Titel:
Asylrecht (Jemen), subsidiärer Schutz, innerstaatlicher bewaffneter Konflikt
Normenkette:
AsylG § 4 Abs. 1 S. 2 Nr. 3
Schlagworte:
Asylrecht (Jemen), subsidiärer Schutz, innerstaatlicher bewaffneter Konflikt
Vorinstanz:
VG Würzburg, Urteil vom 30.11.2022 – W 5 K 22.30277
Rechtsmittelinstanz:
BVerwG Leipzig, Beschluss vom 04.10.2023 – 1 B 42.23
Fundstelle:
BeckRS 2023, 17248
Tenor
I. Die Berufung wird zurückgewiesen.
II. Der Kläger trägt die Kosten des Berufungsverfahrens. Gerichtskos¬ten werden nicht erhoben.
III. Das Urteil ist wegen der Kosten gegen Sicherheitsleistung vorläufig voll-treckbar.
IV. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
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Der Kläger begehrt über die ihm vom Verwaltungsgericht gewährte Feststellung eines Abschiebungsverbots hinaus die Zuerkennung subsidiären Schutzes wegen einer ernsthaften Bedrohung seines Lebens oder seiner Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines innerstaatlichen bewaffneten Konflikts.
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Am 25. Oktober 2021 reiste der Kläger, der am ... 1981 in Taizz / Jemen geboren und jemenitischer Staatsangehöriger ist, auf dem Landweg in die Bundesrepublik Deutschland ein und stellte am 8. Dezember 2021 einen Asylantrag. Bei seiner Anhörung vor dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt) am 8. Februar 2022 gab er im Wesentlichen an, dass es ihm allgemein um die Kriegs- und Sicherheitssituation im Jemen gehe und er zudem von einem Gläubiger bedroht worden sei.
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Mit Bescheid vom 22. März 2022 lehnte das Bundesamt den Antrag des Klägers auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft (Nr. 1), auf Asylanerkennung (Nr. 2) sowie die Gewährung subsidiären Schutzes (Nr. 3) ab. Ferner wurde festgestellt, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG nicht vorliegen (Nr. 4); dem Kläger wurde die Abschiebung in den Jemen oder einen anderen Staat, in der einreisen darf oder der zur Rückübernahme verpflichtet ist, angedroht (Nr. 5). Das Einreise- und Aufenthaltsverbot wurde angeordnet und auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung befristet (Nr. 6). Auf die vom Kläger hiergegen erhobene Klage hob das Verwaltungsgericht Nr. 4 bis 6 des Bescheids des Bundesamts vom 22. März 2022 auf und verpflichtete die Beklagte, für den Kläger ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG festzustellen; im Übrigen wurde die Klage abgewiesen. Zur Begründung wurde u.a. ausgeführt, dass aufgrund der besonderen Umstände des hiesigen Einzelfalls unter Berücksichtigung der aktuellen Sicherheitslage und der humanitären Situation im Jemen davon ausgegangen werden könne, dass der Kläger im Falle seiner Rückkehr in den Jemen nicht in der Lage sein werde, sich eine den Anforderungen des Art. 3 EMRK entsprechende Existenz zu sichern. Im Übrigen seien die Anträge des Klägers unbegründet; insbesondere drohe dem Kläger keine ernsthafte individuelle Bedrohung seines Lebens und seiner Unversehrtheit in Folge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines bewaffneten Konflikts. Zwar liege eine sehr schlechte Sicherheitslage vor, die Erkenntnismittel enthielten aber keine hinreichenden Anhaltspunkte dafür, dass alle Zivilpersonen in der in den Blick zu nehmenden Zielregion des Klägers – hier voraussichtlich die Region Aden, wo seine Ehefrau, seine frühere Ehefrau und seine Kinder aktuell lebten und wo er sich nach seiner Rückkehr aus Äthiopien im Jahr 2019 aufgehalten habe oder die von den Huthi-Milizen kontrollierte Region Sanaa – aufgrund ihrer bloßen Anwesenheit jederzeit und mit ausreichend hoher Wahrscheinlichkeit von willkürlichen Gewalthandlungen betroffen sein könnten.
