Inhalt

VGH München, Beschluss v. 22.06.2023 – 24 ZB 23.30028
Titel:

Erfolgloser Antrag auf Zulassung der Berufung in einem asylrechtlichen Verfahren (Dublin Bulgarien)

Normenketten:
GRCh Art. 4
AsylG § 78 Abs. 3 Nr. 1, Abs. 4 S. 4
Leitsatz:
Für eine auf tatsächliche Verhältnisse gestützte Grundsatzrüge ist die Angabe konkreter Anhaltspunkte dafür, dass die für die Entscheidung des Verwaltungsgerichts erheblichen Tatsachen, etwa im Hinblick auf hierzu vorliegende gegensätzliche Auskünfte oder abweichende Rechtsprechung, einer unterschiedlichen Würdigung zugänglich sind (Fortführung von BeckRS 2023, 6190). (Rn. 16) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Darlegungserfordernis bei einer auf tatsächliche Verhältnisse gestützten Grundsatzrüge, Klärungsbedürftigkeit, alternative Begründung durch das Verwaltungsgericht, Zulassung der Berufung, grundsätzliche Bedeutung, tatsächliche Verhältnisse, Darlegungsanforderungen, Teufelskreislauf
Vorinstanz:
VG Ansbach, Urteil vom 14.11.2022 – AN 14 K 18.50342
Fundstelle:
BeckRS 2023, 17231

Tenor

I. Der Antrag der Beklagten auf Zulassung der Berufung wird abgelehnt.
II. Die Beklagte hat die Kosten des Zulassungsverfahrens zu tragen.

