (SFH, Aufnahmebedingungen in Italien, Stand: Januar 2020, S. 109).
66
Für Kinder von anerkannt Schutzberechtigten besteht das Recht auf Schulbildung im selben Umfang wie für italienische Kinder (vgl. Raphaelswerk, Italien: Informationen für Geflüchtete, die nach Italien rücküberstellt werden, Stand 06/2020). Dabei sind Kinder im Alter von sechs bis 16 Jahren schulpflichtig (vgl. Raphaelswerk, a.a.O.).
67
Neben den staatlichen Einrichtungen existieren ferner kommunale Einrichtungen, insbesondere von den Gemeinden unterhaltene Notschlafstellen (SFH/Pro Asyl, Rücknahme und Unterstützung von Personen mit internationalem Schutzstatus, S. 2) und ein Netzwerk privater Unterbringungsmöglichkeiten, betrieben von karitativen Organisationen bzw. Kirchen, dessen Größe und Unterbringungsmöglichkeiten schwer festzustellen sind (BFA, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Italien, Stand: 9.10.2019, S. 17). Hilfsorganisationen, Kirchen und private Initiativen versuchen darüber hinaus auch andere Defizite des staatlichen Systems zu kompensieren, indem sie in begrenztem Umfang Wohnmöglichkeiten bereitstellen, Essen insbesondere an Obdachlose verteilen, Italienischkurse anbieten oder ambulante medizinische Versorgung bereitstellen (SFH/Pro Asyl, Rücknahme und Unterstützung von Personen mit internationalem Schutzstatus, v. 29.10.2020, S. 7).
68
cc. Im Hinblick auf den Antragsteller ist zunächst festzustellen, dass es sich bei ihm um einen gesunden und arbeitsfähigen Mann handelt, der alleine reist. Im Falle einer Anerkennung als anerkannt Schutzberechtigter würde er in Italien eine Aufenthaltserlaubnis erhalten und könnte arbeiten. Zudem würde für ihn Zugang zum italienischen Gesundheitssystem bestehen. Schließlich könnte er für sechs Monate in einer Unterkunft des SAI-Systems untergebracht werden und die dort angebotenen Integrationsleistungen nutzen. Zwar sind sechs Monate ein vergleichsweise kurzer Zeitraum, um die italienische Sprache zu erlernen, es besteht aber für das Gericht im relevanten Zeitpunkt der vorliegenden Entscheidung (§ 77 Abs. 1 Satz 1 AsylG) keine überwiegende Wahrscheinlichkeit für die Annahme, dass es dem Antragsteller in Italien nicht gelingen wird, sich zu integrieren, sowie unter Einsatz seiner Arbeitskraft dort ein, wenn auch geringes, Einkommen zu erwirtschaften. Es ist nicht ersichtlich, dass der Antragsteller in Italien unverschuldet in eine Situation geraten wird, die nach der oben zitierten Rechtsprechung des EuGH nicht mit Art. 4 GRCh bzw. Art. 3 EMRK vereinbar ist.
69
Der Einzelrichter verkennt nicht, dass es für den Antragsteller in Italien aufgrund des dortigen Systems und verglichen mit den Verhältnissen in der Bundesrepublik Deutschland mit erheblichen Schwierigkeiten verbunden sein kann, sich eine Existenz zu schaffen und zu erhalten.
70
Der Antragsteller wird jedenfalls nach einem Aufenthalt in den SAI jede angebotene Erwerbstätigkeit annehmen müssen, auch Tätigkeiten, die mit sehr schwerer körperlicher Arbeit verbunden und schlecht bezahlt sind. Auch die Tatsache, dass der Antragsteller anders als italienische Staatsbürger nicht über ein Unterstützungsnetzwerk verfügt, wird den Antragsteller in Italien vor Probleme stellen. Dennoch ist es nicht so, dass ihm die Schaffung einer Existenzgrundlage durch den Einsatz seiner Arbeitskraft unmöglich gemacht würde. Vielmehr liegen die Grundvoraussetzungen wie ein Aufenthaltsrecht und die Arbeitserlaubnis vor, auch gewisse Integrationsleistungen werden erbracht, so dass sich der Antragsteller in zumutbarer Weise eine Lebensgrundlage schaffen und erhalten kann. Daneben existieren Unterstützungsleistungen von zivilgesellschaftlicher Seite, die ebenfalls zu berücksichtigen sind (BVerwG, U.v. 7.9.2021 – 1 C 3.21 – juris).