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Auf den Antrag des Klägers ließ der Senat mit Beschluss vom 16. März 2023 (Az. 15 ZB 23.30092) im Hinblick auf das Urteil des Verwaltungsgerichts München vom 11. August 2022 (Az. M 17 K 22.30849) und die Senatsentscheidung vom 23. November 2022 (Az. 15 ZB 22.30980) die Berufung wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache zu und gewährte dem Kläger Prozesskostenhilfe unter Beiordnung des Klägerbevollmächtigten.
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Mit Schriftsatz vom 5. April 2023 begründete der Kläger seine Berufung. Er ist der Ansicht, dass eine Gefahrverdichtung für alle Zivilpersonen im Jemen aufgrund der hohen Zahl der Binnenflüchtlinge, der desolaten medizinischen Lage, der Behinderung der humanitären Hilfe durch die Konfliktparteien, der Aggression der Konfliktparteien gegen Zivilpersonen und die zivile Infrastruktur sowie zivile Objekte, der Missachtung von medizinischen Einrichtungen bei der Kriegsführung, der Verschlimmerung der Nahrungsmittelunsicherheit sowie der Mangelernährung durch Verminung landwirtschaftlicher Nutzflächen sowie des Einsatzes von Hunger als Kriegswaffe gegeben sei. Die bloße Hoffnung, dass es durch aktuelle Gespräche zwischen den Huthis und Saudi-Arabien zu einer Beendigung des Krieges kommen könnte, genüge nicht. Die medizinische Versorgung als auch die Ernährungssicherheit sei aufgrund des langjährigen Krieges als auch der zahlreichen Konfliktlinien zwischen unterschiedlichsten Gruppierungen nach wie vor katastrophal.
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unter teilweiser Abänderung des Urteils des Verwaltungsgerichts Würzburg vom 30. November 2022 die Beklagte unter entsprechender Aufhebung des Bescheides vom 15. Februar 2022 zu verpflichten, dem Kläger den subsidiären Schutzstatus zuzuerkennen.
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Die Beklagte hat keinen Antrag gestellt, hält die Berufung aber für unbegründet.
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Die Situation habe sich zwischenzeitlich zu Ungunsten des Klägers entwickelt. Zwar steige seit dem Ende des Waffenstillstands die Zahl der Binnenvertriebenen wieder, in der Gesamtschau sei jedoch eine verbesserte Lage im Jemen im Vergleich zu der Zeit vor dem Waffenstillstand feststellbar. Das Risiko, im gesamten Jemen durch willkürliche Gewalt infolge eines bewaffneten Konflikts Schaden zu erleiden, liege zwischenzeitlich unterhalb der Schwelle der erforderlichen beachtlichen Wahrscheinlichkeit. Der Waffenstillstand habe Verbesserungen hinsichtlich des Zugangs zu humanitärer Hilfe und wirtschaftlichen Möglichkeiten für die Zivilgesellschaft gebracht. Trotz schwer zu prognostizierendem und volatilem Zustand, zeichne sich aus der Berichtslage aktuell eine Entwicklung und Situation ab, bei der von einem voll ausgewachsenen Krieg nicht ausgegangen werden könne.
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Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstands wird auf die Gerichts- und Behördenakten sowie auf die zum Gegenstand des Verfahrens gemachten Erkenntnisquellen verwiesen.
Entscheidungsgründe
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Die zulässige Berufung, über die mit Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung entschieden wird (§ 125 Abs. 1, § 101 Abs. 2 VwGO), hat keinen Erfolg. Der Kläger hat über die vom Verwaltungsgericht zugesprochene Feststellung eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 AufenthG hinaus zu dem für die Beurteilung der Sach- und Rechtslage maßgeblichen Zeitpunkt (§ 77 Abs. 1 Satz 1 Halbs. 2 AsylG) keinen Anspruch auf Zuerkennung subsidiären Schutzes gem. § 4 Abs. 1 Satz 1 und 2 Nr. 3 AsylG, § 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO.