Gründe

I.
1
Die Kläger wenden sich gegen die Ablehnung ihrer Asylanträge als unzulässig.
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Die miteinander verheirateten Kläger zu 1) und 2) sind die Eltern der knapp siebenjährigen Klägerin zu 3). Die Kläger sind syrische Staatsangehörige kurdischer Volkszugehörigkeit. Sie reisten, nachdem ihnen in Bulgarien am 3. Oktober 2017 der subsidiäre Schutzstatus gewährt worden war, gemeinsam nach Deutschland ein und stellten am 6. März 2018 Asylanträge. Im ... 2019 kam ein weiteres Kind der Kläger zu 1) und 2) zur Welt, dessen Asylantrag aber bereits bestandskräftig abgelehnt wurde.
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Mit Bescheid vom 22. März 2018 lehnte die Beklagte die Asylanträge der Kläger als unzulässig ab (Nr. 1) und stellte fest, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 AufenthG nicht vorliegen (Nr. 2). Die Beklagte drohte die Abschiebung, zuvorderst nach Bulgarien, an (Nr. 3) und befristete das Einreise- und Aufenthaltsverbot gemäß § 11 Abs. 1 AufenthG auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung (Nr. 4).
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Die hiergegen erhobene Klage hatte Erfolg. Mit Urteil vom 14. November 2022 hob das Verwaltungsgericht Ansbach den Bescheid der Beklagten auf. Der Bescheid sei rechtswidrig, weil den vulnerablen Klägern nach dem strengen Maßstab das Europäischen Gerichtshofs eine Verletzung von Art. 4 GRCh und Art. 3 EMRK drohe. Dies ergebe sich im Wesentlichen daraus, dass die Kläger keine gültigen Identitätsdokumente besitzten, ohne die die Anmietung einer Wohnung nicht möglich sei, der Erhalt eines solchen Dokuments von Rechts wegen aber wiederum von der Wohnsitznahme abhänge. Da es gleichzeitig untersagt sei, die vorherige Flüchtlingsunterkunft als Wohnsitz anzugeben, könnten die Kläger den „Teufelskreis“ aus Wohnsitznahme und Erhalt eines Identitätsdokuments jedenfalls nicht auf legalem Wege durchbrechen (UA S. 9, 14 f.). Davon unabhängig gestalte sich auch die Wohnungs- und Arbeitssuche für die Kläger als vulnerabler Familienverband ohne persönliche Kontakte nach Bulgarien und ohne finanzielle Rücklagen als – sinngemäß – unzumutbar schwierig (vgl. UA S. 10, 15).
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Hiergegen beantragte die Beklagte mit Schriftsatz vom 4. Januar 2023,
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die Berufung gegen das Urteil des Verwaltungsgerichtes Ansbach zuzulassen und die Klage unter Abänderung der Entscheidung hinsichtlich der Aufhebung des Bescheids abzuweisen.
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Die Berufung sei gemäß § 78 Abs. 3 Nr. 1 AsylG zuzulassen, da das Verwaltungsgericht Ansbach mit seiner Entscheidung eine Tatsachenfrage von grundsätzlicher Bedeutung aufgeworfen habe. Es seien im Berufungsverfahren folgende zwei Tatsachenfragen zu klären:
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1. Besteht in Bulgarien für eine Familie mit minderjährigen Kindern, denen internationaler Schutz zuerkannt wurde, bei Rückkehr eine Situation, in der der Schutzbereich des Art. 4 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union bzw. des Art. 3 EMRK in einem generell nicht mehr zumutbaren Ausmaß entsprechend den vom Europäischen Gerichtshof gesetzten Maßstäben beeinträchtigt ist und damit bei einer Rückkehr nach Bulgarien die ernsthafte Gefahr einer gegen Art. 4 GRCH bzw. Art. 3 EMRK verstoßenden Behandlung droht?
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2. Ist es Antragstellern, denen internationaler Schutz in Bulgarien gewährt worden ist, mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit möglich, ihre Identitätspapiere nach Ablauf ihrer Gültigkeit bei einer Rückkehr nach Bulgarien zu verlängern bzw. neu ausstellen zu lassen?
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Die Kläger beantragten mit Schriftsatz vom 10. Februar 2023,
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den Antrag der Beklagten auf Zulassung der Berufung abzulehnen.
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Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstands wird auf die Gerichtsakten in beiden Rechtszügen und auf die vorgelegte Behördenakte verwiesen.
II.
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Der Antrag auf Zulassung der Berufung hat keinen Erfolg.
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I. Der geltend gemachte Zulassungsgrund der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache (§ 78 Abs. 3 Nr. 1 AsylG) wurde nicht den Anforderungen des § 78 Abs. 4 Satz 4 AsylG entsprechend dargelegt.
