Inhalt

VGH München, Urteil v. 25.05.2023 – 24 B 22.30954
Titel:

Unzulässiger Asylantrag von in Italien anerkanntem Schutzberechtigten

Normenketten:
AsylG § 29 Abs. 1
AufenthG § 60 Abs. 5, Abs. 7
EMRK Art. 3
GRCh Art. 4
Leitsätze:
1. Liegen die Voraussetzungen des § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG vor, kann eine Unzulässigkeitsentscheidung  aus Gründen vorrangigen Unionsrechts ausnahmsweise ausgeschlossen sein. Das ist dann der Fall, wenn die Lebensverhältnisse, die den Betroffenen als anerkannt Schutzberechtigten in dem anderen Mitgliedstaat erwarten würden, ihn der ernsthaften Gefahr aussetzen würden, eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung im Sinne von Art. 4 GRCh zu erfahren (Rn. 15) (red. LS Clemens Kurzidem)
2. Die besonders hohe Erheblichkeitsschwelle zur Annahme der Gefahr einer menschenrechtswidrigen Behandlung iSv Art. 4 GRCh ist erreicht, wenn die Gleichgültigkeit der Behörden eines Mitgliedstaats zur Folge hätte, dass sich eine vollständig von öffentlicher Unterstützung abhängige Person unabhängig von ihrem Willen und ihren persönlichen Entscheidungen in einer Situation extremer materieller Not befände, die es ihr nicht erlaubte, ihre elementarsten Bedürfnisse zu befriedigen, wie insbesondere sich zu ernähren, sich zu waschen und eine Unterkunft zu finden, und die ihre physische oder psychische Gesundheit beeinträchtigte oder sie in einen Zustand der Verelendung versetzte, der mit der Menschenwürde unvereinbar wäre (BVerwG BeckRS 2022, 3830). (Rn. 17) (red. LS Clemens Kurzidem)
3. Bei der Bewertung der Lebensverhältnisse, die einen nach Italien zurückkehrenden anerkannten Flüchtling erwarten, ist neben den staatlichen Unterstützungsleistungen und seinen etwaigen Möglichkeiten, den eigenen Lebensunterhalt durch Erwerbstätigkeit auf einem Mindestniveau zu sichern, auch eine Sicherung menschenwürdiger Existenz durch – alleinige oder ergänzende – dauerhafte Unterstützungs- oder Hilfeleistungen von vor Ort tätigen nichtstaatlichen Institutionen oder Organisationen zu berücksichtigen. Deshalb kann der Umstand, dass der betreffenden Person bezogen auf die Unterkunft ein Schlafplatz in einer von Kirchen, Nichtregierungsorganisationen oder Privatpersonen gestellten Notunterkunft oder in einer staatlich geduldeten „informellen Siedlung“ zur Verfügung steht, genügen, sofern die zur Verfügung gestellten Räumlichkeiten zumindest zeitweilig Schutz vor den Unbilden des Wetters bieten und Raum für die notwendigsten Lebensbedürfnisse lassen (BVerwG BeckRS 2022, 3830). (Rn. 19) (red. LS Clemens Kurzidem)
4. Arbeitsfähige Schutzberechtigte sind bei ihrer Rückkehr nach Italien regelmäßig in der Lage, ihr wirtschaftliches Existenzminimum durch Aufnahme einer Erwerbstätigkeit, gegebenenfalls unter Zuhilfenahme von Hilfsangeboten von kirchlichen oder Nichtregierungsorganisationen zur Überwindung von Anfangsschwierigkeiten, zu erwirtschaften. Ihnen ist es dabei zumutbar, auch Tätigkeiten auszuüben, für die es keine Nachfrage auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt gibt, die nicht überkommenen Berufsbildern entsprechen und die nur zeitweise, etwa zur Deckung eines kurzfristigen Bedarfs, beispielsweise während der Touristensaison oder Erntezeit, ausgeübt werden können, selbst wenn diese im Bereich der sogenannten „Schatten- oder Nischenwirtschaft“ angesiedelt sind (BVerwG BeckRS 2022, 1802). (Rn. 39) (red. LS Clemens Kurzidem)
5. Eine Erkrankung an Hepatitis B rechtfertigt im Hinblick auf Italien kein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 S. 1 AufenthG. (Rn. 47 – 49) (red. LS Clemens Kurzidem)
Schlagworte:
Asylrecht, Sekundärmigration (Italien), anerkannt Schutzberechtigter, drohende Obdachlosigkeit, Sicherung des Lebensunterhalts, äthiopischer Staatsangehöriger, anerkannter Schutzberechtigter, Sekundärmigration, Italien, unzulässiger Asylantrag, Lebensunterhaltssicherung, Abschiebungshindernis, Erkrankung, Hepatitis B, Tatsachenrevision
Vorinstanz:
VG Regensburg, Urteil vom 23.05.2022 – RO 15 K 20.30617
Fundstelle:
BeckRS 2023, 17223

Tenor

I.    Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Regensburg vom 23. Mai 2022 – RO 15 K 20.30617 – wird zurückgewiesen.
II.    Der Kläger trägt die Kosten des Berufungsverfahrens.
III.    Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar. Der Kläger darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht die Beklagte vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.
IV.    Die Revision wird gemäß § 78 Abs. 8 AsylG zugelassen.

Tatbestand

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Der 1996 geborene Kläger, äthiopischer Staatsangehöriger aus dem Volk der Oromo und islamischen Glaubens, reiste erstmalig am 25. Juli 2016 auf dem Landweg in die Bundesrepublik Deutschland ein. Seinen am 15. August 2016 gestellten Asylantrag lehnte das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt) mit Bescheid vom 10. Januar 2017 als unzulässig ab. Der Kläger wurde am 23. Mai 2017 auf dem Luftweg nach Italien (Rom/Fiumincino) überstellt.
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Der Kläger reiste am 7. Januar 2020 auf dem Landweg erneut in die Bundesrepublik ein und stellte am 31. Januar 2020 einen weiteren Asylantrag. Eine EURODAC-Abfrage vom 31. Januar 2020 erbrachte einen Treffer für Italien mit eingetragener Antragstellung am 23. Mai 2017 in Fi. (Kennnummer ...) sowie einen Treffer für Malta mit eingetragener Antragstellung vom 29. Mai 2019 (Kennnummer ...). Ein Wiederaufnahmegesuch vom 19. Februar 2020 nach Art. 18 Abs. 1 Buchst. b der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 (Dublin III-VO) lehnte Italien am 2. März 2020 ab und verwies darauf, dass dem Kläger in Italien eine Aufenthaltserlaubnis für den Flüchtlingsstatus (residence permit for „refugee status“), gültig bis 20. November 2022, erteilt wurde, womit das Asylverfahren abgeschlossen sei.
3
Mit Bescheid vom 17. März 2020 lehnte das Bundesamt den Antrag des Klägers als unzulässig ab (Nr. 1), stellte fest, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 AufenthG nicht vorliegen (Nr. 2) und drohte die Abschiebung nach Italien an (Nr. 3). Der Asylantrag sei gemäß § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG unzulässig, da dem Kläger in Italien internationaler Schutz gewährt worden sei.