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Ein Ausländer ist subsidiär schutzberechtigt, wenn er stichhaltige Gründe für die Annahme vorgebracht hat, dass ihm in seinem Herkunftsland ein ernsthafter Schaden droht (§ 4 Abs. 1 Satz 1 AsylG). Nach § 4 Abs. 1 Satz 2 AsylG gelten als ernsthafter Schaden die Verhängung oder Vollstreckung der Todes straße (Nr. 1), Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung (Nr. 2) sowie eine ernsthafte individuelle Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit einer Zivilperson infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts (Nr. 3). Nach dem im verwaltungsgerichtlichen Verfahren sowie beim Bundesamt erfolgten Vortrag des Klägers sowie dem in der Berufung eingeschränkten Vorbringen ist hier ausschließlich eine drohende individuelle und konkrete Gefahr eines ernsthaften Schadens i.S.d. § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG relevant und streitig.
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Im Jemen besteht seit 2014 ein innerstaatlicher bewaffneter Konflikt i.S.d. § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG (vgl. VG Saarland, U.v. 16.3.2023 – 3 K 801/21 – juris Rn. 18 ff.). Es fehlt jedoch inzwischen und aktuell (§ 77 Abs. 1 Satz 1 Halbs. 2 AsylG) an einer ernsthaften individuellen Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit einer Zivilperson infolge des Konflikts im Jemen.
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1. Bei der Feststellung, ob eine „ernsthafte individuelle Bedrohung“ im Sinne von § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG bzw. Art. 15 Buchst. c der RL 2011/95/EU vorliegt, ist eine umfassende Berücksichtigung aller relevanten Umstände des Einzelfalls, insbesondere derjenigen, die die Situation des Herkunftslands des Klägers kennzeichnen, erforderlich. Konkret können auch insbesondere die Intensität der bewaffneten Auseinandersetzungen, der Organisationsgrad der beteiligten Streitkräfte und die Dauer des Konflikts als Faktoren berücksichtigt werden, die bei der Beurteilung der tatsächlichen Gefahr eines ernsthaften Schadens im Sinne von Art. 15 Buchst. c der RL 2011/95/EU zu berücksichtigen sind, ebenso wie andere Gesichtspunkte, etwa das geografische Ausmaß der Lage willkürlicher Gewalt, der tatsächliche Zielort des Klägers bei einer Rückkehr in das betreffende Land oder Gebiet und die Aggression der Konfliktparteien gegen Zivilpersonen, die eventuell mit Absicht erfolgt (EuGH, U.v. 10.6.2021 – C-901/19 –, juris Rn. 42 ff.; SächsOVG, U.v. 12.10.2022 – 5 A 78/19.A – juris Rn. 29; BVerwG, U.v. 20.5.2020 – 1 C 11.10 – juris Rn. 18 ff.).
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2. Sowohl die politische als auch die Sicherheitslage im Jemen und insbesondere in der Region Aden, in der die Ehefrau, die frühere Ehefrau und die Kinder des Klägers leben, sowie der Region Sanaa (Hauptstadt und Gouvernement), in die der Kläger voraussichtlich zurückkehren wird (vgl. BVerwG, U.v. 20.5.2020 – 1 C 11.19 – juris Rn. 17), stellt sich insgesamt ausgesprochen volatil dar.
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Jemen liegt im Südwesten der Arabischen Halbinsel, grenzt im Westen an das Rote Meer, im Süden an den Indischen Ozean (Golf von Aden), im Osten an Oman sowie im Nordosten und Norden an Saudi-Arabien. Die Hauptstadt des Landes ist Sanaa; es gibt 21 Gouvernements und einen Hauptstadtbezirk.
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Der bewaffnete Konflikt zwischen Huthi-Rebellen und der Regierung und ihren Unterstützern dauert nach wie vor an. Es kommt immer wieder zu Kämpfen zwischen diesen Gruppen in den südlichen Provinzen Abyan, Shabwai sowie vereinzelt in Aden selbst. Daneben kommt es auch in Taizz immer wieder zu Kämpfen.