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1. Der Zulassungsgrund des § 78 Abs. 3 Nr. 1 AsylG setzt voraus, dass der Rechtsmittelführer eine konkrete und gleichzeitig verallgemeinerungsfähige Rechts- oder Tatsachenfrage formuliert und ausführt, aus welchen Gründen diese klärungsfähig und klärungsbedürftig ist sowie weshalb ihr eine über die einzelfallbezogene Rechtsanwendung hinausgehende Bedeutung zukommt (vgl. BayVGH, B.v. 9.1.2023 – 23 ZB 22.31328 – juris Rn. 2; HessVGH, B.v. 31.5.2022 – 7 A 1802/21.Z – juris Rn. 42; BayVGH, B.v. 20.2.2019 – 13a ZB 17.31832 – juris Rn. 3; Happ in Eyermann, VwGO, 16. Aufl. 2022, § 124a Rn. 72). Klärungsfähig ist die jeweils formulierte Rechts- oder Tatsachenfrage, wenn sie für die konkrete Entscheidung des Verwaltungsgerichts entscheidungserheblich war. Klärungsbedürftig ist sie, wenn dargelegt wurde, aus welchen Gründen eine obergerichtliche Klärung im Berufungsverfahren zur Erhaltung der Einheitlichkeit der Rechtsprechung oder zur Weiterentwicklung des Rechts geboten ist (vgl. Redeker in Decker/Bader/Kothe, BeckOK Migrations- und Integrationsrecht, Stand 15.4.2023, § 78 Rn. 15; Happ in Eyermann, VwGO, § 124 Rn. 36), sich also die Frage nicht ohne weiteres aus dem Gesetz beantwortet oder nicht bereits durch die Rechtsprechung geklärt ist oder bereits ergangene Entscheidungen ausreichende Anhaltspunkte zur Beantwortung der Frage geben (vgl. Happ in Eyermann, VwGO, § 124 Rn. 38). Zudem muss es möglich sein, dass die aufgeworfene Frage in einem Berufungsverfahren anders als nach den Entscheidungsgründen des angefochtenen Urteils zu entscheiden sein könnte (vgl. BayVGH, B.v. 18.6.2020 – 15 ZB 20.30954 – juris Rn. 18).
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2. Dementsprechend verlangt die Darlegung des Zulassungsgrundes der grundsätzlichen Bedeutung gemäß § 78 Abs. 4 Satz 4 AsylG zunächst die Bezeichnung einer konkreten Frage, die sowohl für die Entscheidung des Verwaltungsgerichts von Bedeutung war als auch für das Berufungsverfahren erheblich wäre (vgl. BayVGH, B.v. 14.3.2022 – 24 ZB 21.30317 – juris Rn. 4), und – bei einer auf tatsächliche Verhältnisse gestützten Grundsatzrüge – sodann für die Bejahung der Klärungsbedürftigkeit die Angabe konkreter Anhaltspunkte dafür, dass die für die Entscheidung des Verwaltungsgerichts erheblichen Tatsachen, etwa im Hinblick auf hierzu vorliegende gegensätzliche Auskünfte oder abweichende Rechtsprechung, einer unterschiedlichen Würdigung zugänglich sind. Dies setzt voraus, dass der Rechtsmittelführer die vom Verwaltungsgericht herangezogenen oder neue bzw. andere Informationen, Auskünfte, Presseberichte oder sonstige Erkenntnisquellen benennt, sie (neu) bewertet und mit ihnen begründet, inwiefern sich aus ihnen zumindest eine gewisse Wahrscheinlichkeit dafür ergibt, dass nicht die Feststellungen, Kenntnisse und Einschätzungen des Verwaltungsgerichts, sondern die gegenteiligen Bewertungen in der Zulassungsschrift zutreffend sind und es deshalb zur Klärung der sich insoweit stellenden Fragen der (gegebenenfalls neuerlichen) Durchführung eines Berufungsverfahrens bedarf. Nötig ist eine fallbezogene Auseinandersetzung mit den vom Verwaltungsgericht benannten Erkenntnisquellen. Es reicht nicht aus, lediglich Zweifel an der tatsächlichen Entscheidungsgrundlage des Urteils zu äußern oder zu behaupten, dass sich die entscheidungserheblichen Tatsachen anders darstellen als vom Verwaltungsgericht angenommen (vgl. BayVGH, B.v. 6.3.2023 – 6 ZB 23.30016 – juris Rn. 3; BayVGH, B.v. 11.2.2021 – 21 ZB 21.30181 – juris Rn. 11; BayVGH, B.v. 30.9.2020 – 23 ZB 20.31855 – Rn. 2; VGH BW, B.v. 23.4.2020 – A 4 S 721/20 – juris Rn. 11; OVG RhPf, B.v. 28.11.2019 – 6 A 11397/18 – juris Rn. 5; BayVGH, B.v. 25.1.2019 – 13a ZB 19.30064 – juris Rn. 5; BayVGH, B.v. 10.1.2018 – 10 ZB 16.30735 – juris Rn. 2 ff.).
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II. Hiervon ausgehend ist die Berufung nicht zuzulassen. Zwar formuliert die Beklagte zwei Tatsachenfragen, denen über die einzelfallbezogene Rechtsanwendung hinausgehende Bedeutung zukommt und die jedenfalls in gewissem Umfang einer einzelfallübergreifenden Beurteilung zugänglich sind. Allerdings führt die Beklagte keine ausreichende Auseinandersetzung mit den im Einzelnen getroffenen Feststellungen des Verwaltungsgerichts und der jeweils dahinterstehenden Erkenntnismittellage, soweit es um die Frage zum Zugang zu Identitätsdokumenten geht. Da das Verwaltungsgericht seine Entscheidung – alternativ („abgesehen vom Erfordernis eines Identitätsdokuments“, UA S. 10) – sowohl auf den aus seiner Sicht unmöglichen Zugang zu Identitätspapieren als auch auf die allgemeine Lage für vulnerable Familien in Bulgarien gestützt hat, genügen die breiteren Ausführungen der Beklagten zur allgemeinen Lage in Bulgarien nicht, um dem Zulassungsantrag zum Erfolg zu verhelfen.