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Die hiergegen erhobene Klage wies das Verwaltungsgericht Regensburg mit Urteil vom 23. Mai 2022 ab. Die zulässige Klage sei unbegründet, denn der Asylantrag des Klägers sei aufgrund seiner Anerkennung als Schutzberechtigter in Italien zu Recht gemäß § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG als unzulässig abgelehnt worden. Weder leide das Asylverfahren in Italien und die dortigen Aufnahmebedingungen an systemischen Mängeln noch sei davon auszugehen, dass dem Kläger als anerkannt Schutzberechtigtem bei einer Rückkehr nach Italien mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine unmenschliche oder entwürdigende Behandlung nach Art. 4 GRCh oder Art. 3 EMRK drohe. Zwar habe der Kläger angegeben, bereits in einer staatlichen Unterkunft untergebracht gewesen zu sein, die er sechs Monate nach seiner Anerkennung habe verlassen müssen. Jedoch sei nicht beachtlich wahrscheinlich, dass der Kläger bei einer Rückkehr nach Italien der Obdachlosigkeit anheimfalle. Die gesetzlich vorgesehene Aufenthaltsdauer in einer Unterkunft nach dem SAI-System könne um weitere sechs Monate verlängert werden; außerdem gebe es Notunterkünfte, in denen der Kläger zumindest einen vorübergehenden Aufenthalt nehmen könne. Der Kläger sei in Italien arbeitsberechtigt und sei auch arbeitsfähig; so habe er angegeben, hier in Deutschland in einem Lager zu arbeiten. Es sei anzunehmen, dass der Kläger in Italien trotz fehlender Berufsausbildung seinen Lebensunterhalt durch eine Hilfsarbeitertätigkeit in der Industrie, Gastronomie oder Landwirtschaft erwirtschaften könne. Der Kläger könne sich hinsichtlich der Behandlung seiner Erkrankung beim nationalen Gesundheitsdienst registrieren. Aufgrund des hohen medizinischen Standards in Italien sei anzunehmen, dass die gewöhnliche Krankheit Hepatitis B behandelt werden könne. Abschiebungsverbote bestünden nicht.
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Zur Begründung seiner vom Senat zugelassenen Berufung macht der Kläger unter Bezugnahme auf Entscheidungen des Oberverwaltungsgerichts Nordrhein-Westfalen (OVG NW, U.v. 20.7.2021 – 11 A 1674/20.A und U.v. 8.11.2021 – 11 A 782/21.A) sowie des Bundesverwaltungsgerichts (BVerwG, B.v. 27.1.2022 – 1 B 89.21) geltend, dass alleinstehende in Italien anerkannte Schutzberechtigte mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit unabhängig vom eigenen Willen und persönlichen Entscheidungen in eine Situation extremer materieller Not geraten und ihre elementarsten Bedürfnisse („Bett, Brot und Seife“) für einen längeren Zeitraum nicht befriedigen könnten. Sie seien bei Rückkehr nach Italien auf sich gestellt, ihnen komme keine besondere Unterstützung zur Sicherung ihrer mindesten Lebensbedürfnisse zu. Ihnen drohe Obdachlosigkeit, da Rückkehrern grundsätzlich kein weiteres Recht auf Unterkunft im SAI-System zustehe und auf dem privaten Wohnungsmarkt Unterkünfte kaum zugänglich und Sozialwohnungen nicht im relevanten Umfang verfügbar seien. Vorliegend sei der Kläger bereits aus der Unterkunft im Rahmen des SAI-Systems ausgewiesen worden und befinde sich seit Längerem in Deutschland, sodass davon auszugehen sei, dass kein Platz im SAI-System mehr verfügbar wäre. Der durchgehende Aufenthalt in Notschlafstätten bzw. Obdachlosenunterkünften sei ihm nicht zumutbar. Der Kläger habe keine Möglichkeit, seinen Broterwerb durch Arbeitstätigkeit auf dem formellen Arbeitsmarkt zu sichern und verfüge nicht über ausreichende Kenntnisse der italienischen Sprache. Durch das verlorene Anrecht auf Unterkunft im SAI-System sei der Anspruch des Klägers auf Zugang zu staatlichen Sozialleistungen beschränkt, das sog. Bürgergeld sei ihm nicht zugänglich. Eine ausreichende Versorgung durch Hilfsorganisationen sei nicht möglich. Hinzu komme die Erkrankung des Klägers, welche eine besondere Vulnerabilität begründe, da er seine medizinischen Bedürfnisse decken müsse.
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Der Kläger beantragt,
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das Urteil des Verwaltungsgerichts Regensburg vom 23. Mai 2022 – RO 15 K 20.30617 – zu ändern und den Bescheid des Bundesamtes vom 17. März 2020 – mit Ausnahme des vierten Satzes der Nummer 3, worin festgestellt wird, dass der Kläger nicht nach Äthiopien abgeschoben werden darf – aufzuheben, sowie festzustellen, dass zu Gunsten des Klägers Abschiebungsverbote gemäß § 60 Abs. 5 bzw. Abs. 7 AufenthG bezüglich Italiens vorliegen.
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Die Beklagte beantragt,
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die Berufung des Klägers zurückzuweisen.
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Die Berufung sei unbegründet, denn die Lebensbedingungen von Personen mit zuerkanntem Schutzstatus seien in Italien ausreichend. Außerhalb der Einrichtungen des SAI-Systems könnten diese andere staatliche Unterbringungsangebote in Anspruch nehmen. In allen größeren italienischen Städten gebe es kommunale Unterbringungsangebote (sog. CARI), welche neben Bett, Bad und drei Mahlzeiten zusätzlich soziale und medizinische Unterstützung böten. Daneben stehe ein umfassendes Angebot von NGOs mit Unterstützungsangeboten und Hilfeleistungen in Bezug auf Unterkunftsmöglichkeiten zur Verfügung. Außerhalb staatlicher Strukturen existiere in Italien ein Netzwerk privater sowie karitativer Unterbringungsmöglichkeiten, betrieben von Kirchen und Freiwilligenorganisationen. Darüber hinaus gebe es regional und kommunal zahlreiche Angebote, die temporäre Unterkunft, Versorgung und Verpflegung anböten. Neben erreichbaren Unterbringungsmöglichkeiten sei ein allgemein günstiges Arbeitsmarktumfeld feststellbar. Zwar bestünden auf dem italienischen Arbeitsmarkt Herausforderungen für anerkannt Schutzberechtigte ebenso wie für alle italienischen Staatsbürger, gleichzeitig seien verschiedene Möglichkeiten zur Beschäftigungsaufnahme bzw. Inanspruchnahme von Unterstützung und Hilfestellung vorhanden. In Bezug auf medizinische Versorgung hätten anerkannt Schutzberechtigte dieselben Rechte und Pflichten wie italienische Staatsangehörige, sobald sie sich bei dem italienischen nationalen Gesundheitsdienst registrierten.
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Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Streit- und Sachstands wird auf das Protokoll über die mündliche Verhandlung, die Gerichtsakten beider Instanzen und die vorgelegten Behördenakten Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

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Die zulässige Berufung ist unbegründet.
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I. Der Bescheid der Beklagten vom 17. März 2020 erweist sich in dem für die Beurteilung der Sach- und Rechtslage maßgeblichen Zeitpunkt der Entscheidung des Senats gemäß § 77 Abs. 1 Satz 1 Halbs. 1 des Asylgesetzes – AsylG – i.d.F. d. Bek. vom 2. September 2008 (BGBl I S. 1798), zuletzt geändert durch Artikel 1 des Gesetzes vom 21. Dezember 2022 (BGBl I S. 2817), als rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO). Der Asylantrag des Klägers ist aufgrund des bereits in Italien zuerkannten Flüchtlingsschutzes zu Recht als unzulässig abgelehnt worden. Abschiebungsverbote hinsichtlich Italien liegen nicht vor. Die erlassene Abschiebungsandrohung nach Italien und das verfügte Einreise- und Aufenthaltsverbot begegnen keinen Bedenken.
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1. Die Beklagte hat den Asylantrag zutreffend nach § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG abgelehnt. Demnach ist ein Asylantrag unzulässig, wenn ein anderer Mitgliedstaat der Europäischen Union dem Ausländer bereits internationalen Schutz im Sinne des § 1 Abs. 1 Nr. 2 AsylG gewährt hat. Das ist hier der Fall. Der Kläger hat nach seinen Angaben im November 2017 in Italien den Flüchtlingsstatus erhalten, was die italienischen Behörden mit Schreiben vom 2. März 2020 bestätigt haben. Das Berufungsvorbringen des Klägers stellt diesen Umstand nicht in Abrede. Die seitens Italien mitgeteilte Befristung bis zum 20. November 2022 bezieht sich auf die Aufenthaltserlaubnis (vgl. Mitteilung des Ministero dell’Interno vom 2.3.2020, Bl. 101 der Behördenakte: „he was granted a residence permit for ‚refugee status‘ issued by the Police Department in ROMA expiring on 20/11/2022“).