Teile des Landes sind von täglichen Bombardierungen, Raketenangriffen und Kampfhandlungen am Boden betroffen. Nach Angaben der Vereinten Nationen hat der Konflikt seit März 2015 eine erhebliche Anzahl ziviler Opfer gefordert.
Die weiterhin fortdauernden Kampfhandlungen stellen für die Zivilbevölkerung weiterhin eine erhebliche Gefährdung dar. Ein Ende des Jemen-Konflikts ist nicht absehbar. Die staatlichen Institutionen sind landesweit nur noch sehr eingeschränkt funktionsfähig. Bereits im September 2014 hatten Milizen der schiitisch-zaiditischen Huthi-Bewegung die Kontrolle über weite Landesteile, darunter auch die Hauptstadt Sanaa, übernommen und auch Teile der Sicherheitskräfte unter ihre Kontrolle gebracht. Die staatlichen Sicherheitsorgane sind nur bedingt funktionsfähig und können im Einzelfall keinen ausreichenden Schutz garantieren. Die südjemenitische Bewegung („al-hirak al-ganubi“) strebt die Unabhängigkeit bzw. Autonomie des seit 1990 mit dem Nordjemen vereinigten Südens an. Es kommt weiterhin sehr rasch zu Versorgungsengpässen und Massendemonstrationen, zum Teil verbunden mit gewaltsamen Ausschreitungen. Die Spannungen zwischen Nord- und Südjemen und die zunehmende Fragmentierung des Landes tragen zur Instabilität des Landes bei (vgl. Auswärtiges Amt [AA], Reise- und Sicherheitshinweise, Stand 27.6.2023; vgl. zur Historie im Jemen insgesamt: VG Saarland, U.v. 16.3.2023 – 3 K 801/21 – juris Rn. 20 ff.; Schleswig-Holsteinisches VG, GB.v. 20.3.2023 – 9 A 54/22 – juris Rn. 21 ff.; VG München, U.v. 13.6.2022 – M 17 K 19.34182 – juris Rn. 35 ff.; Bundesverwaltungsgericht Republik Österreich, E.v. 27.4.2023 – W 215 2251798-1/22 E – EA S. 7 ff. – abrufbar im Rechtsinformationssystem des Bundes www.ris.bka.gv.at/Bvwg/; Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Österreich, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Yemen, Stand 17.12.2021). In der Vergangenheit wurde für den Jemen insgesamt ein hohes Risiko gesehen, dass sich die Lage weiter verschlechtert (vgl. Bundesamt für Migration und Flüchtlinge [BAMF], Briefing Notes v. 22.3.2021). Auch während des gesamten Jahres 2022 kam es zu einer alarmierenden Zunahme von Angriffen auf humanitäre Einrichtungen und Gewalt gegen das Personal von Hilfsorganisationen durch die Konfliktparteien. Deshalb kam es in mehreren Gouvernements zu einer vorübergehenden Aussetzung der Hilfslieferungen (vgl. Amnesty International [AI], Yemen 2022, Stand 28. März 2023).
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3. Zwischenzeitlich und aktuell (§ 77 Abs. 1 Satz 1 Halbs. 2 AsylG) fehlt es allerdings ohne das Hinzutreten gefahrerhöhender individueller Umstände im Jemen und insbesondere in den Regionen Aden und Sanaa an einer ernsthaften individuellen Bedrohung des Lebens oder Unversehrtheit von Zivilpersonen infolge des Konflikts. Ein derart hoher Gefahrengrad, dass praktisch jede Zivilperson allein aufgrund ihrer Anwesenheit in dem betroffenen Gebiet einer ernsthaften individuellen Bedrohung ausgesetzt wäre, was ein besonders hohes Niveau willkürlicher Gewalt erfordert (vgl. BVerwG, U.v. 20.5.2020 – 1 C 11.19 – juris Rn. 21), liegt derzeit nicht vor.