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1. Die auf die Darlegung der Klärungsbedürftigkeit zielenden Ausführungen der Beklagten (im Wesentlichen auf den Seiten 5 bis 24 des Zulassungsantrags v. 4.1.2023) beinhalten – neben immer wieder eingestreuten Ausführungen zum rechtlichen Maßstab – die Darstellung einer Vielzahl von Erkenntnisquellen und vermitteln hierdurch zwar ausführlich das Bild, das die Beklagte von der tatsächlichen Lage für Asylbewerber und anerkannte Schutzberechtigte in Bulgarien hat. Die Ausführungen betreffen dabei allerdings unterschiedliche Fallgestaltungen: die getroffenen Aussagen und insbesondere die Mehrzahl der zitierten Entscheidungen beziehen sich auf nicht vulnerable Rückkehrer, denen zuvor Schutz in Bulgarien gewährt wurde, teilweise auch auf Erstantragssteller, die dem Regime der Dublin III-Verordnung unterfallen (vgl. der zitierte Gerichtsbescheid des VG Hamburg, S. 23 des Zulassungsantrags v. 4.1.2023) und auch auf Personen, deren Schutzantrag in Bulgarien abgelehnt wurde (vgl. das zitierte Urteil des VG Schwerin, S. 23 des Zulassungsantrags v. 4.1.2023).
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Es kann offenbleiben, ob infolge der angeführten (teilweise auch älteren) Erkenntnismittel und den zitierten Entscheidungen, soweit diese inhaltlich zu der vorliegenden Fallkonstellation überhaupt eine Aussage treffen, hinsichtlich der ersten Frage eine gewisse Wahrscheinlichkeit dafür spricht, dass entgegen der Auffassung des Verwaltungsgerichts davon auszugehen sein könnte, dass nach Bulgarien zurückkehrende Flüchtlingsfamilien mit kleinen Kinder in der Situation der Kläger nicht mit hinreichender Wahrscheinlichkeit im Sinne des Art. 4 GRCh einer unmenschlichen oder erniedrigender Behandlung unterworfen werden. Denn die Beklagte setzt sich mit dem das Urteil des Verwaltungsgerichts auch für sich tragenden Ansatz, dass allein wegen der fehlenden Möglichkeit einer Ausstellung von Identitätspapieren eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung droht, nicht ausreichend substantiiert auseinander.
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2. Isoliert man aus der breiten Gesamtdarstellung der Beklagten diejenigen Aspekte, die für das Verwaltungsgericht maßgeblich waren und von der zweiten Tatsachenfrage erfasst werden, so sind die Ausführungen der Beklagten knapp und beschränken sich im Wesentlichen die Seiten 5 und 6 des Zulassungsschriftsatzes.
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Das Verwaltungsgericht stützt seine Annahme, vulnerable Personen wie die Kläger als Familie mit kleinen Kindern wären von einer unmenschlichen Situation im Sinne des Art. 4 GRCh bedroht, im Wesentlichen darauf, dass diese weder zum Wohnungs- noch zum Arbeitsmarkt Zugang hätten, weil ihnen rechtlich der Weg zu einem Identitätsdokument verwehrt sei („Teufelskreislauf“). Hierzu äußert die Beklagte nur die Annahme, dass „der vom Verwaltungsgericht Ansbach beschriebene ‚Teufelskreis‘ (…) wirksam durchbrochen werden (könne). Es hätten sich auch ‚Korruptionspraktiken‘ mit fiktiven Mietkontakten und Wohnsitzen zur Erlangung der für die Anmietung einer Wohnung notwendigen Ausweispapiere etabliert, diese Praxis sei auch nicht mit Sanktionen belegt (…).“ Erkenntnisquellen werden insoweit nicht genannt, lediglich eine Entscheidung des Niedersächsischen Oberverwaltungsgerichts zitiert (vgl. S. 6 des Schriftsatzes v. 4.1.2023), die selbst aber gerade davon ausgeht, dass die dort vertretene Einschätzung, dass trotz des Teufelskreislaufs keine Obdachlosigkeit drohe, gerade „nicht auf besonders vulnerable anerkannte Schutzberechtigte wie Familien mit kleinen Kindern (…) übertragen“ werden könne (NdsOVG, U.v. 7.12.2021 – 10 LB 257/20 – juris Rn. 32).
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Auch die sich anschließende Aussage der Beklagten – die Tatsache, dass für einen verspätet gestellten Antrag auf ein Identitätspapier ein Bußgeld fällig werde, spreche dafür, „dass die Ausstellung der Identitätspapiere möglich“ sei, weil „der völlige Verlust der Möglichkeit, Identifikationspapiere auszustellen, (…) nicht mit einem Bußgeld belegt werden (würde), sondern in einer grundsätzlichen Unzulässigkeit eines erneuten Antrages resultieren“ würde – erscheint jedenfalls nicht zwingend und stellt jedenfalls keine Befassung und (Neu-)Bewertung des für seine Ansicht vom Verwaltungsgericht herangezogenen Erkenntnismittels (AIDA, Country Report: Bulgaria, 2021 Update) oder die Gegenüberstellung eines anderen Erkenntnismittels dar.
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Der Antrag der Beklagten auf Zulassung der Berufung ist daher abzulehnen.
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III. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO. Gerichtskosten werden nicht erhoben (§ 83b AsylG).
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IV. Der Beschluss ist unanfechtbar (§ 80 AsylG), mit der Ablehnung des Zulassungsantrags wird die angegriffene Entscheidung rechtskräftig (§ 78 Abs. 5 Satz 2 AsylG).