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2. Liegen die Voraussetzungen des § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG vor, kann eine Unzulässigkeitsentscheidung nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union (EuGH) aus Gründen vorrangigen Unionsrechts gleichwohl ausnahmsweise ausgeschlossen sein. Das ist der Fall, wenn die Lebensverhältnisse, die den Kläger als anerkannt Schutzberechtigten in dem anderen Mitgliedstaat erwarten würden, ihn der ernsthaften Gefahr aussetzen würden, eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung im Sinne von Art. 4 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union i.d.F. d. Bek. vom 12. Dezember 2007 (EU-Grundrechtecharta – GRCh, ABl C 303 S. 1) zu erfahren. Unter diesen Voraussetzungen ist es den Mitgliedstaaten untersagt, von der durch Art. 33 Abs. 2 Buchst. a der RL 2013/32/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zu gemeinsamen Verfahren für die Zuerkennung und Aberkennung des internationalen Schutzes i.d.F. d. Bek. vom 29. März 2013 (Asylverfahrens-RL, ABl L 180 S. 60) eingeräumten Befugnis Gebrauch zu machen, einen Antrag auf internationalen Schutz als unzulässig abzulehnen (vgl. ausdrücklich EuGH, B.v. 13.11.2019 – C-540/17 u.a., Hamed u.a. – juris Rn. 35; EuGH, U.v. 19.3.2019 – C-297/17 u.a., Ibrahim u.a. – juris Rn. 88).
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Im Zusammenhang mit der Beurteilung einer ernsthaften Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung i.S.v. Art. 4 GRCh und Art. 3 der Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten i.d.F. d. Bek. v. 22. Oktober 2010 (Europäische Menschenrechtskonvention – EMRK, BGBl II S. 1198) ist von dem Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens zwischen den Mitgliedstaaten auszugehen, der im Unionsrecht fundamentale Bedeutung hat, da er die Schaffung und Aufrechterhaltung eines Raums ohne Binnengrenzen ermöglicht. Er verlangt von jedem Mitgliedstaat grundsätzlich, dass dieser davon ausgeht, dass alle anderen Mitgliedstaaten das Unionsrecht und insbesondere die dort anerkannten Grundrechte beachten (EuGH, U.v. 19.3.2019 – C-163/17 – juris Rn. 81; U.v. 19.3.2019 – C-297/17, C-318/17, C-319/17 und C-438/17 – juris Rn. 84). Damit gilt im Kontext des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems die widerlegliche Vermutung, dass die Behandlung der Personen, die internationalen Schutz beantragen, in jedem einzelnen Mitgliedstaat in Einklang mit den Erfordernissen der Charta, der Genfer Flüchtlingskonvention und der Europäischen Menschenrechtskonvention steht. Diese Vermutung beansprucht nur dann keine Geltung, wenn systemische Schwachstellen des Asylverfahrens und der Aufnahmebedingungen für Asylbewerber in einem Mitgliedstaat ernsthafte und durch Tatsachen bestätigte Gründe für die Annahme darstellen, dass die betreffende Person im Zeitpunkt der Überstellung, während des Asylverfahrens oder nach dessen Abschluss einem ernsthaften Risiko ausgesetzt wäre, eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung zu erfahren (EuGH, U.v. 19.3.2019 – C-163/17 – juris Rn. 85 und 88; U.v. 19.3.2019 – C-297/17, C-318/17, C-319/17 und C-438/17 – juris Rn. 86f.). Verfügt das Gericht über Angaben, die der Kläger vorgelegt hat, um das Vorliegen eines solchen Risikos in dem betreffenden Mitgliedstaat nachzuweisen, so ist es verpflichtet, auf der Grundlage objektiver, zuverlässiger, genauer und gebührend aktualisierter Angaben und im Hinblick auf den durch das Unionsrecht gewährleisteten Schutzstandard der Grundrechte zu würdigen, ob entweder systemische oder allgemeine oder aber bestimmte Personengruppen betreffende Schwachstellen vorliegen (BVerwG, B.v. 27.1.2022 – 1 B 93.21 – juris Rn. 12; B.v. 17.1.2022 – 1 B 66.21 – juris Rn. 18). Es ist zu beachten, dass der anzulegende Prüfungsmaßstab im Gegensatz zu der Prüfung eines nationalen Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK (hierzu die Ausführungen unter 4.) nicht die individuellen Umstände berücksichtigt, sondern es nur darauf ankommt, ob die festgestellten Aufnahmebedingungen in allgemeiner Hinsicht regelhaft derartige Schwachstellen aufweisen, die unabhängig vom Einzelfall die Gefahr einer menschenrechtswidrigen Behandlung i.S.v. Art. 4 GRCh für nach Italien zurückkehrende anerkannt Schutzberechtigte hinreichend wahrscheinlich erscheinen lassen.
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Hierbei fallen nur solche Schwachstellen ins Gewicht, die eine besonders hohe Schwelle der Erheblichkeit erreichen. Diese ist erreicht, wenn die Gleichgültigkeit der Behörden eines Mitgliedstaats zur Folge hätte, dass sich eine vollständig von öffentlicher Unterstützung abhängige Person unabhängig von ihrem Willen und ihren persönlichen Entscheidungen in einer Situation extremer materieller Not befände, die es ihr nicht erlaubte, ihre elementarsten Bedürfnisse zu befriedigen, wie insbesondere sich zu ernähren, sich zu waschen und eine Unterkunft zu finden, und die ihre physische oder psychische Gesundheit beeinträchtigte oder sie in einen Zustand der Verelendung versetzte, der mit der Menschenwürde unvereinbar wäre (EuGH, U.v. 19.3.2019 – C-163/17 – juris Rn. 91 f m.w.N.; U.v. 19.3.2019 – C-297/17, C-318/17, C-319/17 und C-438/17 – juris Rn. 89 f.; BVerwG, B.v. 27.1.2022 – 1 B 93.21 – juris Rn. 12; B.v. 17.1.2022 – 1 B 66.21 – juris Rn. 18). Diese Schwelle ist daher selbst in durch große Armut oder eine starke Verschlechterung der Lebensverhältnisse der betreffenden Person gekennzeichneten Situationen nicht erreicht, sofern sie nicht mit extremer materieller Not verbunden sind, aufgrund derer sich diese Person in einer solch schwerwiegenden Lage befindet, dass sie einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung gleichgestellt werden kann (EuGH, U.v. 19.3.2019 – C-163/17 – juris Rn. 93; BVerwG, B.v. 27.1.2022 – 1 B 93.21 – juris Rn. 12; B.v. 17.1.2022 – 1 B 66.21 – juris Rn. 18). Ein ernsthaftes Risiko eines Verstoßes gegen Art. 4 GRCh und Art. 3 EMRK besteht nicht bereits dann, wenn nicht sicher festzustellen ist, ob im Fall einer Rücküberstellung die Befriedigung der bezeichneten Grundbedürfnisse sichergestellt ist, sondern nur für den Fall, dass die Befriedigung eines der bezeichneten Grundbedürfnisse mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit nicht zu erwarten ist und der Drittstaatsangehörige dadurch Gefahr läuft, erheblich in seiner Gesundheit beeinträchtigt zu werden oder in einen menschenunwürdigen Zustand der Verelendung versetzt zu werden (BVerwG, B.v. 27.1.2022 – 1 B 93.21 – juris Rn. 12; B.v. 17.1.2022 – 1 B 66.21 – juris Rn. 18).