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Am 2. März 2022 trat ein von der UN vermittelter Waffenstillstand in Kraft, der nach Verlängerung am 2. Juni 2022 und am 2. August 2022, am 2. Oktober 2022 auslief. Zwar kam der innerstaatliche bewaffnete Konflikt im Jemen während der Waffenruhe nicht vollständig zum Erliegen. Dennoch führte der Waffenstillstand zu einer signifikanten Reduzierung der Intensität des Konflikts und der Zahl an Opfern (UNICEF Yemen Humanitarian Situation Report 2022). Die Zahl an Opfern des Konflikts während des Waffenstillstands war durchgehend auf dem niedrigsten Stand seit Januar 2015 und auch hinsichtlich der katastrophalen humanitären Situation brachte der Waffenstillstand Verbesserungen, insbesondere hinsichtlich des Zugangs zu humanitärer Hilfe und wirtschaftlichen Möglichkeiten für die Zivilbevölkerung (vgl. Schleswig-Holsteinisches VG, GB.v. 20.3.2023 – 9 A 54/22 – juris Rn. 34 ff. m.w.N.). Luftangriffe oder größere Militäroperationen fanden nicht statt, auch wenn Frontgebiete weiter von niedrigschwelligen Zusammenstößen betroffen waren (UN Office for the Coordination of Humanitarian Affairs [OCHA], Humanitarian Update Yemen, 26.2.2023). Die Gesamtzahl der Todesfälle pro Jahr bei Schlachten, Explosionen, Fremdgewalt und Gewalt gegen Zivilisten, die in den Jahren 2015 – 2017 zwischen 17.000 und 15.000 und in den Jahren 2018 bis 2021 zwischen 18.000 und 34.000 lag, sank im Jahr 2022 auf rund 6.000. Die Zahl der Ziviltoten bei Schlachten, Explosionen, Fremdgewalt und Gewalt gegen Zivilisten lag in den Jahren 2015 bis 2019 zwischen rund 4.500 und rund 1.300, während die Anzahl ziviler Opfer 2022 von 1.095 im ersten Quartal auf je rund 480 im zweiten und dritten Quartal sank (vgl. Schleswig-Holsteinisches VG, GB.v. 20.3.2023 – 9 A 54/22 – juris Rn. 39 m.w.N.).
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Folgen des Waffenstillstands waren nicht nur ein Rückgang der Kämpfe, der zivilen Opfer und der Vertriebenen, sondern auch die Ermöglichung von Treibstoffeinfuhren und kommerziellen Flügen (vgl. Commissioner General for Refugees and stateless Persons, COI-Fokus Jemen, Sicherheitslage, 28.11.2022; UNICEF, Yemen Humanitarian Situation Report, 31.12.2022) sowie die Erleichterung der Bewegungsfreiheit (vgl. UN OCHA, Humanitarian Update Yemen, 26.2.2023). Zwar stieg seit Ende des Waffenstillstands die Zahl der Binnenvertriebenen wieder (vgl. UN OCHA, Humanitarian Update Yemen, 26.2.2023). Am 9. April 2023 fanden jedoch Friedensverhandlungen zwischen den Huthis und Vertretern Saudi-Arabiens unter Vermittlung Omans in Sanaa statt, deren Ziele u.a. die Erneuerung des im Oktober ausgelaufenen Waffenstillstands, eine Aufhebung der saudischen Luft- und Seeblockade sowie das Ende der Besatzung von Taizz durch Huthi-Streitkräfte waren. Auch wenn diese Verhandlungen am 14. April 2023 ohne konkrete Ergebnisse endeten, wurden Berichten zufolge jedoch Fortschritte erzielt (BAMF, Briefing Notes, 17.4.2023). Am 17. Juni 2023 startete erstmals seit 2016 wieder ein Flug mit jemenitischen Pilgerinnen und Pilgern nach Saudi-Arabien, um die Hajj-Pilgerreise nach Mekka zu vollziehen (BAMF, Briefing Notes, 26.6.2023).