71
3. Individuelle, außergewöhnliche humanitäre Gründe, die die Ausübung des Selbsteintrittsrechts nach Art. 17 Abs. 1 Dublin III-VO durch die Bundesrepublik Deutschland notwendig machen könnten, sind weder substantiiert vorgetragen noch sonst ersichtlich.
72
4. Die Abschiebungsanordnung in Ziffer 3 des streitgegenständlichen Bescheides ist auch nicht deshalb rechtswidrig, weil aufgrund der Erklärungen des italienischen Innenministeriums vom 5. und vom 7. Dezember 2022 nicht im Sinne von § 34a Abs. 1 Satz 1 AsylG feststehen würde, dass die Abschiebung des Antragstellers nach Italien durchgeführt werden kann.
73
Denn mit dem „Feststehen“ ist in § 34a Abs. 1 Satz 1 AsylG kein absolutes Feststehen im Sinne einer absoluten Sicherheit gemeint, sondern vielmehr ein nur in „relatives Feststehen“ dergestalt, dass nach dem derzeitigen Verfahrensstand und der Erkenntnislage des Bundesamts die Abschiebung mit großer Wahrscheinlichkeit durchgeführt werden kann (Bergmann in: Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 14. Aufl. 2022, § 29 AsylG, Rn. 53; Hailbronner, Ausländerrecht, Stand: Januar 2023, § 34a AsylG, Rn. 38). Bezugspunkt für die Frage, ob in diesem Sinne feststeht, dass die Abschiebung durchgeführt werden kann, ist die in Art. 29 Abs. 2 Dublin III-VO geregelte, grundsätzlich 6 Monate dauernde Überstellungsfrist. Innerhalb dieser Frist muss im obigen Sinne feststehen, dass die Abschiebung durchgeführt werden kann. Maßgeblich ist dementsprechend eine Prognose der für die Durchführung der Abschiebung zuständigen Behörden, insbesondere des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge, die auf der Grundlage der maßgeblichen tatsächlichen Umstände unter Berücksichtigung des konkreten Einzelfalls und der Verwaltungspraxis getroffen wird (Hailbronner a.a.O.).
74
Aus der Tatsache, dass es sich hier um eine Prognose der zuständigen Behörde handelt, folgt, dass die gerichtliche Kontrolle, ob die Abschiebung in diesem Sinne durchgeführt werden kann, naturgemäß eingeschränkt ist (ebenso Hailbronner, Ausländerrecht, Stand: Januar 2023, § 34a AsylG, Rn. 38). Insbesondere erfolgt durch das Verwaltungsgericht keine Vollprüfung dergestalt, dass das Gericht im einstweiligen Rechtsschutzverfahren wie vorliegend positiv feststellen müsste, dass die Abschiebung innerhalb der Überstellungsfrist durchgeführt werden kann. Eine solche Vollprüfung wäre rein faktisch bereits nicht möglich, da es dem Gericht schon an der notwendigen speziellen Fachkenntnis über die Abläufe zwischen den beteiligten Behörden der jeweiligen Mitgliedstaaten fehlt. Das Verwaltungsgericht hat für eine sachgerechte Prognose nicht die nötigen Einblicke in die einschlägige Verwaltungspraxis. Unzutreffend und damit rechtswidrig wäre die Prognose jedoch jedenfalls dann, wenn das Bundesamt weiterhin von einer Durchführbarkeit der Abschiebung ausgeht, obwohl der ersuchte Mitgliedsstaat ausdrücklich seine fehlende Übernahmebereitschaft erklärt hat oder er zwar nur vorübergehende Gründe für die fehlende Übernahmebereitschaft geltend macht, aber keinerlei Anstrengungen unternimmt, diese Probleme in den Griff zu bekommen, obwohl derartiges sowohl möglich als auch zumutbar wäre.
75
Hinzu kommt, dass die Antragsteller durch diesen eingeschränkten Prüfungsmaßstab nicht schutzlos gestellt werden: Denn wenn die von den zuständigen Behörden, insbesondere dem Bundesamt, getroffene Prognose, dass die Abschiebung innerhalb der Überstellungsfrist durchgeführt werden kann, sich schließlich nicht als zutreffend erweist, so wird der ersuchte Mitgliedstaat (hier: Deutschland) entsprechend dem Begehren des Antragstellers für seinen Asylantrag zuständig und das Verfahren wird ins nationale Verfahren übergeführt. Der Antragsteller könnte in diesem Fall also bis zum Ablauf der Überstellungsfrist freiwillig ausreisen (s.o.) und seinen unionsrechtlichen Anspruch auf Durchführung eines Asylverfahrens in Italien realisieren, nach Ablauf der Überstellungfrist würde sein Asylantrag im nationalen Verfahren in Deutschland geprüft werden.