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Diese Schwelle der Erheblichkeit kann in Bezug auf vulnerable Personen schneller erreicht sein als etwa in Bezug auf gesunde und arbeitsfähige erwachsene Personen, hinsichtlich derer die Feststellung, sie seien vollständig von öffentlicher Unterstützung abhängig und befänden sich unabhängig von ihrem Willen und ihren persönlichen Entscheidungen in einer Situation extremer materieller Not, im Lichte des Grundsatzes des gegenseitigen Vertrauens grundsätzlich gesteigerten Anforderungen an die Entkräftung der Vermutung der Vereinbarkeit der Behandlung solcher Personen in dem betreffenden Mitgliedstaat mit den Erfordernissen der EU-Grundrechtecharta, der Genfer Flüchtlingskonvention und der Europäischen Menschenrechtskonvention, insbesondere aus Art. 4 GRCh und Art. 3 EMRK, unterliegt (EuGH, U.v. 19.3.2019 – C-297/17, C-318/17, C-319/17 und C-438/17 – juris Rn. 93; BVerwG, B.v. 27.1.2022 – 1 B 93.21 – juris Rn. 12; B.v. 17.1.2022 – 1 B 66.21 – juris Rn. 18; U.v. 7.9.2021 – 1 C 3.21 – juris Rn. 20 und 23).
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Bei der Bewertung der Lebensverhältnisse, die den Kläger erwarten, ist neben den staatlichen Unterstützungsleistungen und seinen etwaigen Möglichkeiten, den eigenen Lebensunterhalt durch Erwerbstätigkeit auf einem Mindestniveau zu sichern, auch eine Sicherung menschenwürdiger Existenz durch – alleinige oder ergänzende – dauerhafte Unterstützungs- oder Hilfeleistungen von vor Ort tätigen nichtstaatlichen Institutionen oder Organisationen zu berücksichtigen (BVerwG, U.v. 7.9.2021 – 1 C 3.21 – juris Rn. 22). Deshalb kann etwa der Umstand, dass der betreffenden Person bezogen auf die Unterkunft ein Schlafplatz in einer von Kirchen, Nichtregierungsorganisationen oder Privatpersonen gestellten Notunterkunft oder in einer staatlich geduldeten „informellen Siedlung“ zur Verfügung steht, genügen, sofern die zur Verfügung gestellten Räumlichkeiten zumindest zeitweilig Schutz vor den Unbilden des Wetters bieten und Raum für die notwendigsten Lebensbedürfnisse lassen (BVerwG, B.v. 27.1.2022 – 1 B 93.21 – juris Rn. 14; B.v. 17.1.2022 – 1 B 66.21 – juris Rn. 20; VGH BW, B.v. 8.11.2021 – A 4 S 2850/21 – juris Rn. 10; vgl. ferner BVerwG, U.v. 7.9.2021 – 1 C 3.21 – juris Rn. 22). Im Hinblick auf die Aufnahme einer Erwerbstätigkeit ist es den Betroffenen notfalls auch zumutbar, eine wenig attraktive und ihrer Vorbildung nicht entsprechende Arbeit auszuüben, für die es keine Nachfrage auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt gibt, die nicht überkommenen Berufsbildern entspricht und die nur zeitweise, etwa zur Deckung eines kurzfristigen Bedarfs, beispielsweise während der Touristensaison, ausgeübt werden kann (vgl. BVerwG, B.v. 17.1.2022 – 1 B 66.21 – juris Rn. 29). Auch reicht der Umstand, dass die betreffende Person in dem Mitgliedstaat keine existenzsichernden Leistungen erhält, ohne jedoch anders als die Angehörigen dieses Mitgliedsstaats behandelt zu werden, regelmäßig nicht für das Erreichen der Erheblichkeitsschwelle (BVerwG, B.v. 27.1.2022 – 1 B 93.21 – juris Rn. 13; B.v. 17.1.2022 – 1 B 66.21 – juris Rn. 19).
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3. In Anlegung dieser Maßstäbe und unter Berücksichtigung der zur Verfügung stehenden Erkenntnismittel erwarten den Kläger als anerkannt Schutzberechtigten bei einer Rückkehr nach Italien zur Überzeugung des Senats gemäß § 108 Abs. 1 VwGO keine Lebensverhältnisse, die ihn der ernsthaften Gefahr aussetzen würden, eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung im Sinne von Art. 4 GRCh zu erleiden.
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a) Dem Kläger wurde in Italien unstrittig internationaler Schutz in Form des Flüchtlingsschutzes zuerkannt. Ausweislich der Erkenntnismittel erhalten international Schutzberechtigte in Italien eine Aufenthaltsgenehmigung für fünf Jahre, die auf Antrag bei Fortbestand der Voraussetzungen verlängert wird. Schutzberechtigte genießen Niederlassungsfreiheit, sie können auch einen Wohnsitz anmelden und haben Zugang zum Arbeitsmarkt und zu Sozialleistungen im selben Ausmaß wie italienische Staatsbürger (Asylum Information Database – AIDA, Country Report: Italy, Stand: 2021, S. 192, 208; Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, 10.3.2022, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Italien, S. 18, 20). Auch wenn seine Aufenthaltserlaubnis zwischenzeitlich abgelaufen sein dürfte (Gültigkeit ausweislich der Mitteilung Italiens vom 2.3.2020 bis 20.11.2022), ist es dem Kläger möglich, deren Verlängerung zu beantragen. Die Aufenthaltserlaubnis beträgt sowohl beim subsidiären Schutz als auch beim Flüchtlingsschutz fünf Jahre. Zwar muss laut Gesetz eine neue Aufenthaltsbewilligung mindestens 60 Tage vor Ablauf der Bewilligung beantragt werden, die Verlängerung des Aufenthaltstitels ist aber auch später noch möglich, bis maximal der Hälfte der Gültigkeitsdauer des Status – also 2,5 Jahre – über das Ablaufdatum hinaus (Schweizerische Flüchtlingshilfe, Anfragebeantwortung für das VG Karlsruhe vom 29.4.2022, S. 2). Die Erneuerung – oder im Falle des Verlusts die Ausstellung einer Kopie – wird durch das Ausfüllen entsprechender Formulare und deren Versand per Post an die zuständige Questura beantragt (AIDA, Country Report: Italy, Stand: 2021, S. 192). Für den Verlängerungs- bzw. Erneuerungsantrag wird zudem ein eingetragener Wohnsitz oder eine sogenannte „Erklärung der Gastfreundschaft“ benötigt („dichiarazione di ospitalita“, vgl. hierzu ACCORD, Anfragenbeantwortung zu Italien, 18.9.2020, S. 5). Eine solche Erklärung der Gastfreundschaft kann dabei insbesondere auch von Privatpersonen oder Hilfsorganisationen abgegeben werden (vgl. ACCORD, Anfragebeantwortung zu Italien, 18.9.2020, S. 5). Selbst wenn diese nicht von allen Questure anerkannt würden, hat jedoch bereits 2015 das italienische Innenministerium in einem Rundschreiben mitgeteilt, dass bei Verlängerungsanträgen von international Schutzberechtigten kein förmlicher Wohnsitznachweis gefordert werden dürfe und sogar die Angabe von fiktiven Wohnsitzen von den Questure zu akzeptieren sei (AIDA, Country Report: Italy, Stand: 2021, S. 192). Bei der Erneuerung einer Aufenthaltserlaubnis kommt es nach vorliegenden Erkenntnismitteln jedenfalls in einigen Provinzen zu ganz erheblichen Zeitverzögerungen. Dies stellt im Alltag aber in aller Regel deswegen kein Problem dar, weil Antragsteller nach der Beantragung eine Bestätigung (sog. „cedolino“) erhalten, die in allen Fällen, in denen eine Aufenthaltserlaubnis benötigt wird, vorgezeigt werden kann und allgemein akzeptiert wird (vgl. hierzu ACCORD, Anfragenbeantwortung zu Italien, 18.9.2020, S. 5).
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b) Der Kläger ist nicht vulnerabel. Er ist alleinstehend und arbeitsfähig. Er hat in der mündlichen Verhandlung ausgeführt, dass er als Lagerhelfer tätig sei. Zwar müsse er Medikamente einnehmen, da er an Hepatitis B leide, deren Therapie auf unbestimmte Zeit stattfinde. Einschränkungen oder besondere Bedürfnisse in Zusammenhang mit dieser Erkrankung wurden seitens des Klägers jedoch weder geltend gemacht noch sind sie anderweitig ersichtlich. Eine grundlegende medizinische Versorgung anerkannt Schutzberechtigter ist in Italien über die „Gesundheitskarte“ gesichert, die sie nach einer Registrierung beim nationalen Gesundheitsdienst erhalten, Mit ihr haben sie während der Dauer der Aufenthaltsberechtigung zu denselben Bedingungen wie italienische Staatsangehörige Zugang zum öffentlichen Gesundheitssystem (AIDA, Country Report: Italy, Stand: 2021, S. 221; Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, 13.3.2022, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Italien, S. 55).