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Selbst wenn diese Bemühungen und Fortschritte noch zu keiner unmittelbaren Beendigung der Konflikte und Lösungen führen und nicht ausreichen, um einen stabilen und dauerhaften Frieden zu sichern (vgl. Fluchtgrund, Verhandlungen im Jemen machen den 4,5 Millionen Geflüchteten Hoffnung, 7.6.2023), ist in der Gesamtschau gegenüber der Zeit vor dem Waffenstillstand im März 2022 eine deutlich verbesserte Lage im Jemen feststellbar. Nach wie vor besteht eine humanitäre Notlage und ist die medizinische Versorgung eingeschränkt sowie die Ernährungssicherheit im Jemen katastrophal (vgl. UN-News, Yemen health system ‚edging closer to collapse‘ warns WHO, 21.4.2023; BAMF, Briefing Notes, 5.6.2023 und 26.6.2023). Gleichwohl ist die Situation nicht (mehr) unmittelbar auf Kriegs- und Kampfhandlungen zurückzuführen. An der Front kommt es nur noch zu Scharmützeln (vgl. Frankfurter Allgemeine Zeitung [FAZ], Ein Wirtschaftskrieg im Jemen, 27.6.2023) und es kam nach Auslaufen des Waffenstillstands zu keinen großflächigen Kämpfen mehr (BAMF, Briefing Notes, 27.3.2023). Auch wenn nach wie vor die Sorge besteht, die Gewalt könnte irgendwann wieder aufflammen, liegt derzeit vielmehr eine „wirtschaftliche Kriegsführung“, die als „politische Waffe“ eingesetzt wird, vor. Hauptprobleme sind die wirtschaftliche Misere, der fortschreitende Währungsverfall, die Preissprünge und Stromausfälle (vgl. FAZ v. 27.6.2023). Aber auch hier gibt es Fortschritte gegenüber den vergangenen Kriegsjahren. So konnte beispielsweise am 25. Februar 2023 erstmals seit 2016 ein Frachter mit kommerziellen Gütern den Hafen von Hodeiah anlaufen (BAMF, Briefing Notes, 27.2.2023). Zur Anzahl der Opfer und zur Schwere der Schädigungen lassen sich aus den Erkenntnismitteln zwar keine konkreten und systematischen Angaben entnehmen. Insgesamt zeigt sich allerdings eine deutlich rückläufige Zahl der zivilen Opfer (s.o.). Auch unter Einbeziehung der schlechten medizinischen Versorgungslage und der sonstigen Umstände (vgl. BVerwG, U.v. 17.11.2011 – 10 C 13.10 – juris Rn. 23; EuGH, U.v. 10.6.2021 – C-901/19 – juris Rn. 45), die die wirtschaftliche, humanitäre und politische Situation im Jemen kennzeichnen, liegt das Risiko, im gesamten Jemen und in den o.g. genannten Gebieten, durch willkürliche Gewalt infolge eines bewaffneten Konflikts Schaden zu erleiden, zwischenzeitlich und aktuell (§ 77 Abs. 1 Satz 1 Halbs. 2 AsylG) unter der Schwelle der erforderlichen beachtlichen Wahrscheinlichkeit.
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Individuelle gefahrerhöhenden Umstände, die zu einer anderen Bewertung führen könnten (vgl. BVerwG, U.v. 20.5.2020 – 1 C 11.10 – juris Rn. 20), sind nicht ersichtlich. Solche sind weder geltend gemacht, noch ergeben sie sich aus dem klägerischen Vortrag im Laufe des behördlichen und gerichtlichen Verfahrens.
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Das Verwaltungsgericht hat in seinem Urteil vom 30. November 2022 unter Abweisung der Klage im Übrigen die Beklagte verpflichtet, für den Kläger ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG festzustellen. Da die Berufung seitens des Klägers auf die Zuerkennung subsidiären Schutzes beschränkt ist, sind darüberhinausgehende Aspekte nicht Gegenstand dieses Verfahrens.
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Die Kosten des Berufungsverfahrens hat gemäß § 154 Abs. 1 VwGO der Kläger zu tragen. Das Verfahren ist nach § 83b AsylG gerichtskostenfrei.
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Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit der Kostenentscheidung ergibt sich aus § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. ZPO.
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Gründe für die Zulassung der Revision liegen nicht vor (§ 132 Abs. 2 VwGO).