76
Die vom Bundesamt im vorliegenden Fall getroffene Prognose, dass ausgehend vom Zeitpunkt der vorliegenden gerichtlichen Entscheidung (§ 77 Abs. 1 AsylG) eine Abschiebung des Antragstellers nach Italien innerhalb der Überstellungsfrist möglich ist, ist danach nicht zu beanstanden. Die Erklärungen des italienischen Innenministeriums vom 5. und 7. Dezember 2022 erfolgten vor dem Hintergrund einer seit dem Sommer 2022 erheblich gestiegenen Zahl von in Italien ankommenden Asylantragstellern. Dass dies zu einer vorübergehenden Überlastung des italienischen Aufnahmesystems geführt hat ist grundsätzlich nachvollziehbar. Dass Italien in der Lage ist, hierauf zu reagieren und die Aufnahmekapazitäten auszuweiten hat das Land auch in der Vergangenheit gezeigt, insbesondere in den Jahren 2018 und 2019. Daher ist die Aussage Italiens, es müssten vorübergehend Abschiebungen aufgeschoben werden („temporarily suspended“) unter Berücksichtigung des Grundsatzes des gegenseitigen Vertrauens glaubwürdig. Die Einschätzung des Bundesamts, dass innerhalb überschaubarer Zeit mit einem Wegfall dieses Hindernisses zu rechnen ist, ist daher ebenfalls schlüssig. Dass es hierzu bislang noch nicht gekommen ist ist vor dem Hintergrund auch im Jahr 2023 gestiegener Ankunftszahlen in Italien ebenfalls nicht verwunderlich.
77
Hinzu kommt, dass zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht erkennbar ist, dass Italien generell und auf unabsehbare Zeit nicht mehr bereit wäre, am Dublin-System teilzunehmen und dementsprechend auch Abschiebungen nach Italien als zuständigen Mitgliedsstaat zu akzeptieren. Eine derartige explizite Aussage existiert nicht. Eine positive Erklärung, zur Aufnahme- oder Wiederaufnahme nach der Dublin III-VO bereit zu sein, durch die italienische Republik ist nicht erforderlich, da sich diese Pflichten bereits aus der weiterhin geltenden Dublin III-VO ergeben. Unter Berücksichtigung des Grundsatzes des gegenseitigen Vertrauens ist das Gericht daher überzeugt, dass im Sinne von § 34a Abs. 1 Satz 1 AsylG feststeht, dass der Antragsteller innerhalb der Überstellungsfrist nach Art. 29 Abs. 2 Dublin III-VO nach Italien abgeschoben werden kann.
78
5. Der Abschiebungsanordnung stehen keine Abschiebungshindernisse entgegen, die bei einer Überstellung des Antragstellers nach Italien Berücksichtigung finden müssten. Dies gilt sowohl für zielstaatsbezogene Abschiebungshindernisse nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 AufenthG, als auch für inlandsbezogene Abschiebungshindernisse, welche die Antragsgegnerin im Rahmen des Erlasses einer Abschiebungsanordnung gemäß § 34a Abs. 1 Satz 1 AsylG ebenfalls zu überprüfen hat (vgl. BayVGH, B. v. 21.4.2015 – 10 CE 15.810, 10 C 15.813 – juris Rn. 4).
79
Inlandsbezogene Abschiebungshindernisse sind nicht ersichtlich. Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK bestehen nicht, denn wie bereits dargestellt droht dem Antragsteller in Italien nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine gegen Art. 3 EMRK verstoßende Behandlung. Ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG kommt ebenfalls nicht in Betracht, da nicht ersichtlich ist, dass die vom Antragsteller geltend gemachten Knieverletzungen so schwerwiegend sind, dass die Voraussetzungen dieser Bestimmung vorliegen würden.
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Im Übrigen wird auf die Begründung des streitgegenständlichen Bescheids gemäß § 77 Abs. 3 AsylG verwiesen.
81
6. Nach alldem war der Antrag in Ermangelung hinreichender Erfolgsaussichten des gegen die Abschiebungsanordnung gerichteten Rechtsbehelfs in der Hauptsache abzulehnen.
82
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO. Gerichtskosten werden nicht erhoben, § 83b AsylG.
83
Dieser Beschluss ist unanfechtbar, § 80 AsylG.