23
c) Eine mit Art. 4 GRCh unvereinbare Situation extremer materiellen Not liegt jedenfalls nicht deshalb vor, weil nach Auswertung der Erkenntnismittel davon auszugehen ist, dass der Kläger mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit in die Obdachlosigkeit entlassen wird, wenn er auf sich selbst gestellt nach Italien zurückgeführt wird. Denn der Zugang zu Wohnungen für anerkannt Schutzberechtigte erweist sich als schwierig und die Kapazitäten sowohl hinsichtlich Sozialwohnungen als auch auf dem freien Wohnungsmarkt sind gering. Da rückkehrende Personen mit Schutzstatus formell italienischen Staatsbürgern gleichgestellt sind, erhalten sie keine besondere Unterstützung (Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, 1.7.2022, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Italien, S. 21). Insbesondere steht in Italien anerkannt Schutzberechtigten, die in der Bundesrepublik Deutschland erneut einen Asylantrag stellen, regelmäßig die Unterbringung innerhalb des SAI-Systems nicht (mehr) offen. Diese Umstände führen für sich genommen jedoch nicht bereits zu einer mit Art. 4 GRCh unvereinbaren Situation im Sinne einer extremen materiellen Not. Denn außerhalb von staatlichen Strukturen steht anerkannt Schutzberechtigten in Italien ein Angebot an Unterbringungs- und Unterstützungsmöglichkeiten bzw. -angeboten von Nichtregierungsorganisationen, Freiwilligenorganisationen und Kirchen zur Verfügung, deren Inanspruchnahme die Erfüllung der elementarsten Lebensbedürfnisse jedenfalls bei nicht-vulnerablen Rückkehrern ermöglicht.
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aa) Soweit die Beklagte auf eine Unterbringung des Klägers innerhalb des SAI-Systems verweist, kommt eine solche vorliegend nicht in Betracht.
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In Italien bildet das nach der Reform von 2020 entstandene Zweitaufnahmesystem „Sistema Asilo Integrazione“ (SAI) die maßgebliche Unterbringungsmöglichkeit für anerkannt Schutzberechtigte und ersetzt das unter Innenminister Salvini geschaffene SIPROIMI-System (Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, 10.3.2022, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Italien, S. 18). Die SAI-Projekte werden in der Regel gemeinsam von Kommunen und zivilgesellschaftlichen Akteuren betrieben. In den Zentren werden die Bewohner materiell und gesundheitlich versorgt, sozial und psychologisch betreut und erhalten Sprach- und landeskundlichen Unterricht. Anerkannt Schutzberechtigte erhalten zudem Unterstützung bei Integration, Arbeitssuche und beruflicher Bildung. Die reguläre Aufnahmedauer beträgt sechs Monate und kann in Ausnahmefällen verlängert werden. Nach der Gesetzesverordnung 130/2020 sollen die Personen nach dem Verlassen des SAI-Systems im Rahmen der Kapazitäten weiter behördlich bei der Integration unterstützt werden (AIDA, Country Report: Italy, Stand: 2021, S. 213 ff.).
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Aufnahmeberechtigt in den Zentren des SAI-Systems sind unbegleitete minderjährige und heranwachsende Flüchtlinge, anerkannt international Schutzberechtigte und im Rahmen der Aufnahmekapazität Asylbewerber und sonstige Aufenthaltsberechtigte. Das Recht auf Unterbringung kann entzogen werden, wenn die Hausregeln missachtet werden, der Betreffende sich gewalttätig verhält oder die Unterkunft unberechtigt länger als 72 Stunden verlassen wird (AIDA, Country Report: Italy, Stand: 2021, S. 213, 215 f.). Wenn der Betreffende vor seiner Ausreise aus Italien noch keinen Zugang zu einem SAI-Projekt bzw. einer Einrichtung nach den Vorgängervorschriften über SIPROIMI hatte, besteht grundsätzlich ein Recht auf Unterbringung in einem solchen Projekt im Rahmen der Kapazität (Schweizerische Flüchtlingshilfe und Pro Asyl, 29.10.2020, Auskunft an VGH Kassel, S. 2). Wenn eine Person dagegen früher Zugang zu einem SIPROIMI-Projekt erhalten hatte und später nach Italien rücküberstellt wird, erhält sie keinen Zugang zu SIPROIMI-Projekten mehr. Ausnahmsweise kann man beim Innenministerium einen Antrag aufgrund von neuen Vulnerabilitäten stellen (Schweizerische Flüchtlingshilfe, Januar 2020, Aufnahmebedingungen in Italien, S. 61). Dies gilt auch seit Einführung des neuen SAI-Systems (Schweizerische Flüchtlingshilfe, 10.06.2021, Aufnahmebedingungen in Italien, S. 12).
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So verhält es sich auch hier: Der Kläger wurde nach seiner Anerkennung als Schutzberechtigter in einer Unterkunft im Rahmen des SAI-Systems untergebracht, welches er nach sechs Monaten verlassen musste. Nachdem der Kläger nicht vulnerabel ist, ist davon auszugehen, dass ihm eine Rückkehr in ein SAI-Projekt aufgrund der geltenden Gesetzeslage in Italien nicht offensteht.
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bb) Anerkannt Schutzberechtigte werden nach ihrer Rückkehr voraussichtlich in absehbarer Zeit weder eine Sozialwohnung noch eine Wohnung auf dem freien Wohnungsmarkt erlangen können.
29
Anerkannt Schutzberechtigte haben grundsätzlich Zugang zu Sozialwohnungen zu den gleichen Bedingungen wie italienische Staatsangehörige. In manchen Regionen ist dieser Zugang an eine bestimmte ununterbrochene Mindestmeldezeit gebunden, wobei solche Praktiken vom italienischen Verfassungsgericht 2021 für unzulässig erklärt wurden. Wartezeiten von mehreren Jahren auf eine Wohnung sind die Regel (Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, 1.7.2022, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Italien, S. 20; AIDA, Country Report: Italy, Stand: 2021, S. 217 f). Unabhängig davon steht diesem Personenkreis in Italien auch der freie Wohnungsmarkt zur Verfügung. Vermieter verlangen oft einen Arbeitsvertrag und eine gültige Aufenthaltserlaubnis. Mieten sind im Allgemeinen sehr hoch, vor allem in den großen Städten (Raphaelswerk, Juni 2020, Italien: Information für Geflüchtete, die nach Italien rücküberstellt werden, S. 14). Der freie Wohnungsmarkt ist beschränkt, weil wegen der hohen Eigentumsquote nur etwa zehn Prozent aller Immobilien frei vermietet werden (UNHCR, Februar 2021, The refugee house, S. 7).
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cc) In Anbetracht dieser Lage droht anerkannt Schutzberechtigten, die keinen Anspruch auf Unterbringung in einer Unterkunft des SAI-Systems haben, bei einer Rückkehr nach Italien – jedenfalls in der Anfangszeit – Obdachlosigkeit, da sie mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht in der Lage sind, unmittelbar nach der Rückkehr eine Wohnung zu finden. Dennoch ist zur Überzeugung des Senats Obdachlosigkeit im Sinne einer (dauerhaften) Wohnungslosigkeit für sich genommen weder notwendige noch hinreichende Bedingung für die Annahme einer mit Art. 4 GRCh unvereinbaren Situation im Sinne einer extremen materiellen Not, da es auch in diesen Fällen grundsätzlich möglich ist, einen Lebensstandard zu halten, der noch unterhalb der Erheblichkeitsschwelle des Art. 4 GRCh liegt (so auch OVG RhPf, U.v. 27.3.2023 – 13 A 10948/22.OVG – Rn. 53 ff. mit Verweis auf VGH BW, B.v. 8.11.2021 – A 4 S 2850/21).
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Zwar kann Obdachlosigkeit im Wesentlichen dann zu einer für die Verletzung des Art. 4 GRCh hinreichenden Bedingung anwachsen, wenn die Betroffenen zusätzlich besondere Vulnerabilitäten aufweisen und/oder wenn sie in der Obdachlosigkeit auch in denjenigen Situationen auf sich selbst gestellt bleiben, in denen ihre Unterstützung zur Vermeidung einer extremen materiellen Not zwingend notwendig ist. Davon kann jedoch bei alleinstehenden und arbeitsfähigen Personen angesichts der zahlreichen Hilfsangebote verschiedener Akteure nicht ohne weitere Anhaltspunkte ausgegangen werden. Auch wenn sich die Lebenssituation und der Lebensstandard der anerkannt Schutzberechtigten bei einer Rückkehr nach Italien im Vergleich zu einem Aufenthalt in Deutschland deutlich verschlechtern, stellt dies noch keine mit Art. 4 GRCh unvereinbare Situation dar. Denn ausweislich der Erkenntnismittel können anerkannt Schutzberechtigte in privaten Notunterkünften ihre elementarsten Grundbedürfnisse decken und auf ein umfangreiches Netzwerk privater Einrichtungen zur Aufnahme von Asylbewerbern und anerkannt Schutzberechtigten, die von kirchlichen und Nichtregierungsorganisationen getragen werden, zurückgreifen. Insbesondere die Kirchen bieten in Italien ein breites Spektrum an Hilfsleistungen an. Dies betrifft namentlich die Zurverfügungstellung von (Not-)Unterkünften, Kleidung und Nahrung (AIDA, Country Report: Italy, Stand: 2021, S. 134; Schweizerische Flüchtlingshilfe und Pro Asyl, 29.10.2020, Auskunft an VGH Kassel, S. 2, 7). Viele Menschen mit internationalem Schutzstatus leben in Notunterkünften, die lediglich einen Schlafplatz anbieten und auch anderen Bedürftigen zur Verfügung stehen (Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, 1.7.2022, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Italien, S. 20). Daneben existieren zahlreiche informelle Unterkünfte (Zeltstädte, Slums, besetzte Häuser), die teilweise von Hilfsorganisationen im Hinblick auf die Grundversorgung unterstützt werden (Schweizerische Flüchtlingshilfe und Pro Asyl, 29.10.2020, Auskunft an VGH Kassel, S. 7).
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Der Kläger bestätigte mit seinem Vorbringen im Rahmen des Verwaltungsverfahrens, dass diese Erkenntnisse auch die Realität abbilden. Zwar hatte der Kläger nach seinen Angaben nach dem Verlassen der staatlichen Unterbringung keine feste Unterkunft und lebte vor seiner Ausreise ca. ein Jahr lang „auf der Straße“. In Übereinstimmung mit den obigen Feststellungen war es ihm während dieses Zeitraums aber möglich, für die Übernachtung jeweils in Obdachlosenunterkünften unterzukommen und so einen Schlafplatz zu haben, auch wenn er am nächsten Morgen die Unterkunft verlassen musste. Darüber hinaus hat er die von kirchlichen Organisationen angebotenen Essensausgaben aufgesucht.
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Aus Sicht des Senats ist es nicht-vulnerablen anerkannt Schutzberechtigten sowohl möglich als auch zumutbar, sich darüber zu informieren, an welchem Ort noch Kapazitäten bestehen und ihren Aufenthalt auch dorthin zu verlagern. Dies gilt insbesondere vor dem Hintergrund etwaiger regionaler Unterschiede bei der Verfügbarkeit und Auslastung dieser Angebote.
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d) Im Hinblick auf die Existenzsicherung geht der Senat davon aus, dass anerkannt Schutzberechtigte durch die Aufnahme einer Erwerbstätigkeit (mit) für ihren Lebensunterhalt sorgen können, was auch die Suche nach einer dauerhaften Unterkunft erleichtert.
35
aa) Personen, die als Flüchtlinge oder subsidiär Schutzberechtigte internationalen Schutz genießen, haben in Italien denselben Zugang zum Arbeitsmarkt wie Inländer. In der Praxis bestehen wegen der hohen Arbeitslosigkeit Schwierigkeiten, Arbeit zu finden. Schwarzarbeit ist weit verbreitet. Viele Zuwanderer arbeiten in der Landwirtschaft, oft unter prekären Bedingungen und sind anfällig für Ausbeutung. In Anbetracht der derzeit hohen Arbeitslosigkeit in Italien ist es für Asylsuchende und Personen mit Schutzstatus schwierig, Arbeit zu finden. Meist bleibt ihnen nur die Arbeit in der Schattenwirtschaft, wo die Gefahr der Ausbeutung ein Problem darstellt. Im Allgemeinen sind die wenigen Arbeitsplätze, die Asylsuchenden und Schutzberechtigten zur Verfügung stehen, schlecht bezahlt und befristet. Der Lohn reicht in der Regel nicht aus, um eine Wohnung zu mieten oder einer Familie ein sicheres Einkommen zu bieten. Die Situation auf dem Arbeitsmarkt hat sich im Zuge der Covid-19-Pandemie und der Verschlechterung der gesamtwirtschaftlichen Lage 2020 und 2021 zusätzlich verschärft, viele Personen mit Status, die eine Arbeit gefunden hatten, haben diese dadurch verloren (Schweizerische Flüchtlingshilfe, Aufnahmebedingungen in Italien, 10.6.2021, S. 13 f.). Die Beschäftigungsrate von Ausländern in Italien ist gleichwohl sehr hoch, sie liegt über der Beschäftigungsrate von Inländern. Der italienische Arbeitsmarkt ist aus demografischen Gründen auf Migration angewiesen. Es handelt sich jedoch zu einem großen Teil um geringqualifizierte und informelle Arbeit (RESPOND, 1.6.2020, Integration, Policies, Practices and Experiences. Italy Country Report, S. 26f.). In den vergangenen Jahrzehnten war in Italien ein dramatischer Anstieg von Schwarzarbeit, illegalen Anwerbungsmethoden und damit einhergehender Ausbeutung von ausländischen Arbeitskräften zu verzeichnen (sog. „caporalato“). Zur Bekämpfung dieser Zustände wurden bestehende Strafen verschärft und neue Straftatbestände gegen kriminelle Arbeitgeber geschaffen; der italienische Staat geht vermehrt gegen illegale Beschäftigung und Ausbeutung von Ausländern vor (RESPOND, 1.6.2020, Integration, Policies, Practices and Experiences. Italy Country Report, S. 26 und 27). So wurden zuletzt im November 2022 in der Nähe von Foggia (Apulien) fünf Personen wegen der Ausbeutung von Arbeitern bei der Tomatenernte festgenommen (Amnesty International, Report zur Lage der Menschenrechte Italien 2022).
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Über ein Drittel der Ausländer arbeitet in befristeten oder in Teilzeitverträgen. 32 Prozent der Migranten in Beschäftigung arbeiten in einem ungelernten Beruf; mehr als ein Viertel der ausländischen Beschäftigten üben persönliche Dienstleistungen wie Pflege und Betreuung aus, ein weiteres Viertel ist in Hotels und Restaurants, im Transportgewerbe, als Lagerarbeiter oder Bauarbeiter beschäftigt. Das durchschnittliche Nettoeinkommen von Ausländern liegt unterhalb des Durchschnittseinkommens von Inländern. Die Arbeitslosigkeit von international schutzberechtigten Personen wird auf 17,8 Prozent geschätzt, wobei Frauen aus diesem Personenkreis zu 34,9 Prozent erwerbslos sind. Gleichwohl erreicht auch die Erwerbsquote dieses Personenkreises fast die Erwerbsquote von italienischen Staatsangehörigen, das gilt erst recht, wenn nur männliche Schutzberechtigte betrachtet werden (Beppe De Sario, 1.1.2021, Migration at the crossroads, S. 206 ff.). Die Integration von Migranten in den Arbeitsmarkt hängt auch vom lokalen sozioökonomischen Kontext ab und gelingt im hochentwickelten Norden besser als im landwirtschaftlich geprägten Süden. Maßgebliche Umstände für einen Zugang zum Arbeitsmarkt sind der Erwerb von Sprachkenntnissen, berufliche Fähigkeiten, gesicherte Wohnverhältnisse und eine funktionierende Arbeitsvermittlung (SIRIUS, Dezember 2020, WP7: Italian country report, S. 6 f., 9).
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Es gibt öffentliche staatliche Schulen (Provincial Centres for Adult Educaiton – CPIA), in denen italienischen und ausländischen Staatsbürgern ab 16 Jahren Aus- und Weiterbildungen angeboten werden. Hierunter fallen neben der Vermittlung von Lese- und Schreibkompetenz auch italienische Sprachkurse für Ausländer (Beppe De Sario, 1.1.2021, Migration at the crossroads, S. 203).
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Anerkannt Schutzberechtigte haben denselben Anspruch auf Zugang zum italienischen Sozialsystem wie italienische Staatsbürger (AIDA, Country Report: Italy, Stand: 2021, S. 221). Das italienische Sozialsystem ist aber nur schwach ausgeprägt und stützt sich auf traditionelle Familienstrukturen, die Flüchtlingen meist nicht zur Verfügung stehen; sechs Monate nach Erhalt des Schutzstatus sind die Asylsuchenden auf sich gestellt und müssen für sich selbst sorgen (Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, 10.3.2022, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Italien, S. 20; Schweizerische Flüchtlingshilfe, Januar 2020, Aufnahmebedingungen in Italien, S. 62).
39
bb) Unter Zugrundelegung dieser Erkenntnisse ist der Senat dennoch davon überzeugt, dass arbeitsfähige Schutzberechtigte – wie der Kläger – bei ihrer Rückkehr nach Italien regelmäßig in der Lage sind, ihr wirtschaftliches Existenzminimum durch Aufnahme einer Erwerbstätigkeit, gegebenenfalls unter Zuhilfenahme von Hilfsangeboten von kirchlichen oder Nichtregierungsorganisationen zur Überwindung von Anfangsschwierigkeiten, zu erwirtschaften. Dies bestätigen auch die Angaben des Klägers. Er hat vorgetragen, dass er in Italien gelegentlich in einem äthiopischen Restaurant als Tellerwäscher gearbeitet habe. Aus Sicht des Senats ist es arbeitsfähigen anerkannt Schutzberechtigten regelmäßig möglich und zumutbar, sich gerade in der Anfangszeit um Anstellungen im Tourismusgewerbe oder in der Landwirtschaft zu bemühen und so für ihre Existenzsicherung zu sorgen. Sie müssen sich hierbei auch auf – ggf. befristete – Aushilfstätigkeiten verweisen lassen. Denn der Maßstab kann nur das zum Lebensunterhalt unbedingt Notwendige sein, wobei es nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts zumutbar ist, auch Tätigkeiten auszuüben, für die es keine Nachfrage auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt gibt, die nicht überkommenen Berufsbildern entsprechen und die nur zeitweise, etwa zur Deckung eines kurzfristigen Bedarfs, beispielsweise während der Touristensaison oder Erntezeit, ausgeübt werden können, selbst wenn diese im Bereich der sogenannten „Schatten- oder Nischenwirtschaft“ angesiedelt sind (vgl. zu diesem strengen Maßstab z.B. BVerwG, B.v. 17.1.2022 – 1 B 66.21 – juris Rn. 29 m.w.N.). Hinsichtlich der fehlenden italienischen Sprachkenntnisse können die Rückkehrer auf Sprachkurse für Ausländer an den CPIA verwiesen werden.
40
4. Nationale Abschiebungsverbote nach Maßgabe des § 60 Abs. 5 oder Abs. 7 Satz 1 des Gesetzes über den Aufenthalt, die Erwerbstätigkeit und Integration von Ausländern im Bundesgebiet – Aufenthaltsgesetz (AufenthG) – i.d.F. d. Bek. vom 25. Februar 2008 (BGBl I S. 162), zuletzt geändert durch Art. 1 des Gesetzes vom 15. August 2019 (BGBl I S. 1294), sind nicht gegeben. Denn der Kläger hat keine in seinem konkreten Einzelfall vorliegenden Gründe angegeben, die zu einer von der allgemeinen Lage für nach Italien zurückkehrende international Schutzberechtigte abweichenden Beurteilung führen und in ihrer Schwere einer Abschiebung nach Italien nach § 60 Abs. 5 i.V.m. Art. 3 EMRK oder § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG entgegenstehen könnten.
41
a) Der Kläger hat keinen Anspruch auf Feststellung eines Abschiebungsverbotes nach § 60 Abs. 5 i.V.m. Art. 3 EMRK.
42
Nach § 60 Abs. 5 AufenthG darf ein Ausländer nicht abgeschoben werden, soweit sich aus der Anwendung der im deutschen Recht im Rang eines Bundesgesetzes geltenden Europäischen Menschenrechtskonvention ergibt, dass die Abschiebung unzulässig ist. Für die Beurteilung, ob stichhaltige Gründe für eine Art. 3 EMRK zuwiderlaufenden Behandlung vorliegen, sind sowohl die allgemeine Lage im Zielstaat wie auch die persönlichen Umstände beachtlich. Nach Art. 3 EMRK darf niemand der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe unterworfen werden. Für die Kriterien einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung in diesem Sinne ist auf die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) zurückzugreifen. In dessen Rechtsprechung ist geklärt, dass die einem Ausländer im Zielstaat drohenden Gefahren ein gewisses „Mindestmaß an Schwere“ (minimum level of severity) erreichen müssen, um ein Abschiebungsverbot nach Art. 3 EMRK/Art. 4 GRCh zu begründen (vgl. EGMR (GK), U.v. 13.12.2016 – Paposhvili/Belgien, Nr. 41738/10, NVwZ 2017, 1187 Rn. 174; EuGH, U.v. 16.2.2017 – C-578/16 PPU, ECLI:ECLI:EU:C:2017:127 – NVwZ 2017, 691 Rn. 68). Hinsichtlich der maßstäblichen Erheblichkeitsschwelle entspricht Art. 4 GRCh kraft Art. 52 Abs. 3 GRCh derjenigen des Art. 3 EMRK.
43
Die Bestimmung dieses Mindestmaßes an Schwere ist relativ und hängt von allen Umständen des Falls ab, insbesondere von der Dauer der Behandlung, den daraus erwachsenen körperlichen und mentalen Folgen für den Betroffenen und in bestimmten Fällen auch vom Geschlecht, Alter und Gesundheitszustand des Betroffenen (EGMR (GK), U..v 21.1.2011 – M.S.S./Belgien und Griechenland, Nr. 30696/09, NVwZ 2011, 413 Rn. 219; EGMR (GK), U.v. 13.12.2016 – Paposhvili/Belgien, Nr. 41738/10, NVwZ 2017, 1187 Rn. 174). Nach den Schlussanträgen des Generalanwalts beim EuGH Wathelet vom 25.7.2018 (C-163/17 – juris Rn. 143) muss sich der Betroffene in „einer besonders gravierenden Lage“ befinden. Auch nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts können schlechte humanitäre Verhältnisse im Zielstaat der Abschiebung nur in besonderen Ausnahmefällen ein Abschiebungsverbot nach Art. 3 EMRK begründen (BVerwG, U.v. 31.1.2013 – 10 C 15.12 – juris Rn. 23 u. 25). Allerdings enthält Art. 3 EMRK weder eine Verpflichtung der Vertragsstaaten, jedermann in ihrem Hoheitsgebiet mit einer Wohnung zu versorgen noch begründet er eine allgemeine Verpflichtung, Flüchtlingen finanzielle Unterstützung zu gewähren oder ihnen einen bestimmten Lebensstandard zu ermöglichen. Jedoch können bei Asylsuchenden, die eine besonders verletzliche Gruppe darstellen, schlechte Lebensbedingungen im Zielstaat der Abschiebung das für Art. 3 EMRK erforderliche Mindestmaß an Schwere erfüllen, wenn die Betroffenen – in einem ihnen vollständig fremden Umfeld – vollständig von staatlicher Unterstützung abhängig sind und staatlicher Untätigkeit und Indifferenz gegenüberstehen, obwohl sie sich in ernsthafter Armut und Bedürftigkeit befinden (EGMR (GK), U.v. 21.1.2011 – M.S.S./Belgien und Griechenland, Nr. 30696/09, NVwZ 2011, 413 Rn. 249 ff.).
44
Die vorstehend wiedergegebene Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, des Europäischen Gerichtshofs und des Bundesverwaltungsgerichts ist auf anerkannte Flüchtlinge zu übertragen, die sich darauf berufen, dass die Lebensbedingungen, denen sie im Staat ihrer Flüchtlingsanerkennung ausgesetzt sind, Art. 3 EMRK widersprechen (so schon BVerwG, B.v. 2.8.2017 – 1 C 37.16 – juris Rn. 20). Denn auch für diese Personengruppe ergibt sich eine gesteigerte Schutzpflicht der EU-Mitgliedsstaaten, sodass auch bei ihnen das für Art. 3 EMRK erforderliche Mindestmaß an Schwere im Zielstaat der Abschiebung erreicht sein kann, wenn sie ihren existenziellen Lebensunterhalt nicht sichern können, kein Obdach finden oder keinen Zugang zu einer medizinischen Basisbehandlung erhalten. Die Unmöglichkeit der Sicherung des Lebensunterhalts kann auf der Verhinderung eines Zugangs zum Arbeitsmarkt oder auf dem Fehlen staatlicher Unterstützungsleistungen beruhen. Einer weitergehenden abstrakten Konkretisierung ist das Erfordernis, dass ein gewisses „Mindestmaß an Schwere“ erreicht sein muss, nicht zugänglich. Vielmehr bedarf es insoweit der Würdigung aller Umstände des Einzelfalls (BVerwG, B.v. 8.8.2018 – 1 B 25.18 – juris Rn. 11).
45
Folglich kommt es im Unterschied zu den obigen Darstellungen zur Unzulässigkeit gemäß § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG (unter 2.) bei der Prüfung eines nationalen Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK maßgeblich darauf an, wie sich die (allgemein) festgestellten Aufnahmebedingungen für nach Italien zurückkehrende anerkannt Schutzbedürftige im vorliegenden Einzelfall und unter Berücksichtigung der individuellen Umstände und Besonderheiten des Klägers auf seine konkrete Situation nach Rückkehr auswirken. So kommt es für die Feststellung einer Verletzung von Art. 3 EMRK und Art. 4 GRCh, welche ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG voraussetzt, insbesondere auf die persönliche Situation des Klägers an. Denn die Frage nach einem nationalen Abschiebungsverbot kann nicht allein aufgrund der Umstände in einem EU-Mitgliedstaat beurteilt werden, sondern immer nur in der Auswirkung dieser Umstände auf den konkret betroffenen Ausländer.
46
Unter Anlegung dieser Maßstäbe ist nicht davon auszugehen, dass der Kläger im Falle einer Rückkehr nach Italien Gefahr läuft, einer Art. 3 EMRK widersprechenden Behandlung ausgesetzt zu werden. Es ist weder ersichtlich noch wurde vorgetragen, dass bei dem Kläger besondere individuelle Umstände vorliegen, die in seinem konkreten Fall dazu führen, dass abweichend von den obigen Feststellungen zur allgemeinen Situation der arbeitsfähigen, alleinstehenden anerkannt Schutzberechtigten, die keinen Anspruch auf Unterbringung in einem staatlichen SAI haben, in Italien eine Verletzung von Art. 3 EMRK hinreichend wahrscheinlich erscheint und die Feststellung eines Abschiebungshindernisses erfordert. Insbesondere ist nicht ersichtlich, dass der Kläger vom durchschnittlichen alleinstehenden und arbeitsfähigen anerkannt Schutzberechtigten abweicht.
47
b) Die Erkrankung des Klägers mit Hepatitis B rechtfertigt kein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG.
48
Von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat soll gemäß § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG abgesehen werden, wenn dort für ihn eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht. Eine erhebliche konkrete Gefahr aus gesundheitlichen Gründen liegt nur vor bei lebensbedrohlichen oder schwerwiegenden Erkrankungen, die sich durch die Abschiebung wesentlich verschlechtern würden (§ 60 Abs. 7 Satz 3 AufenthG). Erforderlich, aber auch ausreichend für das Vorliegen der Voraussetzungen dieser Vorschrift ist, dass sich die vorhandene Erkrankung des Ausländers aufgrund zielstaatsbezogener Umstände in einer Weise verschlimmert, die zu einer erheblichen und konkreten Gefahr für Leib und Leben alsbald nach der Rückkehr des Ausländers führt (vgl. BVerwG, U.v. 22.3.2012 – 1 C 3.11 – juris Rn. 34).
49
Derartige Umstände sind vorliegend weder ersichtlich noch dargelegt. Hinsichtlich seiner Erkrankung gab der Kläger in der mündlichen Verhandlung an, das zuletzt ausgestellte ärztliche Attest vom 20. Mai 2022 habe weiterhin Gültigkeit, sodass von einem stabilisierten Zustand seiner (chronischen) Hepatitis B auszugehen ist. Aus dem Attest geht hervor, dass die antivirale Therapie der Hepatitis B auf unbestimmte Zeit durchgeführt werden müsse und eine kontinuierliche regelmäßige und adäquate medizinische Betreuung durch einen Arzt unerlässlich sei. Eine solche ist zur Überzeugung des Senats in Italien vorhanden und steht dem Kläger nach einer Registrierung beim nationalen Gesundheitsdienst offen. Ausweislich der Erkenntnismittel haben Personen mit internationalem Schutz den Anspruch auf die gleiche Behandlung wie italienische Staatsbürger und ihnen steht eine grundlegende medizinische Versorgung über die „Gesundheitskarte“ zur Verfügung, welche sie nach Registrierung beim nationalen Gesundheitsdienst erhalten. Durch die Registrierung haben Asylbewerber und Personen mit internationalem Schutz das Recht, im Bereich des örtlichen Gesundheitsdienstes („azienda sanitaria locale“) einen Allgemeinarzt frei auszuwählen und dessen medizinische Betreuung in Anspruch zu nehmen, sowie in einem öffentlichen Krankenhaus untergebracht zu werden (AIDA, Country Report: Italy, Stand: 2021, S. 144). Es ist weder ersichtlich noch vorgetragen, dass der Kläger einer besonderen, über die Grundversorgung mit Medikamenten hinausgehenden oder aufwendigeren medizinischen Betreuung bedürfte, insbesondere da seine Hepatitis B gesichert nachgewiesen ist und es sich hierbei um keine exotische bzw. unübliche Erkrankung handelt.
50
II. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO. Gerichtskosten werden gemäß § 83b AsylG nicht erhoben.
51
Der Ausspruch über die vorläufige Vollstreckbarkeit ergibt sich aus § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 Nr. 11, 711 ZPO.
52
III. Die Revision ist nach Maßgabe des § 78 Abs. 8 Satz 1 AsylG als sogenannte „Tatsachenrevision“ zuzulassen, da der Senat im Rahmen der Überprüfung der Unzulässigkeitsentscheidung nach § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG in der Beurteilung der allgemeinen abschiebungsrelevanten Lage in Italien von deren Beurteilung durch das Oberverwaltungsgericht Nordrhein-Westfalen (U.v. 20.7.2021 – 11 A 1674/20.A – juris) abweicht.
53
Im Übrigen wird die Revision nicht zugelassen, da keine Gründe des § 132 Abs. 2 Nr. 1 oder 2 VwGO vorliegen.